Der Mythos der Informationsrevolution

In Lateinamerika bleibt dem größten Teil der Bevölkerung der Zugang zu Telefon und Internet versagt

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Seit zwei Jahrzehnten entwickeln sich die Informationstechnologien explosionsartig. Die Nachfrage nach immer besseren Kommunikationsmöglichkeiten steigt im Zuge der Globalisierung, der Integration der Weltwirtschaft und des Übergangs von der Industrie- zur Informationsgesellschaft. Wissen, in Information umgeformt, bestimmt die Dynamik von Unternehmen, Nationalstaaten und Gesellschaften. Symbol für diese Entwicklungen ist das Internet. Lateinamerika läuft - trotz hoher Wachstumsraten auf diesem Sektor - Gefahr, bei der Adaption der Informationstechnologien nicht mit den Industrieländern mithalten zu können. Auf dem ganzen Kontinent gibt es im Schnitt weniger als 10 Telefonleitungen pro 100 Einwohner und Internetanschlüsse außerhalb der urbanen Ballungsräume sind eine Rarität. Trotzdem gibt es in einigen Ländern auch hoffnungsvolle Beispiele.

Da draußen tobt ein Krieg, alter Freund, ein Weltkrieg. Und es geht nicht darum, wer die meiste Information hat, sondern darum, wer kontrolliert die Informationen, was wir sehen und hören, wie wir arbeiten, was wir denken. Es geht alles nur um Information.

‚Cosmo' im Film ‚Sneakers'

Die UN-Kommission für Lateinamerika, CEPAL, strebte Ende der 80er Jahre für Lateinamerika 20 % Telefondichte am Ende des Jahrtausends an. Davon ist der Kontinent jedoch noch weit entfernt. Die mittlere Dichte betrug 1996 ca. 9,8 % (zum Vgl.: EU: 41,4 %). In Guatemala, Bolivien und Paraguay sind es nur zwischen drei und vier Prozent, während z.B. Argentinien, Costa Rica, Panama, Uruguay und Venezuela 12 bis 20 % erreichen. Zu den Unterschieden zwischen den einzelnen Staaten gesellt sich noch die gravierende Zentrum-Peripherie-Differenz, die zwischen städtischen und ländlichen Regionen und selbst zwischen Vierteln großer Städte existiert. Die neuen Kommunikationstechniken kreieren gerade in Ländern der Dritten Welt eine "Geographie der Zentralität", wie es die Soziologin Saskia Sassen nennt. Zentralismus gehört in Lateinamerika ohnehin zum spanischen Erbe. Nach den Zentren der Macht richtete sich die Infrastruktur aus. Telefon- und Datenleitungsnetze sind auf die Haupstädte/ Zentren ausgerichtet. Eine Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten könnte auch dazu beitragen, die Landflucht zu mindern.

Die meisten Regierungen der lateinamerikanischen Staaten betrachteten wie die Oberschicht den Telekommunikationssektor immer nur als ‚Goldesel'. Die Asymmetrie zwischen den nach Lateinamerika hereinkommenden Gesprächen (für die kassiert wird) und den herausgehenden (für die bezahlt werden muss) ist so groß, dass kaum Neigungen bestanden, in die lokale Infrastrukur zu investieren. Es wurde nur der Geldregen aus dem Ausland abgeschöpft. Die Entwicklungsländer insgesamt erhielten so rund zehn Milliarden Dollar jährlich von den Industrienationen. Ein Grund, warum die USA aus diesem ‚Accounting-Rate-System', das den US-amerikanischen Netzbetreibern zuletzt ein Defizit von sechs Milliarden Dollar jährlich bescherte, ausgestiegen sind. Nebeneffekt: Durch den Wegfall dieser Quersubventionierung des lokalen Fernsprechverkehrs werden die lokalen Gesellschaften geschwächt und die ‚Global Players' - hauptsächlich US-Gesellschaften - können auf den Markt drängen.

