Der "Islamische Staat" nach dem Untergang seines "Kalifats"
Nach Ansicht eines Nato-Mitarbeiters wird sich der IS verbreiten und kriminelle Strukturen zur Geldbeschaffung etwa durch Cyberkriminalität aufbauen, ein neues Kalifat müsse verhindert werden
Der Fall von Mosul ist absehbar, auch Raqqa dürfte, wenn es nicht zu einer anderen geopolitischen Lage kommt, in den nächsten Monaten von der Kontrolle des Islamischen Staats befreit werden - allerdings zum Preis von weiteren Flüchtlingen, vielen Toten auch unter Zivilisten und der großräumigen Verwüstung von Gebäuden und Infrastruktur. Wie weit der IS dann noch andere Gebiete kontrollieren kann, ist fraglich. In das Vakuum werden andere islamistische und schiitische Milizen einrücken, die sunnitischen Gruppen werden Teile der IS-Kämpfer aufnehmen, der IS selbst wird in den Untergrund abtauchen und versuchen, noch stärker als bislang in anderen muslimischen Ländern Fuß zu fassen.
Das ist absehbar, klar ist auch, dass der Verlust des "Kalifats" als kontrolliertes Territorium auch finanziell erheblich für die Terrorgruppe durchschlagen wird. Sie hat jetzt schon einen wesentlichen Teil der Einkünfte durch Gebietsverlust, Bewegungseinschränkung, Verlust von Staudämmen und Bombardierung von Zielen wie Tankwagen und Ölquellen verloren, auch wenn etwa durch Geiselnahmen, Fluchtgelder oder Schmuggel noch einiges in die Kassen kommen wird.
Zumindest der offene Zugang in die Türkei über Dscharablus ist dem IS seit der türkischen Offensive verwehrt. Der Schmuggel über die Türkei war für den IS lange Zeit wichtig. Ob dieser nun wirklich unterbunden ist, ist nicht klar, jedenfalls dürfte er erheblich erschwert sein, auch wenn es in der Türkei selbst zahlreiche IS-Zellen gibt. In den umkämpften Gebieten kann schon jetzt kaum noch produziert werden, wodurch die finanzielle Basis durch Steuereintreibungen und Beschlagnahmungen ebenfalls gegen Null geht, während die Banken längst leergeplündert sind. Die Folge ist, dass viele der Kämpfer, die man als Söldner verstehen kann, sich einen anderen "Arbeitgeber" suchen, während die von der herrschenden Kaste der Kämpfer kontrollierte Bevölkerung unzufriedener wird, wenn zur Unterdrückung auch noch der Mangel kommt.
Man muss, wenn Medien angeblich offizielle Quellen zitieren, stets misstrauisch sein, ob hier nicht Informationen gezielt durchgestochen werden sollen, um bestimmte Ziele damit zu erreichen. Das könnte auch der Fall bei der türkischen Zeitung Hürriyet sein, die einen Nato-Mitarbeiter, der anonym bleiben will, zitiert. Gut möglich, dass die Nato ihre Bestrebungen zum Ausbau der "Cyberverteidigung", bislang vor allem durch den angeblichen "hybriden Krieg" Russlands legitimiert, auf andere Felder erweitern will, zumal wenn der Krieg gegen den IS, an dem viele Nato-Mitgliedsländer beteiligt sind, als Klammer entfallen sollte (Nato braucht mehr Bandbreite für Drohnen).
Das Szenario erscheint jedenfalls durchaus realistisch, dass der IS mit schwindenden Territorien und Einkünften nicht nur weitere Stützpunkte in anderen Ländern sucht, sondern die finanziellen Einbußen auch durch neue Aktivitäten kompensieren will. Der Nato-Mitarbeiter sagte laut Hürriyet in Brüssel: Sie schauen "zunehmend nach dem organisierten Verbrechen. Der IS wird bald auf Cyberkriminalität umsatteln müssen, um Einkommen zu erzielen, wie Hacker, die versuchen, von Banken und Kreditkarten Geld zu stehlen." Als Grund wird angeführt, dass der IS nach dem Zusammenbruch des "Kalifats" im geografischen Raum aktiver im virtuellen Raum sein wird, den er freilich seit Beginn an intensiver und ausgefuchster als andere Terrorgruppen davor zu Propaganda- und Rekrutierungszwecken, aber auch zu gelegentlichen Hacks genutzt hat.
Der Nato-Mitarbeiter will auch wissen, dass der IS bereits einen guten Teil seiner Kämpfer und Führung aus dem Irak, wohl auch aus Syrien abgezogen hat. Die Nato verfolge, wohin diese gehen. Angeblich sei Libyen Hauptanlaufpunkt, daneben auch Somalia, Nigeria und Afghanistan, in 19 Ländern sei er bereits vertreten. Die internationale Gemeinschaft müsse nun verhindern, dass der IS sein "Kalifat" in ein anderes Gebiet transportiert, das nicht von einer Zentralregierung kontrolliert wird, also in einem "failed state" oder in einer wilden Region.
Die Nato werde ihre Kapazitäten einsetzen, um lokalen Streitkräften zu helfen, die Umzugspläne des IS zu verhindern. Das ließe sich auch als Drohung verstehen. Die Nato hat Ausbildungsteams nach Tunesien, Marokko und Jordanien entsendet. In Tunesien soll ein Aufklärungszentrum eingerichtet werden. Mit der Mittelmeer Operation Sea Guardian ist die Nato auch vor Ort. Die USA haben bereits vor einem Jahr Soldaten und Drohnen auf einen Stützpunkt in Tunesien verlegt.
In Libyen haben westliche Staaten Spezialeinheiten eingesetzt, die USA setzen Drohnen gegen den IS ein. Derzeit wird gerade von anonym bleibenden Pentagon-Mitarbeitern davor gewarnt, dass die Russen die Regierung von Khalifa Haftar im Osten des Landes unterstützen und dazu auch Spezialeinheiten und Drohnen nach Libyen gesendet hätten. Damit könnte sich, sofern die Russen sich tatsächlich in Libyen militärisch engagieren sollten, nach Syrien ein zweiter Konflikt mit Russland eröffnen. Der Westen setzt auf die nationale Einheitsregierung GNA (Libyen: Russland versucht ein alternatives Projekt).
Die Migration des IS könnte damit auch neue Interventionen nach sich ziehen. Libyen wurde allerdings durch militärische Interventionen erst ebenso wie teilweise Afghanistan und der Irak zu einem failed state.