"Der Irak-Krieg hat es schlimmer gemacht"

USA: Ein Bericht von 16 Geheimdiensten erkennt in der Invasion und Besetzung des Irak Nährboden und Inspiration für eine neue Generation von Terroristen

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Welche Konsequenzen wird diese Enthüllung haben? Was gestern als Kernaussage eines bedeutenden US-Geheimdienstberichtes von der New York Times veröffentlicht wurde und sich in den Nachrichtenzirkeln des Web schnell verbreitete, gehört schon seit langem zum argumentativen Standardrepertoire der Kritiker des Irakkrieges: Statt zum Sieg im globalen Kampf gegen den Terrorismus beizutragen, hat die Lage im Irak die Position der USA in diesem Kampf verschlechtert und neue Gegner inspiriert.

U.S. Marines durchsuchen im Rahmen von Operation Matador Mitte September erneut Falludscha. Bild: Pentagon

„Die amerikanische Invasion und die Besatzung des Irak haben dazu beigetragen, eine neue Generation des islamischen Radikalismus hervorzubringen; die globale Terrordrohung ist seit den Anschlägen des 11.September angewachsen.“ Diese Erkenntnis zum „Global War on Terror“, markiert nach Informationen der amerikanischen Tageszeitung die zentrale Aussage eines umfassenden Geheimberichts, zu dem alle 16 amerikanischen Geheimdienste ihre Erkenntnisse und Einschätzungen beigesteuert haben.

Dass es sich hierbei um ein Geheimdokument des National Intelligence Estimate (NIE) handelt, macht die Nachricht in diesem Fall interessanter als die mutmaßlichen Inhalte des Berichts selbst. Denn die NIE-Dokumente gelten als die verlässlichsten und maßgeblichsten Berichte der US-Geheimdienste zur Sicherheitslage; ihre Befunde werden vom Chef des nationalen Geheimdienstes John D. Negroponte abgesegnet: Sie sind demnach frei vom Verdacht der Lagerpolemik seitens der Irakkriegskritiker.

Den genauen Inhalt des 30seitigen Berichts, der den Titel „Trends in Global Terrorism: Implications for the United States“ trägt, haben auch die Investigatoren der New York Times nicht erfahren. Aus den Interviews mit mehr als einem Dutzend namentlich nicht genannter Regierungsvertreter und Experten, Kritikern wie Unterstützer der Bush-Regierung, die allesamt entweder Einblick in die Berichtsentwürfe oder gar in die endgültigen Version hatten, hat man viel über allgemeine Schlussfolgerungen und nichts über Details, die hochgeheim bleiben, herausgefunden: "They conclude that the Iraq war has made it worse", wird ein anonymer Regierungsvertreter zitiert.

Im Gegensatz zu einem nicht geheimen Bericht (PDF-Datei) des House Intelligence Committees, der am Mittwoch vergangener Woche veröffentlicht wurde und eine unmittelbare Bedrohung der Vereinigten Staaten nahelegte, soll der NIE-Bericht allerdings Beurteilungen über die Wahrscheinlichkeit neuer Anschläge auf amerikanischen Boden vermeiden.

Im Mittelpunkt steht hier die globale Terrordrohung und deren Veränderung: Die radikal-islamische Bewegung habe sich ausgeweitet, so eine zentrale Schlussfolgerung des Geheimberichts, es gebe jetzt eine neue Klasse von sich selbst generierenden Zellen, die von Osama Bin Laden und anderen Führungspersönlichkeiten der Qaida inspiriert sein mögen, aber unabhängig von dessen Befehlen oder Anweisungen handeln würden. Direkte Verbindungen zur Qaida-Führung seien nicht mehr nötig.

Das Internet habe viel dazu beigetragen, die Ideologie der Dschihadisten zu verbreiten, deren neue Netzwerke und Zellen oft nur durch wenig mehr verbunden seien als durch ihre antiwestliche Agenda. Sollte sich dieser Trend, der immer mehr neue Splittergruppen, Netzwerke und Zellen hervorbringt, fortsetzen, so folgerte der neue CIA-Chef Michael V. Hayden, ehemals rechte Hand von Negroponte, in einer Rede, die von der New York Times als Referenz zum geheimen Dossier dargestellt wird, „dann werden die Bedrohungen für die USA sowohl auf heimischen Boden wie auswärts verschiedenartiger und das kann zu mehr Anschlägen auf der ganzen Welt führen“.

Der NIE-Bericht, der im April dieses Jahres bereits fertiggestellt wurde, bestätigt Einschätzungen, welche die CIA schon vor Beginn des Krieges, im Jahr 2002, lieferte (vgl. Die CIA ist besser als ihr Ruf) , sowie Berichte, die nach den Anschlägen in London im letzten Jahr veröffentlicht wurden (vgl. Der Irak-Krieg hat den Terrorismus gestärkt). Doch weder die amerikanische noch die britische Regierung wollten den missliebigen Beurteilungen irgendeinen Erkenntniswert beimessen. Ob sich daran etwas geändert hat?

Dass die Informationen von der New York Times jetzt veröffentlicht wurden, passt einmal zu den gegenwärtigen Rückblicken auf fünf Jahre „War on Terror“ seit den Anschlägen auf das World-Trade Center 2001, die von einem ganzen Paket an Reden des Präsidenten begleitet wurden. Deren Botschaft, dass die Welt zwar nicht sicher genug, aber trotzdem sicherer geworden ist, und der Krieg im Irak als entscheidende Front die richtigen Weichen gestellt hat (vgl. "Der entscheidende ideologische Kampf des 21. Jahrhunderts"), widersprechen die Erkenntnisse der amerikanischen Geheimdienste.

Zum anderen ist die Veröffentlichung der New York Times im Zusammenhang mit dem Wahlkampf zu sehen. Die republikanische Partei hat den Irak zu einem zentralen Thema ihrer Kampagne gemacht, mit solchen Aussagen, wie sie der Artikel über den NEI-Bericht liefert, muss sie erstmal zurecht kommen. Erste Reaktionen auf den Artikel bestätigen, dass er einen sensiblen Nerv getroffen hat. Ein entsprechender Artikelverweis, den das in den USA bekannte Sammelblog Huffington Post gestern an oberster Stelle seiner Homepage platzierte, wurde bis zum späteren Abend über 800 Mal kommentiert.

Ausgewiesene Kritiker des amerikanischen Waffengangs im Irak, wie etwa der bloggende Irak-Kommentator Juan Cole, haben für die jüngsten geheimdienstlichen Erkenntnisse nur ein Achselzucken übrig: Für sie ist längst klar, dass der Irak „nicht die zentrale Front im Kampf gegen den Terror ist, sondern mittlerweile die wichtigste Brutstätte des anti-amerikanischen Terrorismus“.