Der Kampf um die Vernetzung

Die USA stehen trotz aller teilweise schrecklichen Fehler für Kreativität und Freiheit

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Der Angriff auf das World Trade Center war ein Angriff auf die Globale Ökonomie, aber ebensosehr auch ein Angriff auf das globale Netz. Das stimmt: Das Internet, über das wir 10 Jahren diskutiert haben, wurde getroffen. Geht man von der Qualität von vielem aus, was ich seit dem Anschlag online gelesen habe, dann fällt es schwer, sich nicht allzusehr aufzuregen.

Das Internet befindet im Krieg mit sich selbst, wenn es mit seinen wirklichen Feinden klar kommen muss. Ich habe beobachten können, wie Menschen bei progressiven Mailinglisten von Nettime bis hin zu meiner eigenen Medienszene mit der Integration einer solchen klaren Diskontinuität in ihre theoretischen Erzählungen gerungen haben. Jeder versucht, in der WTC-Tragöde einen "Sinn" zu sehen. Leider aber greifen viele Menschen auf Verschwörungstheorien zurück oder ziehen sich in irgendeine Art des blinden Fundamentalismus zurück. Gehen wir kurz darauf ein.

Die Internetverschwörungen reichen von einem geheimen Ölgeschäft zwischen Bush und Ibn Ladin bis hin zu einem gemeinsamen Versuch von Israel und Amerika, Unterstützung für den Krieg gegen die Palästinenser zu finden. Diese Vorstellungen stammen aus einem Verantwortungsgefühl für das Geschehene. Natürlich wissen die Menschen, die Erfahrungen mit Netzwerken haben, dass keine einzelne Kraft für solch eine Katastrophe verantwortlich sein kann.

Wir brauchen aber gar keine weit hergeholte Theorie, um zu sehen, dass wir schon lange in eine bestimmte Art des Krieges verwickelt sind und dass die Regeln dieses Krieges sich verändert haben. Während des Kalten Krieges hatten wir eine Vereinbarung mit der Sowjetunion getroffen, nur innerhalb von bestimmten Parametern des Handelns zu agieren. Wir bauten Nuklearwaffenarsenale auf, hielten uns im Allgemeinen von der Hemisphäre des jeweils Anderen fern und unterstützten Aufständische mit Geld.

Unsere Taktik schloss auch das Training und die Bewaffnung von Menschen wie Ibn Ladin ein. Wir unterstützten Länder mit Ressourcen oder Regierungen, die uns gefielen. (Wenn wir hinter die Oberfläche schauen wollen, dann ist unsere Unterstützung der gewollten repressiven Monarchie in Jordanien mehr zu kritisieren als unsere Unterstützung der versuchten Demokratie Jordaniens. Daher haben die Palästinenser keine Vorstellung, wie sehr sie von der sogenannten arabischen Gemeinschaft gehasst werden.) Das Schlamassel der US-Politik ist, dass die Ungeheuer, die wir schaffen, sich schließlich gegen uns selbst wenden.

All das wurde ziemlich gut von den amerikanischen Mainstream-Medien wie der New York Times und den Fernsehanstalten berichtet. (Wenn Fox News sich auf den Patriotismus und herzerwärmende Geschichten, die den Olympischen Spielen gleichen, stürzt, dann sollen sie das machen. Dafür sind die altmodischen rechten Medien da.)

Einige Anschläge auf Botschaften hatten nicht gereicht, uns zu zeigen, was wir geschaffen haben. Das WTC hat das erreicht. Wir haben in unseren andauernden Kriegen schreckliche Fehler gemacht. Und dieselben Menschen, durch die sich früher die Sowjetunion und die USA bekämpften, kämpfen jetzt gegen uns.

Doch welche Rolle wir auch immer gespielt haben und wie ineffizient auch unsere Strategie war, so haben wir über die letzten beiden Jahrhunderte versucht, Kreativität und freien Willen zu fördern. All die "Angst" und die politische Kritik, die durch uns gut ausgebildete und internetkundige Computerbenutzer zum Ausdruck kamen, wurden durch das westliche System ermöglicht, das in der Renaissance entstand, in der Aufklärung geschmiedet wurde und in der Französischen und Amerikanischen Revolution umgesetzt worden ist.

Um dieses System zu bewahren, haben wir einige sehr bedenkliche Dinge getan. Das waren nicht immer die besten Lösungen für die realen Bedrohungen unserer Sicherheit und unseres Wohlergehens. Aber es waren bessere Lösungen als diejenigen, die die meisten anderen Gesellschaften fanden, und wir werden immer besser. Welche andere Nation hatte eine solche Bürgerrechtsbewegung oder ging so schnell von der Sklaverei zur affirmativen Aktion über? Welche Nation schuf ein solches stabiles Wirtschaftssystem, das fast jeder anderen Nation aus der Krise helfen kann? Und welche Nation gibt überhaupt eine solche Hilfe?

