Der Fluch der flachen Vorfahren

Die CASTLEVANIA-Familie probt erneut den Umzug in eine 3-D-Behausung

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Familienflüche verurteilen eine Generation nach der anderen dazu, immer wieder das selbe durchzumachen wie ihre Vorfahren. Im Reich der Videospiele hat es in dieser Hinsicht wohl keine Sippe so schwer erwischt wie die Belmonts, die seit den Tagen des Ur-Nintendo Entertainment Systems im Kampf gegen Vampire durch unheimliche Schlösser tappen, in einem CASLTEVANIA-Stammbaum, der sich mittlerweile über eine kaum noch zu überschauende Vielzahl an Hardware-Plattformen und Spielen erstreckt.

Die zwei Ahnen, auf die alle Sprößlinge dabei am ehrfurchts- und neidvollsten blicken, sind CASTLEVANIA IV auf dem SNES und CASTLEVANIA: SYMPHONY OF THE NIGHT auf der Playstation. Ersterer hat die klassischen CASTLEVANIA-Elemente am perfektesten und stimmigsten formuliert, letzterer hat diese in einer überraschend erfolgreichen Mischehe mit Rollenspiel-Elementen vermählt und an prachtvoller optisch-akustischer Repräsentanz eine neureiche Eleganz an den Tag gelegt, von der seine Urväter nur träumen konnten.

Diese traditionsbewusste Familienlinie pflanzt sich bis heute recht ungebrochen fort - aber um den Preis, dass sie als Stammsitz den Game Boy Advance gewählt hat, dessen altehrwürdige 16-Bit-Architektur ihr erlaubt, die Sprößlinge im 2-D-Zaum zu halten. Wodurch sie sich guten Gewissens mit dem über Generationen Gelernten und Erworbenen zufrieden geben dürfen.

Dass die Entwickler von Konami, die seit jeher über die Geschicke der Belmonts walten, sich viel Zeit gelassen haben, bevor sie einen Abkömmling ihres berühmtesten Clans nun auch auf einer Konsole von technisch derzeit aktuellstem Standard auswilderten, hat seinen guten Grund. Zu den schwarzen Schafen der CASTLEVANIA-Familie gehört nämlich der Begründer der sofort wieder abgestorbenen 3-D-Seitenlinie: Das einzige CASTLEVANIA-Spiel für das Nintendo 64.

Dieses ist lang nicht der bucklige Bastard, zu dem es von rabiaten Fans der Serie schnell erklärt wurde. Ein durchaus flottes, vergnügliches 3-D-Action-Adventure, hatte es nur die Geburtsfehler, vom Äußeren her deutlich hinter die Pracht von SYMPHONY OF THE NIGHT zurückzufallen, und von seinen inneren Werten her zu wenig von dem geerbt zu haben, was als unabdingbar für hinreichende Familienähnlichkeit galt.

Drum hat man jetzt bei CASTLEVANIA: LAMENT OF INNOCENCE (exklusiv für die Playstation 2) auf Inzucht und damit einen Balg in die Welt gesetzt, der seinen Vorfahren auf Playstation und GBA so sehr gleicht wie möglich angesichts der Tatsache, dass er sich grafisch dennoch eine Dimension mehr erobert. Das Spiel ist ein Versuch, SYMPHONY OF THE NIGHT, CIRCLE OF THE MOON, ARIA OF SORROW etc. in 3-D zu reinkarnieren - immerhin nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. In Deutschland wird das Spiel ohne seinen Untertitel vertrieben; um der besseren Unterscheidbarkeit Willen bleiben wir hier allerdings beim vollständigen Original-Namen.

