Der Mitmensch ist nicht die Bedrohung

Der Coronavirus rammt einen Keil zwischen die Menschen, denn jeder Mensch wird plötzlich zu einer potentiellen tödlichen Bedrohung. Dies birgt die Gefahr, dass eine lebenswichtige menschliche Eigenschaft gelähmt wird

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Um der schwer einzuschätzbaren Bedrohung des Corona-Virus Covid-19 mit seiner hohen Ansteckungsgefahr zu begegnen, die jeden Menschen zu einem möglichen Krankheitsträger machen, gibt es im persönlichen Umgang in der aktuellen Situation zwei Möglichkeiten: Wir können radikal möglichst jede Verbindung zu den Menschen abbrechen und uns auf eine Position des "Jeder für sich" zurückziehen oder auf gelebte Solidarität und Altruismus setzen.

Aber ist Letzteres nicht naiv? Zeigen nicht schon die grassierenden Hamsterkäufe, die mit einer "Ich bin mir selbst der Nächste"- und "Nach mir die Sintflut"-Haltung die Regale ausräumen, ohne Rücksicht darauf, dass die nächsten Einkäufer leer ausgehen, dass gerade in Notlagen oder Katastrophen Thomas Hobbes recht hat und der Mensch ein egoistischer Unmensch ist?

Unmenschliche Egoisten in New Orleans

Ein Beispiel, das noch tief im kollektiven Unterbewusstein verankert ist und zu beweisen scheint, dass Katastrophen die schlechtesten menschlichen Eigenschaften zu Tage fördert, ist der Hurrikan Katrina, der 2005 über New Orleans hereinbrach. Eine schockierte Gouverneurin klagte damals: "Am meisten erzürnt mich, dass solche Katastrophen oft die schlechtesten Seiten der Menschen offenbaren." Von Raubüberfällen, Vergewaltigungen, Autodiebstählen und Plünderungen war immer wieder die Rede. Von Schüssen auf Rettungshubschrauber. Und nicht zuletzt von zahlreichen Morden.

Der Superdome, in dem 30.000 Menschen Unterkunft gefunden hatten, war der Inbegriff des unmenschlichen Schreckens. Der Bürgermeister gestand fassungslos, dass dort Hunderte von bewaffneten Gangmitgliedern vergewaltigten und mordeten. Der Polizeichef sprach sogar von vergewaltigten Babys. Berichte bezifferten die Zahl der dortigen Toten auf gut 200.

Die Gouverneurin schickte tausende Soldaten der Nationalgarde ins Krisengebiet, die die ausdrückliche Erlaubnis hatten, auf Plünderer zu schießen. 1500 Polizisten brachen ihre Hilfs- und Rettungsaktionen sofort ab, um der entfesselten Unmenschlichkeit Herr zu werden. Aber trotz aller Medienberichte, gab es tatsächlich kaum Unmenschlichkeit. "Viele der Medienberichte, insbesondere über zügellose Gewalt im Superdome, erschienen vollkommen unbegründet zu sein", befand der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des US-Repräsentantenhauses im Jahr 2006. Im Superdome waren tatsächlich nicht 200, sondern sechs Tote zu beklagen. Vier starben an natürlichen Ursachen, einer an einer Überdosis, und ein Mensch hatte Selbstmord begangen. Der Polizeichef von New Orleans gestand später, dass "die allgemeine Reaktion der Einwohner von New Orleans überhaupt nicht mit dem von den Medien beschriebenen Bild von allgemeinem Chaos und Gewalt übereinstimmte."

Die Geschichten über heldenhafte Helfer sind zahlreich. Stellvertretend sei hier auf das Buch "Heroes of Hurricane Katrina" von Allan Zullo verwiesen. Es präsentiert zehn Menschen, die ihr Leben riskierten, um andere - oftmals ihnen unbekannte Menschen - zu retten. Auch beeindruckend: Ein Großteil der medizinischen Belegschaft blieb in den Krankenhäusern bei den Patienten. Tatsächlich war ein beträchtlicher Teil der Bürger von New Orleans nicht mitleidlose Egoisten, die über Leichen gingen, sondern spontane Altruisten.

