Der Kanzler - ein Medienmachiavelli
Wird der neue medienfixierte Politikstil die Bundestagswahl entscheiden?
"Sollte Oskar Lafontaine am Ende doch Recht behalten haben mit seiner viel zitierten Aussage: "Der kann es nicht!" So (im Spiegel Nr. 31/2002) und ähnlich lauten derzeitige Leserbriefe zur Megaflaute der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer in Berlin Anfang August, nur knapp zwei Monate vor dem Wahltag am 22. September. Der völlige Schwund des Aufwindes einer Ära nach Kohl, die rasante Folge der zum Teil abenteuerlich unklaren Ministerabgänge von Lafontaine bis Scharping, das realpolitische Gezerre um das Austarieren von Reformen, um atomaren Aus- und genetischen Einstieg, die weiterhin hohen Arbeitslosenzahlen, der Frust an der Parteibasis, die Wahlmüdigkeit und der momentan demoskopisch vorhergesagte Wahlverlust für die Regierungsparteien, all dies lässt derzeit noch nicht ausreichend Hoffnung zu. Im Sommertheater um Bonusmeilen, Nebeneinkünfte und Politikberatung fallen Abgeordnete in Bund und Land wie Fruchtfliegen. Abenteuerliches scheint sich anzukündigen.
Währenddessen dümpeln die Zentren der Macht, das Kanzleramt und der Abgeordnetenkomplex neben dem entkernten Reichstag und dem mit Telekom- und Bild-Logo überzogenen Brandenburger Tor, wie steuerlose Flagschiffe im Sommerloch. Erreicht der neue, stark medienorientierte Politikstil der Berliner Regierung die Wähler, oder ist die merkwürdige neue Medienfixiertheit der Politik im Getriebe des Infotainments genau die falsche Adresse, die die Politikverdrossenheit noch steigert?
Richard Meng, stellvertretender Berlinkorrespondent der Frankfurter Rundschau, hat in seinem zum Wahlkampfjahr erschienenen Buch "Der Medienkanzler. Was bleibt vom System Schröder?" (edition suhrkamp 2265) versucht, journalistische, mediale und strukturelle Einsichten in den neuen medienfixierten Politikstil der Regierung Schröder/Fischer zu bündeln. Unabhängig von Schröder verweist er auf die neue Arbeitsteiligkeit des angewachsenen Mediennetzes in Berlin, zwischen ausgiebiger lokaler Produktion und bundesweiter Rezeption von TV- und Print-Medien zwischen kompetentem Vollprogramm und einseitigerer Sparten- und Boulevardberichterstattung.
Meng erinnert uns an mehrere erstaunlich ähnliche Szenarien, mit denen sich Schröder ins öffentliche Gedächtnis geschrieben hat. Momente der scheinbar äußeren Bedrängnis, in denen der Machtpolitiker und Medienmachiavelli dadurch hochpokerte, dass er die entsprechenden Instanzen und Foren mit der medialen Öffentlichkeit so verkoppelte, dass ihm schließlich Siege zufielen, die aus der Sicht der traditionell denkenden politischen Anhänger und institutionellen Repräsentanten zugleich wie eine Niederlage für demokratische Gremien alten Zuschnitts anmuteten.
Inszenierungen der medialen Macht
Die Wahl der Regierung in Niedersachsen erklärte Schröder 1998 taktisch zur Testwahl für die anstehende Bundestagswahl und machte medienwirksam seinen Anspruch auf die SPD-Kanzlerkandidatur und Kohl-Nachfolge geltend. Die parteiinterne Einigung geriet so gleich zum parteifreien Medienplebiszit der anstehenden neuen Mitte, einem Erdbeben, nach dem sich weder Altkanzler Kohl noch etablierte Meinungsführer in der SPD mehr sicher fühlen sollten. Das Ausscheiden von Oskar Lafontaine aus der frisch etablierten rot-grünen Regierung, die wesentlich sein Einigungswerk war, ließ tiefe Gräben im Politikverständnis zwischen ihm, dem geborenen Parteiführer, und dem karrieristischen Außenseiter Schröder aufkommen.
Der Wandel der außenpolitischen Rolle der Bundesrepublik im Kosovokrieg und nach dem 11. September wurde durch vorpreschende Entscheidungen des Kanzlers und seines Außenministers angetrieben. Schon Schröders Rede zum den Anschlägen in New York und Washington wirkte relativ abgehoben und über deutsche und europäische Interessen hinaus auf den Ernst einer baldigen Bush-Anti-Terror-Politik hin abgestellt. Parlament und Bevölkerung wurden durch die taktische Floskel von der "uneingeschränkten Solidarität" und das damit verbundene Angebot eines militärischen Einsatzes Deutschlands an die USA kalt erwischt. Erst nachträglich wurden Erklärungen, Rechtfertigungen und kompromissfähige Einigungsformeln für die Regierungsfraktionen und für die Basisarbeit der anschließend stattfindenden Parteitage gefunden. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein Misstrauensantrag mit einer Sachfrage verknüpft, so dass rote und grüne Pazifisten den Widerspruch zwischen Machterhalt der Regierung und Nein zum Kriegseinsatz in schizophrenen Abstimmungstaktiken kleinarbeiten mussten.