Der Verlust der Unschuld

Was die Geschichte angeht, die LAMENT OF INNOCENCE erzählt, so ist der jüngste Spross der CASTLEVANIA-Familie eigentlich ein Ur-Ahn: Wie immer bei Serien, deren Plots und Chronologien im Lauf der Jahre so komplex und verworren geworden sind, dass Neulinge sich darin kaum mehr auskennen können, war auch hier die Flucht zurück in der Zeit die einfachste Lösung. Prequel statt Sequel lautet die Losung, und C:LOI verspricht, den definitiven Anfang der Familienfehde zwischen den Belmonts und ihren vampirischen Erz- und Erbfeinden zu enthüllen. Damit können Einsteiger und alte Hasen gleichermaßen etwas anfangen, so sie denn dieser narrativen Einkleidung überhaupt viel Wert beimessen.

Denn im Endeffekt läuft es bei jedem CASTLEVANIA-Spiel sowieso immer auf das Eine hinaus: Ein mit einer Peitsche bewaffneter Typ rennt durch ein Vampirschloss und versucht, den Hausherrn unschädlich zu machen. Auf's Spielgeschehen selbst hat die Story so oder so wenig Einfluss, außer dass an gewissen Punkten längliche, oft ziemlich melodramatische Filmsequenzen ausgelöst werden, in denen manches doziert wird, was dem geneigten Ahnenforscher von Interesse sein dürfte. Wobei hier im konkreten Fall gerade der Anfang von C:LOI mehr als eine beiläufige Verbeugung vor Coppolas genialer Vampir-Filmoper BRAM STOKER'S DRACULA macht.

LAMENT OF INNOCENCE ist eigentlich ein durchaus passender Titel für diesen neuerlichen Ausflug ins Reich der Polygon-Grafik. (Man ist ja, ganz nebenbei bemerkt, schon gespannt, wie lange der Trend noch anhalten kann, CASTLEVANIA-Spielen solch musikalisch-melancholische Untertitel zu verleihen. Die Auswahl an geeigneten musikalischen Gattungen ist endlich - wird Konami rechtzeitig Halt machen vor CASTLEVANIA: POLKA OF PAIN?). Jedenfalls kann man durchaus die verlorene Unschuld beklagen, mit der früher Videospiele ganz selbstverständlich im 2-D-Rahmen bleiben durften.

Im Bewusstsein der Game-Industrie und ihrer Kunden herrscht ein verheerender Kurzschluss zwischen technischem Hardware-Fortschritt und der Wachablösung verschiedener Ästhetiken. Ähnlich dem Kino, wo auch die meisten Mainstream-Konsumenten darauf gedrillt wurden, Stummfilm oder Schwarz-Weiß als defizitäre, quasi nur behelfsmäßige Ausdrucksformen wahrzunehmen statt als die vollgültigen und eigenständigen, die sie sind, so leiden auch die Videospiele an einem dämlichen Fortschrittsglauben, der nicht erkennen will, dass Ästhetiken an sich immer nur anders werden können, aber nicht "besser".

So aber kann ein Playstation 2-Spiel es sich heute - im wahrsten, finanziellen Sinn des Wortes - nicht mehr leisten, einen 2D-Stil zu nutzen, weil damit der Verlust eines Großteils potentieller Mainstream-Kundschaft droht. Dabei hätte eine konsequente Fortentwicklung des zweidimensionalen SYMPHONY OF THE NIGHT-Modells unter Ausnutzung aller zusätzlichen Möglichkeiten, welche die mächtigere Hardware eröffnet, eines der spektakulärsten, begeisterndsten CASTLEVANIA-Spiele überhaupt ergeben können. So aber müssen wir uns mit einer Transponierung des Erprobten in ein neues ästhetisches Korsett, dass ihm nicht wirklich passt, abfinden, mit bestenfalls befriedigendem Resultat. Denn daran, dass CASTLEVANIA: LAMENT OF INNOCENCE ein kaum mehr als leidlich nettes Spiel geworden ist, tragen nur zum Teil eher unglückliche Design-Entscheidungen Schuld - ein gerüttelt Maß an Problemen sind durch den Schritt zu 3-D unweigerlich prinzipbedingt.