Der überwiegende Teil der Menschheit weiß noch gar nichts von der Existenz der neuen Informationstechnologien. Er verfügt zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal über die Errungenschaften der industriellen Revolution: Strom, fließendes Wasser, Krankenhäuser, Autos etc. Aber auch die Qualität und der Service der vorhandenen Telekom-Dienste sind oft minderwertig und die Wartezeiten auf einen Telefonanschluß inakzeptabel. Die Deregulierung und Liberalisierung der Märkte sowie die Privatisierung der staatlichen Telefongesellschaften sollten Abhilfe schaffen.

Privatisierung in vollem Gange

Wie fast überall auf der Welt wurde in Lateinamerika der Telekommunikationssektor über Jahrzehnte als natürliches Monopol des Staates betrachtet. Das änderte sich zu Beginn der 90er Jahre. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang der lateinamerikanischen Staaten in den 80er Jahren und dem damit verbundenen Investitionsmangel in neue Technologien erodierte das Monopol unter anderem aufgrund folgender Tendenzen:

  1. Auf dem Sektor der Endgerätehersteller (Telefone etc.), beim Mobilfunk und bei den Satellitenverbindungen kam es zu einer Beseitigung der institutionellen und ökonomischen Markteintrittsbarrieren.
  2. Die Telekommunikation vermischte sich mit anderen Informationstechnologien. Unternehmen engagieren sich heute sowohl in der Telekommunikation, wie auch im Radio-, TV- oder Internetbereich.
  3. Verstärkter weltweiter Wettbewerb nicht nur bei der Hardware, sondern auch im Angebot von Dienstleistungen.
  4. Lokale Telefonnetze müssen sich immer mehr dem Konkurrenzdruck drahtloser Netze aussetzen.

Außerdem kamen, nachdem die Militärregimes abgedankt hatten, fast überall ökonomisch denkende Technokraten an die Macht. Die Folge war, dass zu verschiedenen Zeitpunkten in vielen Ländern weitangelegte Deregulierungs- und (Teil)Privatisierungsmaßnahmen einsetzten. Ein genereller Trend zeichnet sich ab, nämlich die staatlichen Telekommunikationsunternehmen in regionale und nach Angebot (Festnetz, Mobilfunk) getrennte Gesellschaften aufzuspalten und sie dann zu verkaufen.

Netz-Zwerge im "globalen Dorf"

Ein Interesse, durch die weitere Technisierung der Kommunikation, den Zugriff auf Information und Wissen zu erleichtern und somit den "Prozess der Entwicklung komplexer Gesellschaften" zu fördern (Niklas Luhmann) und die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Länder zu steigern, bestand und besteht bei den lateinamerikanischen Eliten nicht oder nur begrenzt. Den Übergang zur Informationsgesellschaft, die - egal wie man über sie denkt - nicht mehr aufzuhalten ist, wollen sie nicht, bzw. nur in profitablen Bereichen - zum Beispiel E-Commerce - mittragen, so dass Lateinamerika Gefahr läuft, auch hier den weltweiten Anschluss zu verpassen. Dies allerdings nicht im selben Maße wie Afrika, wo kommunikationstechnisch wieder weiße Flecken auf den Landkarten auftauchen. Anfang 1999 betrug der Anteil Lateinamerikas und der Karibik an der Gesamtzahl der weltweiten Internet-Hosts nur 1,13 % (rund 487.000). Dabei sind die Möglichkeiten des Wissenstransfers durch die neuen Technologien enorm. So könnte man - besonders im akademischen Bereich - das Nord-Süd-Gefälle verringern. Denkbar wäre, dass zumindest die Schwellenländer industrielle Entwicklungsstadien überspringen könnten, und mit den Industrienationen zeitgleich die neuen Hochtechnologien nutzen. Ohne breiten Anschluss an die neuen Kommunikationsformen werden die Staaten Lateinamerikas wirtschaftlich noch weiter zurückgeworfen.

