Der Drachenmensch aus dem Fluss
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In China ist ein Schädel aufgetaucht, der von einer neuen Frühmenschen-Art stammen soll - Skepsis ist angebracht
Mehr als 140.000 Jahre alt ist der Schädel des Drachenmenschen, den hauptsächlich chinesische Wissenschaftler jetzt der staunenden Welt präsentieren. Schon seine Herkunft gleicht einer Legende: Ein Bauarbeiter soll ihn 1933 bei Brückenarbeiten im Auftrag der japanischen Besatzungsmacht am Ufer des Flusses Songhua gefunden haben, in der Stadt Harbin, der Hauptstadt der nordöstlichsten Provinz Chinas.
Die Region litt unter der japanischen Okkupation und der Arbeiter wollte nicht, dass ihnen der uralte Schädel in die Hände fiele, also nahm er ihn heimlich mit und versteckte ihn in einem Brunnen. 85 Jahre lang verschwieg er seinen Fund, erst aus Angst wegen der Kollaboration mit den Japanern angeklagt zu werden, dann wegen der Kulturrevolution und danach hatte er schon so lange geschwiegen, dass er es erst kurz vor seinem Tod wagte, seinen Angehörigen die Geschichte zu erzählen. Die wandten sich schließlich an die Behörden, und übergaben den Schädel an die Paläoanthropologen.
Wissenschaftliche Präsentation
Ursprünglich sollte die multiple Präsentation des Homo longi in einer der beiden renommiertesten Wissenschaftszeitschriften Science oder Nature erscheinen, aber die verlangten im Peer-Review-Verfahren umfangreiche Änderungen, so dass die Autoren ihre Einreichung dort zurückzogen.
Stattdessen erschienen kürzlich gleich drei wissenschaftliche Berichte ("Geochemical provenancing and direct dating of the Harbin archaic human cranium", "Late Middle Pleistocene Harbin cranium represents a new Homo species", "Massive cranium from Harbin in northeastern China establishes a new Middle Pleistocene human lineage") im Online-Fachjournal The Innovation, das in Zusammenarbeit mit der chinesischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird.
Das hauptsächlich chinesische Team um Qiang Ji von der Hebei GEO University in Shijiazhuang untersuchte den Schädel eingehend und legte besonderen Wert auf den Nachweis des Alters und der Herkunft.
Nach dem Tod des eigentlichen, anonymen Ausgräbers und dem Fehlen eines Fundzusammenhangs, muss nun der hervorragend erhaltene Schädel und die winzigen Spuren von Erde in seiner Nasenhöhle alle Informationen liefern.
Das Forscherteam untersuchte die Konzentration und die Isotopenzusammensetzung mittels Röntgenfluoreszenz und verglich sie mit Tierfossilien aus der angegebenen Fundregion. wobei sich ein ähnliches Verteilungsmuster zeigte. Zudem setzen die Experten zur Datierung auf die Uran-Serie-Methode.
Sie kamen zum Ergebnis, dass der Schädel aus dem späten Mittelpaläolithikum der Region um die Stadt Harbin stammt - entsprechend bekam er den Namen Harbin-Schädel. Sein Alter beträgt mindestens 146.000 Jahre.
Der Geochemiker und Teammitglied Junyi Ge von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) sagt:
Obwohl es mit der derzeit verfügbaren Technologie unmöglich ist, den Schädel einem präzisen Ort zuzuordnen, deuten alle Indizien darauf hin, dass er aus einer Lagerstätte von im Wasser abgelagerten Sedimenten stammt, die vor 138.000 bis 309.000 Jahren in der Region Harbin entstanden sind.
Mensch vom Drachenfluss
Die Untersuchungen und Messungen des Schädels erfolgten mittels hochauflösender Computertomographie und dreidimensionaler Rekonstruktion (Video: virtuelle Rekonstruktion des Schädels des Homo longi).
Der Kopf des Drachenmenschen, eines etwa 50jährigen Mannes, war sehr groß, das Schädelgewölbe war mit einem Fassungsvermögen von 1.420 Milliliter ordentlich voluminös (zum Vergleich Gehirnvolumen des Homo sapiens: 1.400 Milliliter).
Der gedrungene, flach gezogene Schädel weist eine wilde Mischung verschiedener Merkmale auf, eine flache Stirn, große und fast quadratische Augenhöhlen, starke Überaugenwülsten, eine breite Nase und einen sehr breiten Mund mit überdimensionalen Zähnen. Auf den ersten Blick gleicht er keiner der bekannten Menschen-Arten wirklich.