Imitation, Selektion und Transplantation

Ein bewusst angezüchtetes Charakteristikum dieses jüngsten CASTLEVANIA-Abkömmlings mag man noch, je nach Temperament, als besonders liebenswert oder als Zeichen der Dekadenz der Serie ansehen: Die Ähnlichkeit zu den Eltern ist sehr forciert. Es wurde C:LOI kaum erlaubt, eigene Züge zu entwickeln - gerade was die diversen Kreaturen der Nacht angeht, mit denen man im Lauf der gefahrvollen Schlossbesichtigung so seine unliebsamen Begegnungen hat, findet sich so gut wie nichts im Bestiarium, was nicht von irgendeiner CASLTEVANIA-Mär aus alten Zeiten schon längst vertraut wäre.

Die Nostalgiker unter den Gamern wird's freuen, und sie sind es wohl auch, auf die dieses Spiel generell abzielt - quasi als Wiedergutmachung für das N64-CASTLEVANIA: Der beabsichtigte Reiz des Ganzen soll sein, alles aus den 2-D-Inkarnationen Bekannte nun in 3-D bestaunen zu dürfen. Aber selbst die treuesten Traditionalisten unter den Spielern hätte es wohl kaum verschreckt, wenn das klassische CASTLEVANIA-Repertoire zusätzlich noch mit ein paar neuen Blutlinien aufgefrischt worden wäre, gerade was seine Monster-Stallungen betrifft.

Selbst jene aber, die nur der Wiedererkennungseffekt wirklich glücklich macht, kann es nicht freuen, dass C:LOI gegenüber seinen engeren Vorfahren die Rollenspiel-Elemente ziemlich stark ausselektiert hat. Es gibt zwar noch Rudimente einer Fähigkeits- und Eigenschafts-Statistik des Spielhelden, aber deren Werte können nicht mehr durch (Kampf-)Erfahrung auf höhere Levels geschraubt werden. Das hat durchaus seinen gut begründeten Sinn im Spiel-Design: Zum einen lassen sich die ersten fünf Schloss-Abschnitte in beliebiger Reihenfolge durchlaufen, was schwer aufrechtzuerhalten und auszubalancieren gewesen wäre, wenn der Held den schwächeren Feinden irgendwann wirklich extrem überlegen hätte werden können.

Zum anderen hat (dazu nachher mehr) das Herumlaufen und Monstererlegen in 3-D einen langsameren Rhythmus als in 2-D, und vermutlich wollten die Entwickler auch keine Zähigkeit, ja Langweile des Spielflusses riskieren durch den Zwang zu ausgedehnten virtuellen "Bodybuilding"-Aktionen. Aber wie fadenscheinig auch immer die Aussicht auf höhere Charakter-Statistiken als Motivation für stundenlanges Hauen und Stechen scheinen mag - es zieht doch immer wieder, immer noch. Und ohne diesen simplen Anreiz wirkt paradoxerweise das doch so schön reduzierte Pensum an Monsterschlachterei viel leere, sinnloser, dröger.

Was nicht heißen soll, dass es in LAMENT OF INNOCENCE gar keine nennenswerten RPG-Erbreste gäbe: Statt durch Erfahrungspunkte-basierten Levelanstieg erfährt der Held seine Aufrüstung hier durch Ausrüstung. Er kann (durch optionale Kämpfe gegen Neben-Bosse) verschiedene, bestimmten Elementen zugeordnete Peitschen erlangen; bekommt bei seinem freundlichen Heiltrank-Krämer und Herrenausstatter am Fuß des Schlossberges zunehmend wirksamere Schutzpanzer angeboten; findet Relikte, die ihm für (durch seinen Magievorrat) begrenzte Zeit bestimmte Fähigkeiten verleihen; erhält als Belohnung für erlegte Level-Endgegner Kugeln, die seine Sekundärwaffen um neue, mächtige Angriffsvarianten bereichern; das mögliche Maximum an Gesundheits- und Magiepunkten und an den traditionell zum Einsatz der Sekundärwaffen nötigen Herzen läßt sich durch bestimmte Fundstücke anheben; zudem gibt es eine Handvoll an Amuletten, Ringen und dergleichen, die spezielle Eigenschaften wie Angriff, Verteidigung oder Glück um ein paar Punkte aufwerten.