Die Hoffnung in Bezug auf das Internet besteht für Lateinamerika darin, dass die nationalen Regierungen und Eliten höchstens noch einige Rahmenfaktoren beeinflussen, aber kaum noch steuernd eingreifen können, da die Motoren hinter der Dynamik dieser Entwicklung die ‚Global Players' sind. Eine Entwicklung, die in Europa eher Befürchtungen als Hoffnung auslöst. Denn möglicherweise werden neue Abhängigkeiten geschaffen (Technologieimperialismus) - und schon heute ist zu sehen, dass westliche Werte und die englische Sprache im Netz dominieren. Nur rund 5 % der Inhalte im Internet sind momentan auf Spanisch oder Portugiesisch verfasst. Das führt aber nicht zwangsläufig zum Verlust kultureller Werte. Wenn es eine ‚kommerzialisierte Allerweltskultur' gibt, dann nicht erst seit dem Internet, sondern schon mit Beginn des Fernsehens und seit der Verbreitung von Mc Donalds.

Mit den neuen Medien verändern sich natürlich schneller als zuvor Weltbilder, die Wahrnehmungen von Zeit und Raum und die Wertvorstellungen. Aber es verringert sich eben auch der Wissensvorsprung staatlicher Institutionen und multinationaler Konzerne. Nichtregierungsorganisationen - hauptsächlich im Umweltbereich - haben durch den blitzschnellen Informationsaustausch inzwischen eine große Schlagkraft entwickelt. So hat der Internetprotest der kolumbianischen U'wa-Indianer gegen den US-amerikanischen Ölkonzern Oxy gezeigt, dass das Netz zur politischen Kommunikation und Organisation beitragen kann, zu einer Revitalisierung der Demokratie. Auch der Fall des peruanischen Schriftstellers Julio Mendívil, der in seiner Heimat zu Unrecht verhaftet wurde und nach wochenlangen Protesten, organisiert über das Internet und per Email, freikam, ist ein Indiz dafür.

Natürlich kann selbst eine funktionierende Cyberdemokratie niemals reales politisches Handeln ersetzen. Politik wird durch öffentliches Handeln erfahrbar (Parlamentsdebatten, Wahlsonntage etc.) und erhält so einen Teil ihrer Legitimation. Insofern könnte das Internet auch zur starken Verringerung der Teilnahme am realen politischen Leben - integraler Bestandteil der Demokratie - beitragen und im schlimmsten Fall zum Totengräber der Demokratie werden. Denn schon sein ‚Vorgänger', das Fernsehen, hat einen erheblichen Anteil am Rückzug der Menschen ins Private, wie eine Analyse Robert Putnams' in den USA beweist (in: The American Prospect, No. 24, 1996). Fernsehkonsum hat dort zu einem Viertel bis zur Hälfte den Rückgang gesellschaftlicher Tätigkeiten zu verantworten.

Keine Stimme für die Armen

In Lateinamerika gingen zuerst die Wissenschaftsorganisationen und Universitäten ans Netz. Politik und Wirtschaft folgten erst später. Ein regionales Projekt ist zum Beispiel das Red Hemisférica Inter-Universitaria de Información Científica y Tecnológica (ReDHUCyT). Es wird u.a. von der OAS) und von den Vereinigten Staaten finanziert. Eigentlich sollten in den letzten Jahren direkte Online-Verbindungen zwischen den lateinamerikanischen Ländern etabliert werden, doch die Verbindung über die USA ist immer noch am billigsten. Momentan stellt sich die Situation in ausgewählten Ländern folgendermaßen da:

In Argentinien wurden erst Mitte 1995 die ersten kommerziellen Domains angeboten. Doch dann holte das Land schnell auf. Die Anzahl der domains steigerte sie sich bis 1999 auf rund 69.000. Mit dieser Anzahl an Servern nahm Argentinien Anfang 1998 nach Brasilien und Mexiko den dritten Platz in Lateinamerika ein.

