Der Fehler der Tamarod

Ägypten: Die Rückkehr des tiefen Staates und die Gewalt, die die Armee braucht. Gespräch mit Mohamed Abdal Salam

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Mohamed Abdal Salam, 1986 geboren, ist Menschenrechtsaktivist und Gründungsmitglied der Bewegung "Jugend für Gerechtigkeit und Freiheit", die im März 2010 ins Leben gerufen wurde. Er war früh an der Organisation von Protesten beteiligt, die zum Sturz Hosni Mubaraks geführt haben. Seit Mai 2012 arbeitet er bei der ägyptischen Menschrechtsorganisation Association for Freedom of Thought and Expression. Telepolis sprach mit ihm über die Militärherrschaft in Ägypten und politische Fehler.

Herr Abdal Salam Sie und Ihre Organisation haben die Tamarod-Kampagne gegen den Ex-Präsidenten Morsi unterstützt. Nach der Gewaltwelle, die auf seinen Sturz gefolgt ist, stellt sich die Frage: War das überhaupt die richtige Entscheidung?

Mohamed Abdal Salam: Ja, denn die Mittel der Kampagne waren friedliche Proteste und ihr Ziel waren Neuwahlen.

Am 30.06. waren vereinzelt auch Bilder des Ex-Präsidenten Mubarak zu sehen. Hat die Kampagne nicht auch Anhänger des alten Regimes wieder der Macht näher gebracht?

Mohamed Abdal Salam: Natürlich. Das alte Regime arbeitet gegen die Muslimbrüder und sie unterstützten Tamarod, um das Regime von Morsi zu stürzen. Doch mit Solidarität mit der Revolution hat das nichts zu tun.

Haben sie denn eine Chance?

Mohamed Abdal Salam: Ja, sie sind jetzt in der Übergangsregierung präsent. Mit Personen wie dem Außenminister Nabil Fahmy zum Beispiel oder Adel Labib, dem Minister für regionale Entwicklung.

Und sie haben eine Chance, weil die verfehlte und unkluge Politik der Muslimbrüder die Bevölkerung jetzt fast jede Alternative akzeptieren lässt. Und eine dieser Alternativen ist die Rückkehr des tiefen Staates, den wir jetzt am Werk sehen.

Hat Tamarod es versäumt sich klar von den Anhängern des alten Regimes abzugrenzen?

Mohamed Abdal Salam: Sie haben nicht darauf reagiert, als sich auch Anhänger des alten Regimes der Bewegung angeschlossen haben. Das war ein Fehler. Nicht nur die Muslimbrüder sind ein Gegner der Revolution, sondern auch die Felul (Anhänger des alten Regimes) und das Militär.

Womöglich nimmt sich das Militär uns vor, wenn sie mit den Muslimbrüdern fertig sind

Glauben Sie, die Militärherrschaft könnte wiederkommen?

Mohamed Abdal Salam: Sie ist schon da, sie ist Realität. Nur leicht verkleidet mit einer Fassade aus liberalen Politikern. Es ist dem Militär leicht gefallen, nach dem Sturz Morsis die Macht zu übernehmen, da die Parteien und die revolutionären Bewegungen nicht das Vertrauen des Volkes haben.

Welche Fehler haben die Parteien und revolutionären Bewegungen denn gemacht, wenn sie heute nur so wenig Vertrauen genießen?

Mohamed Abdal Salam: Die meisten Politiker gelten als ineffizient, faul, nicht erfolgreich. Und die revolutionären Bewegungen werden nur wahrgenommen, wenn mal wieder eine Kampagne läuft.

Hat die Tamarod-Kampagne heute überhaupt noch Einfuss?

Mohamed Abdal Salam: Oh ja! Sie haben sich hinter den Aufruf des Militärs gestellt, es "im Kampf gegen des Terrorismus" zu unterstützen. Eine falsche und eine fatale Entscheidung. Womöglich nimmt sich das Militär uns vor, wenn sie mit den Muslimbrüdern fertig sind.

Die Armee braucht Gewalt

Wieso geht die Armee so rigoros vor?

Mohamed Abdal Salam: Die Armee braucht Gewalt, denn ohne Gewalt würde ihre Bedeutung schwinden. Sie haben derzeit kein plausibles Argument, das politische Leben zu beherrschen. Also benutzen sie das alte Argument von der "terrorististischen Bedrohung".

Wie werden die Muslimbrüder reagieren?

Mohamed Abdal Salam: Zunächst einmal kommt auch der Führung der Muslimbruderschaft die Opferrolle nicht ungelegen. Sie interessieren sich für Geschichtsschreibung und haben ein Interesse daran, ihr Narrativ an die Nachwuchsgeneration weiterzugeben. "Wir wurden aus dem Amt geputscht, wir wurden ins Gefängnis geworden, wir wurden getötet."

Im Übrigen geht auch von Teilen der Muslimbrüder Gewalt aus. Damit müssen sie aufhören, sonst könnte die Bewegung ein trauriges Ende nehmen.

Der bekannte ägyptische Autor Alaa al Aswani sagte kürzlich, die jüngsten Ereignisse hätten gezeigt, dass der politische Islam tot sei in Ägypten. Stimmen Sie zu?

Mohamed Abdal Salam: Das ist sehr fraglich. Die Muslimbrüder könnten wieder eine Chance bekommen, wenn das Militär und die aktuelle politische Riege genauso wenig für die Armen machen wie die vorherigen Regierungen.

Mit der Jugend der Muslimbrüder in Dialog treten

Was halten Sie davon, wie der Staat jetzt gegen die Bewegung durchgreift?

Mohamed Abdal Salam: Es handelt sich dabei um ein militärisches Vorgehen und nicht um eine politische Lösung. Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Und am Ende könnte die Bewegung daraus gestärkt vorgehen.

Glauben Sie, die Muslimbrüder lassen sich wieder in einen politischen Prozess einbinden?

Mohamed Abdal Salam: Das ist der einzige Weg. Sie haben ein Recht, hier zu leben. Doch die Bewegung muss sich von innen reformieren. Geschäftsleute wie Khairat al Shater und viele andere aus der heutigen Führungsriege sollen nach Hause gehen.

Wie wäre das zu erreichen?

Mohamed Abdal Salam: Vor allem müssen wir mit der Jugend der Muslimbrüder in Dialog treten.

Sie meinen die linken und liberalen politischen Gruppierungen?

Mohamed Abdal Salam: Alle Bürger, die eine friedliche Lösung suchen. Unser gemeinsames Interesse unserem Land gegenüber verpflichtet uns dazu, miteinander zu leben. Niemand kann hier alleine leben.