Und zumindest in einer Hinsicht ist tatsächlich nicht nur der räumliche Fortschritt durch's Vampirschloss entscheidend für die messbare Steigerung des virtuellen Selbstwertgefühls: Nach einer größeren Zahl von handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Untoten, Spukerscheinungen und schleimigem Gekreuch wird man gelegentlich von der Nachricht überrascht, dass zum Repertoire an möglichen Kampf-Moves ein neuer hinzugekommen sei.

Das klingt alles nicht schlecht, und muss sich zunächst auch allerhöchstens vorwerfen lassen, dass keine dieser zahlreichen Abteilungen in sich eine besondere Vielfalt oder Komplexität aufweist, und dass sie untereinander schön friedlich nebeneinander herexistieren, aber kaum interessante Verknüpfungen miteinander erlauben. Aber als Basis-System für solch ein Action-Abenteuer mit RPG-Elementen, wie C:LOI es sein will, könnte es allemal taugen. Das wahre Problem liegt darin, dass dieses System im Verhältnis zum Rest des Spieles wie drauftransplantiert wirkt - LAMENT OF INNOCENCE weiß mit all den Möglichkeiten, die es bietet, nur sehr wenig anzufangen.

Die Architektur der eigentlichen Game-Umgebung und deren virtuelle Bevölkerung bemüht sich nur sehr peripher, ein echter Spielplatz zu sein für dieses System. Von generellen Erhöhungen der Angriffs- oder Verteidigungskraft - und ab und zu einer hilfreichen Resistenz gegen spezielle Feind-Attacken - abgesehen, bekommen all die Relikte, Orbs, Ringe, Moves etc. herzlich wenig Chancen, sich als nützlich, geschweige denn notwendig zu erweisen. Man kommt mit einer kleinen Handvoll Standard-Ausrüstungsgegenständen und Angriffs- und Verteidigungsvarianten so gut, zügig und problemlos durch's Spiel, dass alles darüberhinaus mehr Mühe und Zeit kostet, um zum Einsatz gebracht zu werden, als es dann im Kampf wirklich erspart.

Die allermeisten Relikte und Sekundärwaffen+Orb-Combos wird man höchstens in Betrieb nehmen, um auch mal gesehen zu haben, wie dies oder jenes denn überhaupt so tut. Ansonsten fehlen die Gelegenheiten und erst recht Anreize, sich mit all den zur Verfügung stehenden Ausrüstungs-Optionen ernsthaft auseinanderzusetzen.

Das geht so weit, dass selbst die altehrwürdigen Sekundärwaffen, die LAMENT OF INNOCENCE aus den Rüstungskammern seiner Ahnen hat, kaum je Möglichkeiten bekommen, ihre spezifischen Stärken auszuspielen. Ob man jetzt Wurfmesser, Axt, Kruzifix, Weihwasser oder den explodierenden Kristall vorzieht - außer an ein, zwei Stellen dürfte stets das eine so gut sein wie das andere. Ich persönlich habe fast nie die Axt aus der Spielfiguren-Hand gelegt, hatte aber auch nicht das Gefühl, dass ich mit einer der anderen Waffen merklich mehr oder weniger Schwierigkeiten gehabt hätte, stets problemlos alles aus dem Weg zu räumen, was leichtsinnigerweise meinte, sich mir in selbigen stellen zu müssen.

You gotta whip it, whip it good!