Das Team verglich nicht nur einfach Form und Größe der verschiedenen morphologischen Merkmale, sondern erstellte eine aufwendige phylogenetische Analyse, bei der die Evolutionsgeschichte oder die Beziehung zwischen verschiedenen Arten oder Organismen mathematisch dargestellt wird. Sie verglichen in dieser Stammbaumableitung den Schädel mit 55 anderen Fossilien verschiedener beschriebenen Arten der Gattung Homo.
Aus ihren Vergleichsdaten schliessen die Wissenschaftler, dass der Harbin-Schädel in kein Schema passt und weder wie ein Neandertaler noch wie ein anderer bekannter menschlicher Vorfahre aussieht.
Co-Autor Chris Stringer vom Natural History Museum in London erklärt:
Der Schädel hat eine große Gehirnkapazität, die durchaus im Bereich des modernen Menschen und des Neandertalers liegt. Er zeigt auch Merkmale, die unserer Spezies ähneln, einschließlich flacher und niedriger Wangenknochen mit einem flachen Eckzahn, das Gesicht wirkt reduziert und geduckt unter der Schädeldecke.
Dies ist ein bemerkenswertes neues Stück im Puzzle der menschlichen Evolution, ein Fossil, das noch für viele Jahre wichtige Informationen liefern wird. Es ist eines der am besten erhaltenen uralten menschlichen Fossilien.
Es wird allgemein angenommen, dass die Neandertaler eine Schwestergruppe der Homo sapiens-Linie bilden. Unsere Analysen legen jedoch nahe, dass dieser Schädel und einige andere mittelpleistozäne menschliche Fossilien aus China eine dritte ostasiatische Linie bilden, die dem Sapiens tatsächlich näher steht als der Neandertaler.
Eine neue Art von Mensch?
Allerdings schließt er nicht völlig dem nächsten Schluss an, den seine Kollegen und Kolleginnen zogen, die ihre Entdeckung als neue Art von Mensch, als Homo longi, klassifizieren. Chris Stringer meint:
Ich denke, dass diese Linie tatsächlich eine andere Art repräsentiert, obwohl ich es vorziehe, sie mit dem Dali-Fossil aus China als H. daliensis zu gruppieren.
Benannt ist Homo longi nach dem Fluss Heilong Jiang (Long Jiang), dem Namensgeber der ganzen Provinz. Wörtlich übersetzt bedeutet die Kurzform Drachenfluss - deswegen der Spitzname Drachenmensch. Der Songhua, von dessen Ufer der Schädel stammen soll, ist ein Nebenfluss des Long Jiang.
Eine neue Art der Gattung Homo auszurufen ist ein gewagter Schritt, der stets eine Welle des Widerspruchs der Fachkreise nach sich zieht.
Kollegen aus Israel, die vor Kurzem der Öffentlichkeit einen Schädel aus der mittleren Altsteinzeit vorstellten, der mit einer mindestens ebenso merkwürdigen Kombination von morphologischen Merkmalen aufwarten kann, haben das konsequent vermieden. Stattdessen ordnen sie ihren Fund als einen weiteren Typ unter vielen aus der Region am östlichen Mittelmeer ein, die stark von den üblichen Kategorien der Klassifizierung abweichen (Siehe: Ein neuer Mensch aus der Levante).
Viele ungewöhnliche menschliche Fossilien wurden auch in China gefunden. Seit Jahren gibt es eine intensive wissenschaftliche Debatte, in der vor allem chinesische Paläoanthropologen die These vertreten, in Ostasien hätten ganz eigene menschliche Arten gelebt, aus denen die heutigen Chinesen maßgeblich hervorgegangen seien.
Die Positionen gehen sogar so weit über das multiregionale Modell (Abstammung des modernen Menschen jewiels von regionalen Homo erectus-Gruppen) hinaus, eine generelle out-of-Asia- statt out-of-Africa-Theorie zu vertreten, also die Abstammung aller heute lebender Menschen aus Vorfahren in Asien.
Dieses Modell war einst in der Anthropologie populär, vor allem durch den Fund des urtümlichen Pekingmenschen 1929, verlor aber international ab der Mitte des letzten Jahrhunderts zunehmend fast alle Anhänger, nicht zuletzt durch die Genanalysen.