Der Fall nach dem Knall

Ende November sorgte Israels Regierungschef Ariel Scharon mit seinem Austritt aus dem Likud-Block für Aufregung. Jetzt ist er aus dem politischen Leben des Landes verschwunden

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Die Gründung von Kadima, der neuen Partei von Ariel Scharon, war eine kleine Sensation gewesen: Nicht nur hatte der israelische Premierminister dem Likud-Block, jener Partei, die er 1974 mit gründete, Lebewohl gesagt, sondern auch gleichzeitig ein Sammelbecken für Politiker der Linken und der Konservativen gleichermaßen geschaffen. Kaum ein Tag verging, an dem die Medien nicht den Eintritt eines weiteren prominenten Politikers, Journalisten oder Akademikers vermeldeten. Doch Kadima blieb stets auf die Person Scharons bezogen: Der dickleibige Premier war die Partei; seine Beliebtheit bei den Wählern war, was die Partei in den Umfragen stark machte – eine Tatsache, die der Neugründung nun zum Verhängnis werden könnte: Vor einer Woche erlitt Ariel Scharon einen schweren Schlaganfall, gefolgt von massiven Hirnblutungen. Selbst wenn er sich je wieder davon erholen sollte, wird er nicht ins politische Leben zurückkehren. Die Politik muss sich deshalb nun schnell auf eine neue Realität einstellen. Denn am 28. März wird in Israel gewählt.

Die ganz auf Scharon zugeschnittene Partei Kadima muss nun ohne ihn auskommen

Eine Woche lang waren die Augen der Welt auf das Hadassah-Krankenhaus im Jerusalemer Stadtteil Ein Kerem gerichtet: In einem Zeltlager vor den scharf bewachten Türen des Spitals kampierten Dutzende von Journalisten, um sich auf jedes noch so kleine Detail aus der Krankenakte des israelischen Premierministers Ariel Scharon zu stürzen. Der Regierungschef habe den Finger bewegt, hieß es an einem Tag, es sei eine Bewegung des Beines beobachtet worden, an einem Anderen. Man wartete auf den Tod des Premiers oder seine wundersame Genesung und erging sich in Ermangelung von Beidem in Spekulationen, während sich die zunehmend genervte Krankenhausverwaltung darum bemühte, das Medienheer zum Abzug zu bewegen

Erst als Chefarzt Professor Schlomo Mor-Jossef am Mittwoch ankündigte, er werde künftig nur noch vor der Weltpresse sprechen, wenn es wirklich weltbewegende Änderungen gebe, begannen die ersten Medienvertreter damit, ihre Ausrüstung zusammen zu packen:

Der Zustand des Regierungschefs ist ernst, und wird es auch noch eine Weile bleiben. Im besten Fall dauert es Monate, bis sich ein Patient von einem Schlaganfall erholt hat, der so schwer war wie dieser.

Schlomo Mor-Jossef

So richtet sich das Augenmerk der Medien nun wieder verstärkt auf die Machtzentren der israelischen Regierung ein paar Kilometer weiter östlich, in der Jerusalemer Innenstadt: Die Nachricht von Scharons schwerer Erkrankung sandte eine Schockwelle durch Israel und die Welt. Obwohl der schwer übergewichtige Regierungschef Mitte Dezember wegen eines milden Schlaganfalls behandelt worden war, hatte niemand damit gerechnet, dass Scharon bald von der politischen Bühne verschwinden würde: 57 Jahre war er in der Öffentlichkeit präsent gewesen – zunächst als Soldat, der durch ebenso waghalsige wie verlustreiche Operationen von sich reden machte. Und dann als Politiker: 1974 gründete er gemeinsam mit Menachem Begin den konservativen Likud-Block, der, während die Arbeitspartei über die Rückgabe der palästinensischen Gebiete debattierte, in den Augen der Öffentlichkeit zum Hüter des Status quo aufgestiegen war, und den Sozialdemokraten 1977 zum ersten Mal in der Geschichte des Staates die Macht abnahm – eine Zäsur in der politischen Geschichte Israels. Scharon war davon überzeugt, dass die besetzten Gebiete aus strategischen Gründen gehalten werden müssten.

Ende November hatte der 77-Jährige dann für einen zweiten großen Knall gesorgt: Wenige Stunden nachdem ihm der überzeugte Sozialist und Vorsitzende des mächtigen Gewerkschaftsdachverbandes Histadrut, Amir Peretz, der Mitte November zum Vorsitzenden der Arbeiterpartei gewählt worden, die Große Koalition aufgekündigt hatte, gab Scharon seinen Austritt aus dem Likud-Block, dessen Fraktion ohnehin nur noch in Fragmenten hinter ihm gestanden hatte, und die Gründung einer neuen Partei bekannt, die er zunächst „Nationale Verantwortung“ und dann kurz darauf „Kadima“ (Vorwärts) nannte. Dann fuhr er zu Präsident Mosche Kazaw, um ihn um Neuwahlen zu bitten, die am 28. März abgehalten werden. In den folgenden Tagen gesellten sich immer mehr Politiker aus dem Likud, der Arbeiterpartei, Schinui und der linksliberalen Meretz/Jachad-Fraktion sowie eine ganze Reihe von bekannten Journalisten und Akademikern zu ihm und sorgten dafür, dass Kadima in den Umfragen zur stärksten Kraft hochschnellte.