Das ist schon ein herber Rückschritt gegenüber so ziemlich allen 2-D-CASTLEVANIAs, wo die Wahl der richtigen Sekundärwaffe in nahezu jedem zweiten Levelabschnitt ganz erheblich über Wohl oder Wehe des Helden entscheiden konnte. Im Gegensatz zur mangelnden Einbindung des Semi-RPG-Systems ins tatsächliche Spielgeschehen ist es aber ein Makel, den man nicht so klar einem unausgegorenen Gamedesign anlasten kann: Diesen hat eher die CASTLEVANIA-Evolution selbst mit sich gebracht - da trifft nun ein angeborenes Charakteristikum auf eine veränderte Umwelt, in der es seinen ursprünglichen Sinn und Zweck nicht wiederfindet.

Solange sich alles noch entlang lediglich zweier Raumachsen abspielte, war der Clou bei den Sekundärwaffen nicht mal so sehr, dass gewisse Gegner gegen gewisse Waffen stärkere Verwundbarkeit oder Immunität zeigten. Sondern, dass die Geschossbahnen oder (bei Weihwasser und Kruzifix) die räumliche Ausbreitung dieser Waffen jeweils sehr unterschiedlich waren. Mit einer zusätzlichen Dimension als Freiheitsgrad aber muss genau das nivelliert werden, um nicht die Spielbarkeit zu gefährden. Denn wenn jetzt beispielsweise die Axt noch immer im hohen Bogen flöge, dann würden Treffer mit ihr zur Frage allzu diffiziler Punktlandungen. Und auch die traditionelle CASTLEVANIA-Hauptwaffe, die Peitsche, hat aus den selben Gründen in LAMENT OF INNOCENCE deutlich weniger Eigencharakter als früher und wirkt ziemlich austauschbar mit jeder beliebigen Standard-Offensive aus hunderten anderer 3rd-Person-Action-Andventures.

Übriggeblieben ist nur das Nach-vorne-Schnalzenlassen - mag sein, dass es einfach keinen sinnvoll handhabbaren Weg gibt, das in den 2-D-Inkarnationen so charakteristische, kontrollierbare freie Schwingen der Peitsche in den dreidimensionalen Raum zu übertragen; jedenfalls hat Konami die Suche nach solch einem Weg (wenn sie denn je unternommen wurde) erfolglos aufgegeben.

An solchen Details zeigt sich, wie sehr manche CASTLEVANIA-Familienähnlichkeit in LAMENT OF INNOCENCE eigentlich nur noch Mimikri ist - wie sehr da oft ein, zwei oberflächliche Zeichen für die Sache selbst herhalten müssen. Am meisten hilft diesem Mischling bei der Aufrechterhaltung seiner Tarnung, dass er einen Teil seiner neuerworbenen 3-D-Freiheit geschickt gleich wieder opfert und er seine wahre Natur durch eine recht rigide Kontrolle der Blicke weniger leicht durchschaubar macht.

Die Perspektive ist quasi-isometrisch: Zwar nicht immer in genau dem gleichen Abstand und mit dem gleichen Winkel, folgt die virtuelle Kamera jedenfalls stets schräg von oben dem Geschehen, fliegt automatisch dem Held hinterher. Als Spieler hat man keinen direkten Einfluss auf ihre Positionierung, insbesondere fehlt jede (in 3-D-Action-Adventures eigentlich handelsübliche) Möglichkeit, durch die Augen des Protagonisten einen Blick auf die Szenerie zu werfen.

Und das ist durchaus sinnvoll: Denn es ist die einzige Möglichkeit, wie LAMENT OF INNOCENCE den Spielfluss, den Rhythmus eines echten CASTLEVANIA-Games halbwegs beibehalten kann. Jede Lösung, die den Gamern mehr Freiheit der Blickwinkel an die Hand gegeben hätte, hätte sich zwangsläufig eingehandelt, dass das Rennen, Hüpfen, Peitschen ständig durch neugieriges oder sicherndes Umgucken unterbrochen worden wäre. Das ganze Feeling des Spiels hätte sich radikal geändert.