Brasilien ist die am stärksten vernetzte Nation Lateinamerikas.1 Zwischen 1991 und 1994 bestand zwar eine Anbindung ans World Wide Web, aber außerhalb des universitären Lebens geschah kaum etwas auf diesem Sektor. 1994/95 änderte sich die Situation schlagartig. Die Wirtschaft entdeckte das Internet für sich, gegenwärtig gibt es rund 117.000 Server. Aber auch eine bekannte Soap-Opera trug zum Erfolg bei. Als in einer ihrer Folgen eine arme Zigeunerin über das Internet einen Millionär kennen und lieben lernte, stieg die Teilnehmerzahl schlagartig an. Etwa eine Million Menschen nutzen das Internet heute. Brasilianische Steuerzahler hatten 1998 zum ersten Mal die Möglichkeit, ihre Steuererklärung vía Internet abzugeben. In Brasilien gibt es seit Juli 1993 in Recife auch das erste lateinamerikanische ‚freenet', bei dem sich die Bürger gebührenfrei einwählen können, um Informationen aus der Stadtverwaltung etc. abzurufen.

Chile, wo schon 1962 der erste Computer aufgestellt wurde, war 1987 das erste Land Lateinamerikas, das einer breiten Masse Zugang zu Email und Usenet bot. Seit 1991 war es ans Internet angeschlossen. Aber die acht nationalen Netzwerke haben keine einzige nationale Verbindung. Alle laufen seit 1992 über zwei Backbones in den USA, auch wenn sie geographisch nebeneinander liegen. Dieses Phänomen gilt für ganz Lateinamerika. 1998 gab es geschätzte 40-60.000 User bei einer Gesamtbevölkerung von 14 Millionen. Studien (Mendoza/ Alvarez de Toledo) zeigen auch in Chile, dass der typische Internetuser - er ist jung, männlich, sehr gut ausgebildet und mit hohem Einkommen - nicht dem Bevölkerungsdurchschnitt entspricht. In Chile haben schon 80 % der nationalen Verwaltungsstellen Homepages im Internet. Neuerdings können die Bürger auch hier ihre Steuererklärung per Internet abgeben. 22.000 haben davon 1998 Gebrauch gemacht. Allerdings sind die Nutzungsgebühren noch sehr hoch: Bei Entel, einer der größten Telekommunikationsgesellschaften des Landes, kostet das surfen pauschal monatlich umgerechnet 80 Mark, oder 21 Mark mit vier Freistunden, jede weitere Minute 9 Pfennig. Das kann sich kaum jemand leisten.

Die Geburtsstunde des mexikanischen Internet war die Vernetzung der Universität von Mexiko-Stadt mit den Technologieinstituten von Monterrey und Guadalajara Anfang der 90er Jahre. Aber 1995 setzte der Boom im Internet ein, als kommerzielle Anbieter es für sich entdeckten. 1998 zählte man schon rund 42.000 Server. Heute nimmt Mexiko nach Brasilien den zweiten Rang in Sachen Internet ein. Die Telefongesellschaften investieren in den Aufbau einer modernen Infrastruktur. ISDN-Breitband-Netze werden überall installiert. Die Universitäten wollen ein zweites Netz gründen, in dem auch Fernstudienmöglichkeiten angeboten werden sollen.2

Costa Rica hatte schon sehr früh Anschluss an das Internet gefunden, sogar über Satellit in die USA. Schon seit 1990 bestand ein internationaler Datenanschluss über das Bitnet-Forschungsnetz, 1993 erfolgte der offizielle Anschluss ans Internet. 1994 dann öffnete Radiográfica Costarricense - erweitert zum größten Provider des Landes - das Internet auch für private (1998: ca. 8.000) und kommerzielle Nutzer. Zeitgleich entstand CRNet, ein Glasfasernetz, das viele offizielle Einrichtungen miteinander verbindet und seitens des Staates stark gefördert wird. So könnte Costa Rica - wie gewünscht - tatsächlich zur regionalen ‚Internetvormacht' werden. Panama und Nikaragua gehen schon jetzt über Costa Rica ins Internet. Auch durch den Zuschlag für eine Niederlassung des Chipherstellers Intel will sich Costa Rica zum Backbone Zentralamerikas entwickeln. "Intel ist für Costa Rica der Kaffee des 21. Jahrhunderts", sagte der damalige Präsident Figueres.