Doch dem großen Knall könnte nun der große Fall folgen: Zwar rangierte Kadima auch in dieser Woche in den Umfragen bei bis zu 44 der 120 Parlamentssitzen; Experten schreiben dies allerdings vor allem dem sogenannten „Sympathiefaktor“ zu: Es sei wahrscheinlich, dass viele der Wähler zur Arbeiterpartei und zu Schinui zurückkehren werden, wenn es an den Wahlurnen ernst wird, sagt der Meinungsforscher Professor Ascher Arian:

Eine ähnliche Entwicklung haben wir auch nach der Ermordung von Jitzhak Rabin 1995 gesehen. Nachdem die Umfragewerte für seinen Nachfolger Schimon Peres zeitweise atemberaubend hoch gewesen waren, brach die Arbeiterpartei bei den Neuwahlen 1996 völlig ein und verlor gegen den Likud-Kandidaten Benjamin Netanjahu.

Two polls published Friday indicated that support for Kadima keeps growing, and that Olmert is the overwhelming favorite to become prime minister in a March 28 general election. In the surveys, Kadima won 42 and 43 seats, respectively, in the 120-member

Kampf um die Nachfolgerschaft Scharons

Für Kadima kommen zudem strukturelle Probleme hinzu: Die Partei war Scharon; ihr Erfolg in den Umfragen geht auf die Beliebtheit des Regierungschefs zurück, der die Siedlungsräumungen im vergangenen Jahr gegen alle Widerstände durchgesetzt hatte. Doch ihr politisches Programm ist nur in groben Zügen bekannt: Offiziell wurde die Roadmap, der international vereinbarte Friedensplan, als politische Richtschnur ausgegeben. Weitere Punkte des Kadima-Parteiprogramms sehen Jerusalem als ungeteilte Hauptstadt Israels, die Beibehaltung gewisser Siedlungsblöcke im Westjordanland, die Demilitarisierung des künftigen palästinensischen Staates sowie eine jüdische Mehrheit im Staat Israel vor. Ihre Botschaft an die Wähler war fast ausschließlich Scharon, der politische Aussagen im Wahlkampf fast vollständig vermieden hatte. An seine Stelle ist nun der zwar politisch erfahrene, aber farblose und uncharismatische Finanzminister und ehemaliger Bürgermeister von Jerusalem Ehud Olmert getreten. Die Erwartungen an ihn sind hoch: Die Öffentlichkeit erwartet von ihm, dass er für politische Kontinuität sorgt; seine eigene Partei hofft, dass er die hohen Umfragewerte in ein reales Wahlergebnis wird umsetzen können.

Doch die Chancen dafür sind nicht gut: Seine Mitbewerber um das Amt des Premierministers fahren schwere Geschütze auf, um ihm Stimmen abzujagen. Nach einer kurzen Auszeit eröffneten sowohl Arbeiterpartei als auch Likud das Feuer auf den Übergangs-Premier. Olmert stehe für Armut, wirft ihm Peretz immer wieder vor; Olmert setze die Sicherheit des Staates aufs Spiel, behauptet Netanjahu.

Im Mittelpunkt des Wahlkampfes steht vor allem die Frage, wer der würdigste Nachfolger für Scharon ist. In einem Interview mit der New York Times bezeichnete sich Ex-Premierminister Benjamin Netanjahu vom konservativen Likud-Block als „Erbe“ Scharons; Olmert verurteilte die Äußerung als „geschmacklos“: Netanjahu und Scharon waren über den Entscheidungsprozess vor den Siedlungsräumungen zerstritten und wechselten am Ende kein Wort mehr miteinander. Auf der anderen Seite versuchte Amir Peretz, Vorsitzender der Arbeiterpartei, sich einen staatsmännischen Anstrich zu geben, in dem er für eine Auszeit im Wahlkampf plädierte und sämtliche Aktivitäten seiner Partei für eine Woche einstellen ließ.

Hauptreibungspunkt sind die ohne Genehmigung gebauten Siedlungsaußenposten im palästinensischen Westjordanland: Im November hat der Oberste Gerichtshof angeordnet, dass mehrere von Siedlern besetzte Häuser im ehemaligen Großmarkt in der Altstadt von Hebron geräumt werden müssen. Außerdem steht eine ganze Reihe von ohne Genehmigung gebauten Außenposten zur Räumung an.