Aber 2-D- und 3-D-Games unterscheiden sich in Sachen Räume und Blicke nun einmal fundamental voneinander. Und so clever die Kamera-Selbstkasteiung von LAMENT OF INNOCENCE einerseits als Trick ist, um etwas vom Erbgut seiner zweidimensionalen Ahnen zu retten, zahlt sie doch andererseits einen hohen Preis: Sie beschneidet radikal die Möglichkeit zu einer Dramaturgie der Räume. Je größer ein Raum in den früheren CASTLEVANIA-Spielen war, je eindrucksvoller wirkte er auch; die Spannungskurven dieser Games lebten viel von dem Kontrast zwischen schmalen Korridoren und gigantischen Sälen.

Die eingeschränkte Perspektive in LAMENT OF INNOCENCE torpediert alle Ansätze in dieser Richtung doppelt: Zum einen läßt der Schräg-von-oben-Blick stets nur ein ähnlich großes Areal überschauen, egal wie groß der Raum ist, in dem man sich befindet. Das nivelliert weitgehend den Unterschied zwischen engen Kammern und riesigen Hallen, weil man auch letztere immer nur in kleinen Ausschnitten erlebt. Zum anderen ist der Betrachtungswinkel einer, der psychologisch genau mit Distanz, Überlegenheit, Unberührtheit besetzt ist. Wollte man in 3-D ein Äquivalent schaffen zu jener Überwältigung, die ein Raum in 2-D allein durch seine enorme Fläche hervorrufen kann, dann wäre die klassische Perspektive dazu - eigentlich schon, seit es die ersten Kathedralen gab - ein (gleichsam eingeschüchterter) Blick von unten in die Höhe des Raums hinein - das genaue Gegenteil zu dem, was C:LOI bietet.

Und selbst was den Spielfluss, den Rhythmus angeht, kann LAMENT OF INNOCENCE trotzt dieses großen Opfers die Verwandtschaft zu seinen Vorfahren nur bedingt behaupten. Wären nicht so viele (letztlich aber doch eher dekorative als essentielle) Details um CASTLEVANIA-Wiedererkennungswert bemüht, würde man das Spiel wohl eher in der Tradition von DEVIL MAY CRY verorten, dem es vom allgemeinen Spielgefühl her ziemlich ähnelt. Denn durch die hinzugekommene Raumdimension verschieben sich doch das gesamte Gleichgewicht zwischen den zu absolvierenden Aktivitäten ebenso wie die Tempoverhältnisse erheblich: So nimmt, um nur ein Beispiel zu nennen, das Durchqueren eines bloßen Verbindungskorridors jetzt ungleich mehr Raum und Zeit ein, bekommt mehr (unnötiges) Gewicht, weil das Rennen insgesamt ruhiger, weniger zappelig geworden ist, weil nun statt vor und zurück auch die Option besteht, die Breite des Gangs (wie schmal der auch sein mag) nach links und rechts zu erkunden, weil es etwas umständlicher geworden ist, sich per Peitschenhieb mit in herumstehenden Leuchtern verborgenem Energie-Nachschub zu versorgen, weil die architektonischen Proportionen "realistischer" geworden sind und die meisten Korridore dadurch im Verhältnis zu den richtigen Räumen länger als zu 2-D-Zeiten.

Pfeifenorgeln und anderes Eintöniges

Überhaupt hatte die 2-D-Ästhetik den großen Vorteil, sich mehr Abstraktion gönnen zu können, da sie ohnehin von Grund auf weniger mit naturalistischer Abbildung flirtete als jene Art von 3-D-Grafik, die heute bei Videospielen die Mainstream-Mode dominiert. Durch all die "Abkürzungen", die sich die Darstellung damals somit leisten konnte, war das Geschehen deutlich flotter, die Ereignisdichte höher. Und die "suspension of disbelief" deutlich tragfähiger auch gegenüber ziemlich grob Unplausiblem - die Spielwelt konnte viel leichter in sich stimmig scheinen, auch wo sie Gesetzen unserer Erfahrung aus der wirklichen Welt entgegenlief.