Ja, wir wurden durch unsere eigenen Spielarten des Fundamentalismus behindert - bis zu dem Punkt, dass wir unsere Verpflichtungen gegenüber der UN nicht einlösen, durch unseren eigenen ökonomischen Extremismus, der uns an der Unterzeichnung des Kyoto-Abkommens hindert, und unserem eigenen Missverständnis der globalen Beziehungen, die uns von der Rassismuskonferenz fern hielten. Wir sind süchtig nach Öl, blind für viele Bitten von Anderen und geistig verwirrt.

Aber wir haben auch die Wirtschaft und das Militär, dass diese weiche, kuschlige Gesellschaft von Nichtnuklearen Zonen wie Neuseeland über die ganzen verhassten Vereinigten Staaten bis hin zu Europa geschützt haben. Wir hatten militärisch am meisten zu einer Gesellschaft beigetragen, die dem jüdisch-christlichen Fortschritt in der Ethik und dem griechischen Idealismus verpflichtet ist. Sie vermissen die Wahrheit? Sie könnten nicht mit ihr umgehen.

Man nenne mich einen jüdisch-angelsächsischen Egoisten, aber ich stehe auf UNSERER Seite des Konflikts. Ja, es gibt Seiten. Es gibt die Seite des Pluralismus, der Kreativität und des freien Willens, und es gibt die Seite der Intoleranz, des Dogmas und der Repression. Amerikanischer Idealismus hat seine Probleme, aber er ist auf Freiheit, nicht auf Erlasse ausgerichtet. Das Internet ist eines der besten Mittel, dieses Verständnis zu erweitern.

Bislang kam die Rhetorik gegen die USA hauptsächlich aus drei Lagern:
- von den extremen Fundamentalisten, die die Anschläge ausgeführt haben, und von ihren kaum ausgebildeten und verarmten Unterstützern; - von den extremen Fundamentalisten in unserem Land wie Pat Robertson und Jerry Falwell, die für den Anschlag auf das WTC die Sünden der Frauen, Homosexuellen und liberalen Bürger verantwortlich machen und von denjenigen, die wie die Terroristen sagen, dass wir von Gott bestraft werden; - sowie von den hyperintellektuellen Neokommunisten des Internet, die über unsere Verluste kichern und glauben, dass Amerika einen solchen Anschlag als Rache für seine Aktionen im Kosovo (die Rettung eines Volkes vor dem Genozid) oder für die Unternehmenspolitik der sozialen Kluft verdienen.

Alle drei Gruppen bestehen aus Fundamentalisten, die einer Weltsicht anhängen, die von der Toleranz, den interaktiven Medien und - ja - dem Kapitalismus untergraben wird. Hier sind wir alle zusammen: Abtreibungsbefürworter und Frauen, Araber und Juden, Liberale und Kommunisten.

Man muss sich nur genauer ansehen, wer eine Struktur zu schaffen versucht, in denen jeder friedlich leben kann, und wer dies nicht macht. Was sieht eher nach Pluralismus aus? Das alte Jerusalem oder Jordanien? New York oder Teheran?

Introspektion und Selbstkritik sind sehr wichtig, wenn sie dazu dienen, wirkliche Veränderungen im Aussehen und Verhalten zu bewirken, aber sie können hinderlich sein, wenn man es damit zu weit treibt oder wenn sie im falschen Augenblick eingesetzt werden. Auch eine die Fäuste schwingende und hyperpatriotische Rhetorik scheint mir auf ähnliche Weise einem Rückzug in die Symbole des alten Kriegs zu dienen und kein Ausdruck der Werte zu sein, die wir verteidigen wollen. Wir haben jetzt die Chance, unseren fortwährenden Kampf für Pluralität und menschliche Kreativität auf die nächste Ebene zu heben: zu mehr Bewusstsein und nicht weniger; zum Abbau der Kriegsmaschinerie, die teilweise unsere eigene Schöpfung ist; zur Verbreitung von Werten wie Besitz von Eigentum und Demokratie, die unvermeidlich zur Herrschaft der Gesetze und zum Schutz der Menschenrechte führen. Die Menschen brauchen etwas, um das es geht.

Der Krieg wird auf einer kulturellen und ideologischen Ebene ausgetragen werden. Wir müssen verstehen lernen, welche Bedingungen Menschen dazu bringen, ihren freien Willen aufzugeben und anstatt sich zu entscheiden, Befehle befolgen, und wir müssen dann dafür kämpfen, dass diese Bedingungen beendet werden. Wir müssen die Konzepte des freien Willens und der freien Meinungsäußerung zusammen mit dem Widerstand gegenüber der sozialen Programmierung stärken. Wir müssen eine interaktive Medienlandschaft schützen und erweitern, die Gemeinsamkeit und Kreativität über Isolationismus und Fundamentalismus setzt.

Es ist Zeit, Netzwerke aufzubauen.

Copyright by Douglas Rushkoff
Distributed by New York Times Special Features
Übersetzt von Florian Rötzer