„Es scheint, als sei sich Olmert nicht sicher, wie er in dieser Angelegenheit verfahren soll,“ sagt Ze'ew Schiff, Kommentator der Zeitung HaAretz. Unternehme er nichts, und missachte das Urteil des Obersten Gerichtshofes stehe er in den Augen der Linken als profillos da, könnte aber Stimmen auf der Rechten hinzugewinnen. Sollte es im Falle einer Räumung zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen, seien die politischen Folgen für ihn kaum abschätzbar: Bei einer ersten Evakuierung eines Außenpostens am Mittwoch Morgen waren vier Polizisten und zwölf Siedler verletzt worden. Zudem greift die Rechte Olmerts Entscheidung an, den Palästinensern in Ost-Jerusalem nun doch die Teilnahme an den palästinensischen Parlamentswahlen am 25. Januar gestatten und außerdem einen begrenzten Wahlkampf zulassen zu wollen: Olmert werde Jerusalem teilen, warf im Netanjahu vor.

„Olmert ist fest entschlossen, die Fehler, die Peres 1995 gemacht hatte, nicht zu wiederholen,“ sagt Schiff. Peres hatte damals versucht, mit einer Politik der harten Hand gegen die Palästinenser die über die Osloer Übereinkünfte gespaltene israelische Öffentlichkeit zu einen und hatte damit viele seiner Wähler auf der Linken abgestoßen, die daraufhin der Wahl ferngeblieben waren. Doch anders als Peres muss Olmert handeln, wenn er sich nicht mit unangenehmen Fragen des Obersten Gerichtshofes kurz vor den Wahl befassen müssen will.

In eine Krise geraten durch das Fehlen Scharons auch andere Parteien

Aber auch andere Parteien haben ihren Ärger mit dem Wahlkampf: Sowohl dem Likud-Chef Netanjahu als auch dem Vorsitzenden der radikal-liberalen Schinui-Partei machten am Donnerstag Abend die eigenen Parteimitglieder einen Strich durch die Rechnung: Netanjahu hatte die vier Minister des Likud, die noch in der Regierung saßen, dazu aufgefordert, noch am Donnerstag ihren Rücktritt einzureichen – also bevor das Zentralkomitee der Partei am Nachmittag über die Zusammensetzung der Wahlliste abstimmten. Doch das Quartett weigerte sich zunächst, die Rücktrittsschreiben zu unterzeichnen und kündigte den Rücktritt für Sonntag an. Nach massivem Druck der Parteispitze ließen sich wenigstens drei von ihnen zum Abtreten bewegen. Nur Außenminister Silwan Schalom, der Mitte Dezember Netanjahu in der Wahl zum Parteivorsitzenden unterlegen war, blieb bei seiner Weigerung – und landete prompt auf einem der vorderen Listenplätze: Eine strenge Mahnung an Netanjahu, die Partei nicht zu sehr in die politische Mitte zu rücken.

Ganz schlimm kam es derweil für den Schinui-Vorsitzenden Jossef „Tommy“ Lapid. Zwar landete er am Donnerstag bei der parteiinternen Abstimmung über die Wahlliste mit einem unterirdischen Ergebnis von 53 Prozent erneut auf dem ersten Platz. Doch seine bisherige Nummer Zwei, Avraham Poras, taucht nur noch unter „ferner liefen“ auf: An seiner Stelle wird nun der 34jährige, politisch ziemlich unerfahrene Roni Levinthal kandidieren – ein Ergebnis, das von vielen Beobachtern als Misstrauensvotum der ohnehin unter starkem Druck stehenden Partei gewertet wurde. Die Umfragen sagen Schinui nur noch maximal fünf statt der bisherigen 15 Sitze im Parlament voraus.

Am späten Donnerstag Abend traten daraufhin Poraz und drei weitere Abgeordnete aus Schinui aus und werden vermutlich ihre eigene Partei gründen. Vertraute von Jossef Lapid rechneten damit, dass der Parteivorsitzende ihnen folgen wird – ein Schritt, den Beobachter übereinstimmend als Selbstmord für die alte und die noch zu gründende Partei werten.

Noch in der Nacht tagten, getrennt voneinander in Jerusalem und Tel Aviv, die Wahlkampfteams von Arbeiterpartei und Kadima um über den besten Weg zu beraten, Schinui die Wählerstimmen abzunehmen. „Sollte Schinui tatsächlich völlig von der Bildfläche verschwinden, werden die Karten neu gemischt,“ sagt Demoskop Arian:

Für die beiden Parteien geht es jetzt darum, wer es als erster schaffen wird, die Wähler davon zu überzeugen, zu ihnen zu wechseln.

Meinungsforscher Ascher Arian