Die letzte entscheidende Krise um Verteidigungsminister Rudolf Scharping lag auf der Linie der Kritik im letzten Sommer an den Mallorcaflügen des Verteidigungsministers zu seiner neuen, in der Bunte präsentierten Lebensgefährtin und zurück an die Kosovo-Front. Nun kamen nicht nachgewiesene Extrahonorare und Verbindungen zum parteienübergreifenden Politikberater Moritz Hunzinger hinzu. Wiederum, wie schon bei Lafontaine und anderen Ministern, waren die Standards der darauf folgenden Entlassung wesentlich von den in den Medien formulierten Erwartungen an bestimmt und polarisierten die Öffentlichkeit zwischen popkultureller Zustimmung und protokollkritischem Stirnrunzeln.
Der Medienkanzler schafft Vertrauen nach außen durch Spaß an der Macht nach innen
Richard Meng hat für diese Vorgänge eine relativ bündige Erklärung: Schröder habe sich im Sog der Berliner Medien zügig vom spielerisch ausprobierenden Spaßkanzler in "Wetten-Dass", über den Durchsetzungskanzler in der Koalition bis zum Vertrauenskanzler in der neuen republikanischen Medien-Öffentlichkeit entwickelt. Der trete als Sachwalter einer gesellschaftlichen Modernisierung auf, die nicht weiter parteipolitisch fixiert sei. Schröder verhalte sich wie ein sachorientierter freier Manager, der mit dem "Grundprofil seiner Firma", der "Deutschland AG", nie "emotional voll identisch" wirke. Seine pragmatische Politik bekomme die Philosophie nachgeliefert, die täglich nötigen politischen Handlungsstrategien seien durch Parteiprogramme nicht zu ersetzen.
Das politisch-strategische Schlüsselwort sei "Konsens" statt Konflikt: Darunter verstehe Schröder seit seiner Zeit als niedersächsischer Regierungschef die Konzentration von Handlungsmacht bei der Regierung, die zugleich darauf bedacht sei, in jedem Falle möglichst viel positive Resonanz in den Medien und in einer möglichst breit zu definierenden Öffentlichkeit zu erhalten. Versteht man Seng recht, so betreibt Schröder damit einen politischen Medien-Utilitarismus der größtmöglichen Resonanz/Aufmerksamkeit. Dabei schwanke das nach außen vertretene Kommunikationsanliegen zwischen Beförderung der mündigen Zivilgesellschaft und der Expansion vernetzter Experten, zwischen populistischer Breitenwirkung und exklusiver Meinungsführerschaft. Das System Schröder versuche, verschiedene wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte, Milieus und Schichten medienorientiert zu bündeln und zu moderieren. Weniger diplomatisch könnte man auch von einem expansionistischen, autoritär Dissens-und-Risiko-vermeidenden Politikstil mit schwach ausgebildeten Standpunkten, aber mit ausgeprägtem Opportunismus im Hinblick auf wechselnde Wählerpotentiale und Medientrends sprechen. Der Politiker wird zum permanenten Demoskopen, zum Wahlschnüffler in eigener Sache.
Der entscheidende Grund für diese Neuorientierung im Politikstil sei im Phänomen des "gravierenden Aufmerksamkeitsverlusts für die großen politischen Linien und komplexen Sachthemen" zu finden. Im Siedepunkt des Medienstandorts Berlin habe die Bundesregierung und die Bundespolitik mit der professionellen Nachrichtenbeschleunigung, der inflationären Direktberichterstattung und der wachsenden Konkurrenz zwischen seriösen und Boulevard-Medien zu kämpfen. Reaktionsfähig auf den ständigen medialen Druck sei allein der neu verzahnte, hochsensible und hochflexible Medien-Politik-Komplex. Er habe das alte Koordinatensystem von Links und Rechts hinter sich gelassen und das ausgetrocknete Reservoir der Parteimitglieder und Stammwähler überholt.
Immer weniger gehe es um Inhalte, dagegen drängten sich zunehmend Fragen einer generellen politischen Stilistik auf. Im hektisch-nervösen Tagesgeschäft der Medien, in ihrer "unsortierten Transparenz", werde solide, kritische Aufklärung und langfristige Beobachtungen von politischen Handlungszusammenhängen sehr oft durch unseriöse Oberflächenberichterstattung und Boulevardisierung ersetzt, um das öffentliche Stimmungsbild sowohl mit griffigen Thesen wie mit vorschnellen Personalisierungen zu beeinflussen. Die "Kanzlerberichterstattung" sei ein Szenario für diese aktuelle von politischem Infotainment, bei dem die Akteure wohl oder übel mitspielten. Es gehe dabei um das Muskel- und Kräftespiel der Macht, um die unterhaltsame Aufbereitung der Alternativen, mit Partnern und Gegnern zusammenzuarbeiten oder zu brechen, die Macht zu mehren oder zu mindern.
