Der Fake-Journalismus
Der junge Journalist Jayson Blair erfand jahrelang seine Reportagen für die New York Times, aber er ist kein Einzelfall, sondern womöglich nur die Spitze eines Trends
Die New York Times hat jetzt auch ihre "Hitler-Tagebücher". Der Reporter Jayson Blair hat mehrere Jahre systematisch Artikel gefälscht, Fakten erfunden und Recherchen vorgetäuscht. Die Redaktion spricht von einem "Tiefpunkt in 152 Jahren Zeitungsgeschichte". Die meistgelesene Zeitung der USA stellte ein fünfer Team von Rechercheuren ab, um die Hintergründe des Betrugs zu erhellen. Mittlerweile widmen sich mehr als ein Dutzend Websites der New York Times der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass ein junger und "produktiver" Journalist, der mehr als 600 Artikel veröffentlicht hat, seine Kollegen und Vorgesetzen systematisch täuschen konnte: Jayson Blair hat seine Interviewpartner nie persönlich aufgesucht, obwohl er das suggerierte, und die meisten Gesprächspassagen frei erfunden .
Die Gründe, warum - trotz einiger Internet-Warnungen schon im letzten Jahr - erst jetzt reagiert wurde, ähneln denen anderer Skandale: Es gab kaum Beschwerden über die gefakten Arktikel, die "senior editors" der Zeitung kommunizierten nicht über den Fall, und Blair sei erfinderisch und raffiniert darin gewesen, die Spuren seiner nur erfundenen Recherche zu verwischen. Das alles ist nicht neu oder gar außergewöhnlich. Janet Cook von der "Washington Post" publizierte 1981 die rührselige Story einer achtjährigen Heroin-Abhängigen. Cook erhielt sogar dafür den Pulitzer-Preis, musste den aber zurückgeben, als sich herausstellte, dass die ganze Geschichte frei erfunden war. Oder es gab den Fall des Journalisten Stephen Glass (Looking-Glassy). Und erst kürzlich hatte es den preisgekrönten Fotoreporter Brian Walski erwischt, der eines seiner Fotos aus dem Irak manipuliert hatte (Das manipulierte Bild auf der Titelseite).
In Deutschland wird der Fake-Journalismus, neben dem verstorbenen Konrad Kujau - dem Fälscher der Hitler-Tagebücher - vor allem durch Michael Born und Tom Kummer (Kummer über Kummer) repräsentiert. Beide fingierten Reportagen und Interviews, die ihnen Stern-TV, die "Süddeutsche" und andere seriöse Medien aus den Händen rissen. Viele Medien haben auf ihrer Website die Tatsache, dass ein "Borderline-Journalist", wie Kummer sich selbst nennt, seine Home-Stories über Hollywood-Stars frei erfunden hat, immer noch nicht korrigiert.
Die journalistische Ethik, sich der Wahrheit so weit wie möglich anzunähern und Fakten mit kritischer Distanz darzustellen, erodiert, nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland. Das hat nicht nur damit zu tun, dass normale Redaktionen nur noch selten in Recherchen investieren und die Methoden des investigativen Handwerks nur noch selten gelehrt werden. Lobby-Organisationen wie Netzwerk Recherche bemängeln das seit langem.
Wer die in der Medienbranche zur Zeit beliebte apokalyptische Attitüde mag, wird das Internet dafür verantwortlich machen, dass zwischen Realität und Fiktion oft kein Unterschied zu erkennen ist. Die bloße Nachricht verliert immer mehr an Wert, da sie in wenigen Stunden rund um den Erball auf unzähligen Websites verbreitet wird. Die meisten Online-Publikationen, auch die seriöser Medien, schreiben ohnehin einen erheblichen Teil ihrer Storys gegenseitig ab, ohne die Quellen zu benennen oder gar zu verlinken (Cut-and-Paste-Journalismus im Dienste der Infoelite).
Eine "corporate identity", die den Leser an ein spezifisches Medium binden könnte, lässt sich - außer bei Lokalnachrichten - oft nur durch Infotainment erreichen. "Wenn die eigentlichen Nachrichten via TV und Internet immer schneller verbreitet werden, und zugleich das Verlangen nach "Infotainment" rasant zunimmt", schrieb Rüdiger Suchsland, "müssen sich auch die Tageszeitungen verändern. Mehr und mehr weichen sie auf Analysen, Portraits und Unterhaltungsstücke aus, um dem "Originalitätsdruck" Rechnung zu tragen."
Von der Täuschung zur Aufklärung?
Reine Unterhaltung kommt dem normalen Rezeptionsverhalten des Publikums entgegen, sich nicht kritisch mit den angebotenen - womöglich irritierenden - Informationen auseinandersetzen zu wollen, sondern die schon vorhandene Meinung und den Mainstream immer nur bestätigen zu lassen. Zum Infotainment, das sich als Journalismus tarnt und sich mit dessen Formen - wie der Reportage - kostümiert, gehören vorgefertigte Textbausteine und Themen, die in der jeweiligen Alltagskultur hoch emotional aufgeladen sind: Geschichten über "Drogen" zum Beispiel, wie sie Janet Cook und Michael Born frei erfunden haben, sind "gesetzt" - damit lässt sich immer Aufmerksamkeit erzielen, weil sie vor der Folie der protestantisch-asketisch geprägten Alltagskultur, insbesondere in den USA und in Deutschland, an Tabus rütteln. Ähnlich verhält es sich mit "Kinderpornografie im Internet" und "Neonazi-Aussteiger", deren journalistische Aufarbeitung mit der Realität selten etwas zutun hat, weil das Thema sich zu einem Metadiskurs verwandelt hat, der - wie die klassische Parabel - den moralischen common sense abhandelt.
Der Fake-Journalimus, kombiniert mit der Schnelllebigkeit der Informationen im Internet, hat einen neuen Typus des Hochstaplers entwickelt - den Aufmerksamkeitstäter. Der unterscheidet sich nicht mehr vom Journalisten, der Geschichten und Interviews erfindet: Er ist selbstreferenziell, wie auch jetzt Jayson Blair als Medienereignis mehr Platz in der New York Times eingeräumt bekommt als alle seine eigenen "Reportagen". Der Aufmerksamkeitstäter dokumentiert die mittlerweile sehr flache Hierarchie zwischen Medienmachern und den Konsumenten.
Die Skandale um gefakte Meldungen und eulenspiegelnde Journalisten wirken auf die Konsumenten letztlich nur positiv. Sie fördern die Medienkompetenz und das gesundere Misstrauen, eine Nachricht nicht zu glauben, wenn man die Quellen nicht nachvollziehen kann. Der Online-Journalismus, der das den Lesern bietet, hat daher die Funktion einer Avantgarde, wenn es um journalistisches Ethos geht.
Die Kunst hat die Grenze zwischen Realität und Fiktion schon längst ironisch thematisiert: der Aktionskünstler Klaus Heid erfand ein ganzes Volk. Sein Fazit über die "faszinierende Welt" der Khuza beschreibt exakt die Lehre, die aus dem aktuellen Medienskandal der New York Times zu ziehen sind: Er "gibt uns entscheidende Anhaltspunkte zur Beantwortung jener drängenden Fragen, wer wir sind und woher wir kommen."