Menschen in Katastrophen

Detaillierte Studien über das Verhalten von Menschen in Katastrophensituationen offenbaren, wie Menschen sich nicht entsprechend unserer Hollywood-geschwängerten Vorstellung, sondern in der Realität verhalten. In Katastrophenfällen warten Menschen nicht ohnmächtig auf Hilfe, sondern bilden stattdessen spontan selbst Gruppen, um möglichst viele Menschenleben zu retten. Eine Untersuchung ergab, dass "ein Großteil, wenn nicht gar die meisten der ursprünglichen Unterbringung, Essen, Hilfe, Rettung und Verletztentransporte zu den Krankenhäusern von den Überlebenden durchgeführt wurde".

So widerspricht gerade immer wieder die Hilfsbereitschaft der freiwilligen Helfer dem Stereotyp des extremen Egoismus. Besonders beeindruckend beispielsweise, dass sich im Jahr 1918, als das Spanische Fieber allein in den USA eine halbe Million Menschen tötete, 1.500 Krankenschwestern freiwillig meldeten, noch bevor ihre Arbeit überhaupt bezahlt werden konnte.

Solidarität organisieren!

Alle Menschen sitzen heute im selben Boot. Jeder steht gerade vor mehr oder minder massiven Organisationsaufgaben und teils existentiellen Problemen. Jeder muss in dieser unbekannten Situation improvisieren. Weil alle das Problem teilen, liegt die Idee nahe, eine Nachbarschaftshilfe zu organisieren. Eine Solidargemeinschaft im eigenen Haus, in der Straße, im Dorf, im Stadtviertel. Wo, wie und was genau geholfen werden muss, ist jeweils von Situation und Umfeld abhängig. Am besten sollte daher jeder in seinem persönlichen Umkreis fragen: Wer braucht etwas dringend?

Der ältere Mann, der alleinstehend Angst hat, sich unter Menschen zu wagen und den dringend benötigten Einkauf zu tätigen. Die alleinerziehende Krankenschwester, die nicht weiß, wie sie jetzt Kind und Beruf in Einklang bringen kann. Der Selbstständige, der von heute auf morgen plötzlich vor massiven finanziellen Schwierigkeiten steht. Die Abiturientin, die in der engen Stadtwohnung keinen ruhigen Arbeitsplatz hat und nicht weiß, wo sie lernen kann, sobald die Schließung aller Cafés angeordnet werden sollte. Die Eltern, die sich organisieren, damit drei, vier befreundete Kinder reihum gemeinsam die Vormittage verbringen und so die Eltern punktuell entlastet werden. Der Mensch, der dringend einen allgemeinen medizinischen Rat braucht, weil er keinen Termin beim Hausarzt erhält. Der Mensch, der dringend Werkzeug oder ein Auto ausleihen möchte und der Einsame, der vielleicht ein aufmunterndes Wort braucht.

Und nicht zuletzt: Bei all dem Stress. Geteilter Stress ist halber Stress. Auch auf der Straße oder im Supermarkt. Ein Lächeln entspannt und ist entspannend. Und ein Lächeln ist ansteckend. (Höflichkeit und gute Laune ebenfalls).

Ansteckung

Man sollte die genannten kleinen Schritte und Zeichen der Solidarität in ihrer Auswirkung nicht unterschätzen, denn nicht nur ein Lächeln ist ansteckend. Altruismus ist ebenfalls ansteckend.

Beginnen wir mit einer netten Geschichte: Lynn Williard kellnerte in einem Restaurant in Port Richmond (USA), als ein Paar ihre Rechnung für das Mittagessen beglich und zugleich für einen weiteren Tisch zahlte. Die beiden baten lediglich darum, den anderen Gästen nichts von der Geste zu sagen, bevor sie das Restaurant verlassen hatten. Die Kellnerin ging anschließend zum nächsten Tisch und erklärte den verdutzten Gästen, dass ihr Essen bereits bezahlt sei. Die Folgen dieser Handlung waren unvorstellbar. Fünf Stunden erlebte das Restaurant den Schneeballeffekt einer großzügigen Tat. Ein Tisch nach dem nächsten lud spontan einen weiteren Tisch ein. Kein Gast fragte dabei auch nur nach der Summe der zu begleichenden Rechnung des unbekannten Tisches.