Beim "Medienkanzler" konzentrieren sich die Medien auf das Bild der Machtspitze, die sich mit parteiexternen Beratern und Medienleuten zu einem "zweiten faktischen Entscheidungsmechanismus" entwickelt hat, dem die Ebene der Themenfindung und der Gesetzgebung, der "Legitimationsapparat" von Parteitagen und Parlamentssitzungen deutlich nach- und untergeordnet wird, sowohl in der politischen Praxis wie auch in der Medienberichterstattung. Auf diese Weise arbeiten die politische Spitze und die Medien einander gezielt zu, um das Problem der Aufmerksamkeitsverlustes in der Informationsgesellschaft speziell für das Feld der Politik zu kompensieren - durch das personalistische Macht-Spiel-Infotainment. Vertrauen ist der Spaß an der Durchsetzung. Wer hätte das gedacht?
Die Ära des Medienkanzlers und die Wahl am 22. September
Die schädlichen Nebeneffekte dieses von Schröder praktizierten Modell sind Meng nicht entgangen: Es ist typisch für Schröder, dass die von oben angebotenen Zielvorgaben und Handlungsschritte massiv in die restliche Substanz von Parteien, Fraktionen und parlamentarischen Auseinandersetzungen eingreifen. Dabei sind sie verhandlungstaktische Masse. Durch die hierarchische Setzung werden interne Konfrontationen zugleich erzeugt, von Machtstellvertretern gezielt als Reibungsverluste durch Abweichungen behandelt und um der Außenwirkung willen zunächst, so lange es geht, unter den Teppich gekehrt. Auf diese Weise wird aus vielen Themen des öffentlichen politischen Diskurses ein Tabu im Container. Sachfragen, Positionen, Einstellungen und Einwände werden zu schnell zum Problem mangelnder Regierungsloyalität. Die Beteiligten können sich durch sachliche Argumentation diesem Machtspiel kaum noch entziehen.
Andererseits erscheint die von der Regierung derart massiv gesteuerte Diskursvermachtung nach außen als mühevolle Kleinarbeitung von programmatischen Einzelpunkten und vor allem als eine taktierende Rücksichtnahme gegenüber möglicherweise wahlentscheidenden Bevölkerungsschichten. Im Falle des Einsatzes von Afghanistan schlug das Geschäft, entschiedene Kriegsgegner durch Fraktionsgespräche, Begleitbeschlüsse, Protokollnotizen umzustimmen, teilweise fehl. Daraufhin musste Schröder sein für ihn typisches Wechselbad zwischen "konsensueller Nachbearbeitung" und machtpolitischer "Zuspitzung" inszenieren: Der Einsatz der Vertrauensfrage und damit die Frage nach dem Erhalt der Koalition brachte den Akzent der medial orientierten machtpolitischen Bearbeitung von wichtigen Entscheidungen auf den Punkt: Die rot-grüne Mehrheit im Parlament bedeutete zwar den Sieg, aber aus der Sicht der konservativ-liberalen Opposition erschein dieser als ein einsamer Pyrrhus-Sieg eines Kanzlers, der sich durch bevormundende Zielvorgabe und massiven Zwang die Loyalität monologisch beschafft hatte. Allerdings möchte man gegen Meng einwenden, dass er die Abgeordneten zu stark idealisiert. Es könnte sein, dass erst der Internet-Parlamentarier genau die Fitness besitzt, auf das System des gewieften Medienkanzler zu reagieren und den gelegentlich nötigen Widerstand zu leisten.
Der 22. September wird auch ein Tag der Entscheidung darüber sein, ob die neue Medienregentschaft des Kanzlers Schröders die Wähler hinreichend ausreichend mobilisieren und überzeugen konnte. Dass die gute alte Tante SPD längst entkernt und zu einem abstrakten Netzwerk von Gefolgsleuten und Botschaftern Schröders umfunktioniert wird, das als meinungsforschendes "Frühwarnsystem" für die Mehrheitsbeschaffung in der Gesellschaft agieren soll, dass Schröders eigenes Programm nur seinen Namen trägt und um seine Person kreist, bestätigt nur vorgetragene Diagnose von der "Medienkanzler"-Politik. Ähnliches gilt von Fischers "Außenministerpartei", die ihre Fundis endgültig los ist.
Wie sagte Schröder so schön: "Bei der Partei, die sie gewählt haben, wollen die Wähler nicht dieselben Streitereien, die sie zu Hause im privaten Umfeld ständig erleben." Prima. Jetzt brauchen wir nur noch eine Erklärung, warum von oben verordnete Experten-Vorgaben alternativenlos gut sind. Wegen der blühenden Medienlandschaften?