"Der Klassenbegriff ist planmäßig zerstört worden"

Seite 4: Konzentriertes Eigentum und Arbeitszwang

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Zum großen Rahmen und Hintergrund der Konflikte, über die wir hier sprechen, gehört die extreme Konzentration von Eigentum. Sie sagen, es gab ein "Ursprungsereignis des Frühkapitalismus" im 16. Jahrhundert in England, als die Gemeindeäcker von mächtigen Adligen enteignet wurden und die Vertriebenen in der Folge in ein System des "Arbeitszwangs" gerieten. Was geschah damals?

Bernd Stegemann: Das ist die berühmte Urgeschichte des Kapitalismus, die Karl Polanyi in "The Great Transformation" beschrieb. Also: Es gab eine große Nachfrage nach englischer Wolle aus Oberitalien. Da war viel Geld, die haben viel für die englische Wolle bezahlt. Daraufhin haben die englischen Adligen gesagt: Wir müssen mehr Wolle produzieren und darum müssen wir mehr Schafe halten. Mehr Schafe brauchen aber mehr Land, und um das zu bekommen, wurden die Gemeindeäcker eingezäunt und die Zäune mit Waffengewalt verteidigt. Es hieß: Das gehört jetzt den Schafen und nicht mehr den Menschen.

Es gibt aus dieser Zeit das berühmte Pamphlet "Schafe fressen Menschen". Dadurch wurden viele Menschen ihres natürlichen, gemeinschaftlichen Lebensraumes beraubt. Sie wurden landlos, obwohl sie vorher keine Eigentümer waren, aber eben Teil einer Gemeinschaft, die Eigentum hatte. Sie zogen dann als Bettler, Vagabunden, Räubertruppen oder als Schauspieler durch das Land und sammelten sich zum Großteil in London. Dadurch entstand ein großes Lumpenproletariat aus rechtlosen, landlosen Menschen.

Als Reaktion darauf wurden dann die Arbeitshäuser gegründet, eine Mischung aus Wohltätigkeit und brutaler Disziplinierung. Das war eine große Bewegung in England: Arbeit als eine sinnlose Form der Bestrafung. Und daran dockte dann die Industrialisierung an. Die nutzte, mit der Erfindung der Maschinen, diese Arbeitskraft für renditeträchtige Unternehmen. Das ist die entscheidende Vorgeschichte für die Industrialisierung. Mit bestehenden Gemeindeäcker-Strukturen hätte die Industrialisierung gar nicht funktioniert, weil niemand freiwillig in die Fabriken gegangen wäre.

Und da kann man vielleicht den Bogen zur Gegenwart schlagen.

Bernd Stegemann: Da fällt einem natürlich sofort der Niedriglohnsektor durch Hartz IV ein: Den Leuten wird eine Sicherheit weggenommen und dadurch werden sie gezwungen, sich in Arbeitsverhältnisse zu begeben, die sie sonst niemals angenommen hätten.

Am Ende Ihres Buches heißt es: "Die Argumente für den Liberalismus sind schal geworden, wenn mit ihnen gleichzeitig Menschenrechte und Kapitalrechte begründet werden." Sie sagen, unsere Zeit brauche "eine neue Aufklärung". Ist das das eigentliche Projekt von "Aufstehen"?

Bernd Stegemann: (lacht) Ja, natürlich! Diese Refundamentalisierung ist verhängnisvoll. Man muss, glaube ich, niemandem erklären, dass eine Gesellschaft, in der die Spaltungen immer tiefer werden, nur noch Gewalt produziert. Und die Gewalt nimmt ja auch zu in den westlichen Gesellschaften. Auf der anderen Seite gehen viele Erklärungsmuster in die falsche Richtung. Kapitalrechte werden mit moralischen Argumenten verteidigt, mit denen man eigentlich Menschen verteidigen müsste. Und dann ist man natürlich auf einer schiefen Ebene: Reichtum und Armut klaffen immer weiter auseinander, von Jahr zu Jahr. Auch in Deutschland werden die Reichen jedes Jahr ein paar Prozent reicher, und das untere Drittel sinkt immer tiefer.

In Frankreich gehen seit einigen Wochen die Menschen auf die Straße, Stichwort Gelbwesten. In Deutschland ist so etwas nicht abzusehen. Wie erklären Sie sich das?

Bernd Stegemann: (seufzt) Das ist sicherlich auch ein Temperamentsunterschied. Die Franzosen haben ja 1968 einen großen Generalstreik auf die Beine gestellt. Mit ihrer französischen Revolution im Hintergrund sind sie, glaube ich, ein ganz anders entflammbares Volk.

Wo würden Sie dann einen Weg für Deutschland sehen?

Bernd Stegemann: Ich glaube, solange diese schwarz-grüne Erzählung - "eigentlich ist der Kapitalismus eine prima Sache, wenn jeder Einzelne sich moralisch verhält" - so dominant bleibt, ist es unmöglich, etwas zu verändern. Solange es noch so viele gibt in den privilegierten Berufen, in den besseren Wohngebieten, Schulen und so weiter, die zugleich auch die Meinungsführerschaft haben in den Zeitungen, im Fernsehen und im Internet, solange dieses Milieu die Erzählung schreibt, also die "Robert-Habeck-Erzählung", solange wird sich im Sozialpolitischen nichts verändern.

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