Altruismus ist ansteckend

Eine Reihe von wissenschaftlichen Studien beweist, dass Altruismus ansteckend ist. Wenn Autofahrer beispielsweise sehen, dass jemand am Straßenrand einem anderen Autofahrer bei einer Reparatur behilflich ist, verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst wenige hundert Meter weiter anhalten, um dort einem Autofahrer beim Reifenwechsel zu helfen. Wenn Menschen die Spendierbereitschaft anderer erleben, erhöht sich ihre eigene Bereitschaft, großzügig zu sein, um sage und schreibe 50 Prozent.

Soziale Ansteckung zieht sogar noch weitere Kreise als den direkten Freundes- und Bekanntenzirkel. Nicholas Christakis und James Fowler (Universität Yale und San Diego) ließen Fremde per Zufallsprinzip miteinander interagieren. Dabei stellten sie fest, dass altruistisches und kooperatives Verhalten sich über drei Stufen ausbreitet. Der Altruismus eines Menschen hat also nicht nur Auswirkungen auf die hierdurch direkt erreichte Person, sondern sogar auf den Freund einer Freundin dieser Person.

Lebensrettende Ansteckung

Altruismus kann einen menschlichen Schneeballeffekt auslösen. Hierzu ein beeindruckendes Beispiel: Im Jahr 2007 ließ sich in den USA ein junger Mann als Organspender registrieren. Ohne Erwartung irgendeiner Gegenleistung spendete er einer unbekannten Frau seine Niere. Daraufhin entschied sich deren Mann, der aus medizinischen Gründen nicht als Spender für seine Frau infrage gekommen war, selbst einer unbekannten Person seine Niere zu schenken.

Als eine junge Frau daraufhin durch seine Niere gerettet wurde, bot deren Mutter ihre eigene Niere zur Spende an. So setzte sich eine Kette von Organspenden quer durch die USA fort, zu der niemand gezwungen war. Allein die Spende des ersten Mannes setzte unglaubliche 22 erfolgreiche Nierentransplantationen in Gang.

Wie es in den Wald ruft, so schallt es heraus

"Wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen kooperieren, dann ist die Kooperation jedes Einzelnen hoch; wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen nicht kooperieren, dann kooperiert tatsächlich keiner." So formuliert der Wirtschaftswissenschaftler Erich Fehr eine zentrale Grunderkenntnis über die Natur des Menschen.

Nur wenn man das Ansteckungspotential von Altruismus erkennt und realisiert, wie entscheidend es ist, welches Verhalten die Mitmenschen erwarten (und entsprechend reagieren), wird die Bedeutung der Frage mehr als deutlich, welches Verhalten man jetzt wählt: den Rückzug auf sich selbst oder die Wendung zu einem gelebten Miteinander, in dem man den Anderen nicht einzig als potentiellen Krankheitsträger sieht, sondern als Mitmenschen.

Die missverstandene soziale Isolation ist nicht das Gegenmittel gegen eine Verängstigung. Die gelebte Gemeinschaft ist es.

Eine Bitte

Hängen Sie einen Zettel in den Hauseingang, um alle Mitbewohner erreichen und sich gemeinsam organisieren zu können. Tauschen Sie Mobiltelefonnummern aus. Improvisieren Sie Nachbarschaftshilfe. Und falls Sie diese Vorschläge für richtig halten, erlaube ich mir die Bitte, dass Sie diese teilen!

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".

Benutzte Literatur:
Christakis, N. A. und Fowler, J. H.: Die Macht sozialer Netzwerke. Wer uns wirklich beeinflusst und warum Glück ansteckend ist.
Precht, Richard David: Die Kunst, kein Egoist zu sein. Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält.