Militärcoup, zweite Phase?

Ägyptens Armeechef al-Sisi will sich über Millionen, die er für heute zu mobilisieren versucht, Legitimation für seinen "Anti-Terrorkampf" holen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Macht Abdel Fattah al-Sisi den Mursi? Diesem hatte man vorgeworfen, sich vergangenen November über Sondervollmachten quasi-diktatorische Machtkompetenzen zu verleihen, um sich gegen Widerstände aus der Justiz durchzusetzen (Mursi und die Augen der Freiheit). Die kürzlich erzwungene Absetzung des Präsidenten wurde unter anderem damit begründet. Nun verlangt Armeechef al-Sisi weitere Kompetenzen, indirekt über ein "Mandat zum Kampf gegen Terroristen". Die Abstimmung auf der Straße soll dies legitimieren.

"Ich bitte die Bevölkerung dringend, am Freitag auf die Straße zu gehen, um ihren Willen zu dokumentieren und mir, der Armee und der Polizei, ein Mandat zu geben, um auftauchender Gewalt und Terrorismus zu entgegnen", so der im staatlichen Fernsehen übertragene Aufruf des Generals.

Heute sollen sich mehr Menschen auf der Straße zeigen als am 30.Juni, wünscht sich die Armeeführung. Das allein mag schon anzeigen, dass die Wünsche der Militärs nicht unbedingt deckungsgleich mit denen der Bevölkerung ist. Der Aufruf ist riskant. Die Mobilisierung, die dem 30. Juni voranging, war ganz anderer Art, von anderen Motiven getragen. Seither ist vieles vorgefallen, das Risse in der proklamierten Kongruenz zwischen Armee und Bevölkerung auftat. Das harte Vorgehen gegen die Muslimbrüder, Verhaftungen, Schüsse in den Rücken, ist gegen eine Organisation gerichtet, die über viele Anhänger verfügt.

Begründet wird der Crackdown mit den Reizworten Terrorismus und Gewalt, die in den letzten Tagen wie Gewitterregen auf das aufgeheizte Land niederprasselten. Dass auf Mursi jetzt ein neuer Haftbefehl ausgestellt wurde, mit Verweis auf die Hamas, ist kein Zufall.

Das Militär, dessen Kompetenz durch die schlechten Schlagzeilen aus dem Sinai infrage gestellt wird, versucht sich nun als Aufräumer und Stabilitätsfaktor zu positionieren. Der ausgesuchte Gegner sind die Muslimbrüder, denen auch - mit Hilfe von Medien, die nicht unabhängig sind - die Verantwortung für die Gewaltakte auf dem Sinai zugeschoben werden.

Auch die anhaltenden Proteste der Muslimbrüder in Kairo, in Rabaa und Nahda, dürften entnervend wirken. Bestehen sie doch auf der Sichtweise, dass der zweite Akt der Revolution Ende Juni, Anfang Juli in Wirklichkeit ein von langer Hand vorbereiteter Coup waren. Diese Störung der eigenen Erzählung hätte die Armee gerne aus der Öffentlichkeit geräumt.

Dass der Aufruf al-Sisis für ein Mandat eigentlich eine Bitte nach Legitimitierung für eine Politik des eisernen Besens ist, wird nicht nur von überempfindlichen westlichen Beobachtern so gesehen, sondern auch von Einheimischen. Sowohl die Bewegung 6. April wie auch die "revolutionären Sozialisten", beides Gruppen, die in den Revolutionsbewegungen zentrale Rollen einnahmen, distanzierten sich deutlich von Al-Sisis Appell zum Aufmarsch der Millionen. Einen solchen "Blankoscheck für Massaker" wolle man nicht unterzeichnen, so die Begründung (siehe "Not in our Name"):

What he wants is a popular referendum on assuming the role of Caesar and the law will not deter him.

Dem Aufruf al-Sisis angeschlossen hat sich dagegen die frühere MB/Mursi-Opposition die Nationale Heilsfront (NSF), unter Führung des auch im Westen bekannten El-Baradei, - und auch die Tamarodbewegung. Dass deren Einverständnis als so ungebrochen dargestellt wird, stellt Fragen.

Fügen sie sich der Macht des Militärs, das sich in den letzten Wochen immer deutlicher als der eigentliche Boss profiliert hat? Dann müssten sie mit einem langsamen politischen Tod rechnen, weil sie darin einwilligen, dass sie im Grunde unbedeutend sind, da sie nichts zu sagen haben. Oder ist das Medienpolitik, die den Dissens versteckt? Von el-Baradei sind keine kritischen Äußerungen zu vernehmen - in keiner englisch-sprachigen ägyptischen Publikation. Auf Twitter findet sich ein sehr vorsichtig gehaltener Kommentar, der erkennen lässt, dass el-Baradei mit dem Vorgehen der Armee gegen die Muslimbrüder nicht einverstanden ist. Sehr leise:

Non violence, rule of law and due process, and reconciliation based on inclusiveness are key principles to adhere to at this difficult time.

Keine Gewalt - ein braver Appell. Was aber, wenn sich das Militär über die Demonstrationen des heutigen Tages die Legitimation für eine jederzeit mögliche Verhängung des Ausnahmezustands holt?

Das "Börsenbarometer" ist auch nicht wirklich überzeugt davon, dass al-Sisis Griff nach Machtkompetenzen das Land stabilisiert.

Allerdings gibt es auch andere Stimmen, wie etwa der international bekannte Schriftsteller Alaa Al-Aswani ("Ich wollt', ich würd' Ägypter") ein scharfer Kritiker des Systems Mubarak. Für Al-Aswani war der Machtwechsel demokratisch:

Wenn es kein Parlament gibt - und das ist der Fall in Ägypten - geht die Autorität zurück an das Volk. Wenn man bedenkt, dass 33 Millionen Menschen auf die Straße gegangen sind und Neuwahlen gefordert haben und dass Mursi von nur 13 Millionen Ägyptern gewählt worden ist, dann war seine Entmachtung absolut demokratisch.

In das Vorgehen des Militärs gegen die Muslimbrüder setzt er volles Vertrauen, wie er in einem Interview erklärt:

Wenn al-Sisi politische Absichten zeigt, dann werden Sie über meine Meinung erstaunt sein! Die Armee darf sich nicht in die Politik einmischen. Wenn aber eine faschistische Gruppe mit bewaffneten Militanten nach und nach den Staat kontrolliert, ist die Armee die einzige Macht, die dem entgegenwirken kann.

Für viele zeigt al-Sisi, der ja außer den Posten des Verteidigungsministers auch den des stellvertretenden Ministerpräsidenten bekleidet, immer deutlicher politische Absichten, vielleicht auch die, künftig Präsident zu werden.