Damit hat LAMENT OF INNOCENCE mehr zu kämpfen: Auch sein Vampirschloss verdankt seine Architektur ja durch und durch erstmal nur den Bedürfnissen des Gamedesigns - und will dann so dekoriert und darpiert werden, dass es zumindest in Ansätzen auch als bewohnbare Lebenswelt denkbar scheint. Mit dem Zuwachs an (Pseudo-)Naturalismus werden die Brüche dabei aber offensichtlicher, weil eben die Bildschirm-Darstellung allgemein nicht mehr so bloß symbolhaft wirkt; weil sie viel mehr der Illusion huldigt, einen direkten, nicht stilisierten Blick in die gezeigte Welt zu bieten.

Wenn aber in dieser Welt dann zum Beispiel in einem Unterlevel jeder zweite Raum eine ausgewachsen Pfeifenorgel sein eigen nennt (genug, um ganze Orgelbauer-Dynastien in Lohn und Brot gehalten zu haben), wenn in einem anderen Teilabschnitt unentwegt die selben alchemistischen Labor-Einrichtungsgegenstände die Gemächer füllen, dann kann einem schon mal die illusionsdurchbrechende Frage in den Kopf schießen, wo die Horden von Kirchenmusikern und Forschern abgeblieben sind, die offensichtlich dieses Schloss bevölkern, wer sie alle angestellt hat - und warum?!

Klar, solche Fragen sind schlicht fehl am Platz, wir haben es hier mit dekorativen Versatzstücken zu tun und sonst nichts. Aber dekorative Versatzstücke waren im ästhetischen Gesamtkontext der 2-D-CASTLEVANIAs viel leichter als solche zu akzeptieren. Und noch einen Vorteil hatte die alte CASTLEVANIA-Ahnengalerie mit ihrem wohlerprobten Flachbild-Grafikstil: Sie musste nicht so geschmackvoll tun. Das visuelle Design war näher am Comic als an Fotorealismus, und entsprechend mehr Übertreibungen, Stilisierungen konnte sie sich leisten.

Gerade was die Farben angeht, wo LAMENT OF INNOCENCE sich einer stimmungsvoll gedämpften, besonnen eingeschränkten Palette bedient, war da früher viel mehr Abwechslung geboten und deutlicher abgesetzte Eigenständigkeit der verschiedenen Unter-Level. Bei LAMENT OF INNOCENCE wirkt das alles gediegener, reifer, niveauvoller - aber erheblich eintöniger.

Irgendwie scheinen die CASTLEVANIA-Familienjuwelen fast alle an Glanz verloren zu haben beim Versuch, sie auf 3-D aufzupolieren. Das gilt zu guter Letzt auch für die Boss-Fights - seit jeher eigentlich krönende Prunkstücke in diesen Games. Und das Design der Ober-Finsterlinge ist auch in LAMENT OF INNOCENCE teils durchaus auch recht hübsch. Doch es bleibt fast immer der echte "Wow!"-Effekt aus: Es fehlt den meisten dieser Endgegner schon allein an schierer Größe dazu - vermutlich, weil sich diese, jetzt da sie auch ein entsprechendes Volumen bedingt hätte, ungleich schwieriger überzeugend hätte handhaben lassen als früher, wo sie lediglich Ausdehnung in der Fläche bedeutete. Was dann andererseits auch wieder gar nicht so schlimm ins Gewicht fällt, weil man ohnehin seine liebe Not hat, bei den Boss-Fights seinen Feind richtig im Blick zu behalten.

Hier liefert das Kamera-System von C:LOI seine zweifelhaftesten Resultate - oft genug kann man wunderbar seinen herumrennenden Helden verfolgen, ohne auf dem Bildschirm viel von dem ihn angreifenden Feind mitzubekommen. Was aber auch wiederum nicht so verheerend ist, wie es klingt, weil diese Bosse mit deutlich weniger Geschick besiegbar sind als jene früherer CASTLEVANIA-Games: Die haben mit ihren Angriffs- und Bewegungsmustern immer die Räume (bzw. eben: Flächen) ziemlich eng gemacht, während man in LOI auch ohne Einstudieren der richtigen Strategie durch spontanes Ausweichen und Attackieren zum Erfolg kommt.

Es ist also keineswegs Zufall, dass der Kampf gegen den "Forgotten One" nicht nur das spektakulärste und schwierigste Duell gegen einen Chef-Bösewicht in LAMENT OF INNOCENCE ist, sondern genau auch der eine Moment, wo das Spiel sich zum verkappten 2-D-Game zurückbildet: Da kann sich der Held nur auf schmalen Stegen bewegen, die in die Tiefe des Raums hinein minimalen Spielraum lassen. Dieser Boss-Fight wirkt wie ein evolutionäres Überbleibsel, wo das Erbe früherer Entwicklungsstufen fast unberührt sichtbar geblieben ist - und symptomatischer Weise ist dieser Kampf (obwohl vielleicht der schönste) im Spielverlauf dann auch optional.

Schloss mit 3_D-Aussicht zu vermieten

LAMENT OF INNOCENCE ist wie der Spross einer Monarchen-Dynastie, der aus Traditionsbewusstsein gegenüber der Öffentlichkeit noch immer aufs Hofzeremoniell hält, bei entsprechenden Anlässen Uniform trägt, seinen Stammbaum auswendig runtersagen kann, die Gepflogenheiten und Spleens des Hochadels kultiviert, obwohl sein Land eine Republik geworden ist und er eigentlich ein bürgerliches Leben führt: Das ist oft hübsch anzuschauen, sonnt sich in manch langsam verlöschendem Glanz, gibt einem, wenn man in Stimmung ist, dies warme, weiche Gefühl der Nostalgie. Und ist doch kaum mehr als Maskerade.

Der neue, (virtuell) dreidimensionale Familiensitz, den LAMENT OF INNOCENCE der CASTLEVANIA-Sippe hingebaut hat, ist eigentlich für ganz andere Erblinien geschaffen. Das scheinen auch die Spieldesigner insgeheim begriffen zu haben - nachdem man das Game einmal bewältigt hat, bietet es die Option, es noch einmal mit dem Vampir "Joachim" als Spielerfigur zu bestreiten. Joachim gleitet schwebend durch die Gänge und Kammern, flüssig und flott, umkreist von einem Ring Schwerter, die er auf die Gegner schleudern kann. Fast alle Komplexität, alles Aufsammeln, Kombinieren, Einsetzen von Gegenständen, Waffen ist dabei aus dem Spiel genommen, weswegen dies letztlich doch merklich ein Bonus-Modus bleibt. Aber sein Fluss, sein Rhythmus, das Verhältnis von Raum, Bewegung, Aktion hat dennoch ein im Grunde stimmigeres Feeling als das des eigentlichen Haupt-Spiels.

Wie leicht und problemlos sich ein so deutlich anderes Spielgefühl in der kaum veränderten Grund-Architektur von LAMENT OF INNOCENCE installieren lässt, beweist, wie dünn und oberflächlich sein CASTLEVANIA-Anstrich in Wahrheit ist. Die Belmonts und ihre vampirischen Widersacher sind in diesem neuen Anwesen mit seiner(/n) schmucken Räumlichkeit(en) nicht wirklich heimisch geworden, wohl gerade, weil sie versucht haben, so viel von ihrem alten Mobiliar, ihren überkommenen Gewohnheiten, ihrer Familientradition beim Umzug mitzuschleppen. Erst beim Bonus-Durchgang mit Joachim, wo all dieser Ballast über Bord geworfen, der Familienfluch der ewigen Wiederholung des Altvertrauten gebrochen ist, hat man bei diesem Spiel das Gefühl, einen möglichen Bewohner dieses 3-D-Gemäuers kennenzulernen, der sich in dessen Architektur wirklich zu Hause fühlt.