Nicaragua, das als erstes Land Lateinamerikas einen Domain-Namen (.ni) erhielt, bekam 1988 von der OAS die Finanzierung für das erste Jahr im Internet und Hardware in Millionenhöhe geschenkt. Doch Streitigkeiten in der staatlichen Administration um die Verantwortlichkeit für das Projekt ließen es scheitern. Die heute rund 10.000 Internetanschlüsse des Landes laufen fast ausschließlich über private Provider und ein Tochterunternehmen der Telekom. In Nikaragua gibt es keine Glasfaserkabel. Um sich über Satellit in die Netze der globalen Betreiber Sprint, Globalnet oder MCI einzuwählen, müssen Nicaraguas Provider das 70fache dessen bezahlen, was es US-amerikanische Unternehmen kostet. Der Anschluss kostet $ 25 im Monat.

In El Salvador, wo nur fünf Prozent der Bevölkerung über einen Telefonanschluß verfügen, kostete der Internetzugang einmalig $ 800 bei einem durchschnittlichen Monatslohn von $ 150 (1996). In Panama dient das Internet seit seiner Einführung 1994 hauptsächlich den Interessen der US-Industrie, weniger den privaten Usern. Am Rande der Hauptstadt werden in steuerfreien Zonen sogenannte Teleports errichtet, wo Unternehmen jede Form von Telearbeit anbieten. So soll die Voraussetzung geschaffen werden, dass Panama sich zu einem Knotenpunkt des internationalen E-Commerce entwickelt. Ähnliches geschieht auch auf Jamaika.

Das peruanische Wissenschaftsnetz RCP - einer von drei großen Providern in Peru (Marktanteil 76 %) - bietet Internetanschlüsse zum Selbstkostenpreis - für $ 40 monatlich - an, um die Peruaner am weltweiten Informationsaustausch teilhaben zu lassen. Rund 80.000 nutzen momentan das Internet, nicht einmal 0,5 % der Bevölkerung. Das liegt vor allem an folgenden Tatsachen: Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei ca. $ 120 monatlich, während ein Telefonanschluß einmalig $ 177 kostet. Nur 44 % der Haushalte sind an das Stromnetz angeschlossen, auf dem Land 12 %. Die Telefondichte beträgt nur sechs Anschlüsse pro 100 Einwohner, in Huancavelica im Hochland sind es nur noch 0,27 auf 100. Um ‚allen' einen Zugang zum Internet zu ermöglichen, installierte RCP über 50 sog. ‚cabinas publicas', wo jeder gegen eine Monatsgebühr von $ 15 die PCs nutzen kann, inklusive drei Freistunden. Ein lobenswerter Ansatz, doch liegen die cabinas hauptsächlich noch in den vornehmen Bezirken der Hauptstadt. Das Modell wurde jüngst von El Salvador übernommen. Eher Hoffnung macht, dass seit Ende 1996 auch die 100.000 Ashaninka-Amazonasindianer einen Email-Anschluß und eine Website besitzen.

Cyberdemokratie

Die Verbreitung des Internet nimmt zahlenmäßig in Lateinamerika rasant zu, aber noch - und wahrscheinlich auch noch auf lange Zeit - gibt es zu viele Ausschlusskriterien, als dass von Cyberdemokratie gesprochen werden könnte. Dort wo die Telekommunikationskonzerne noch staatlich sind, ist die Infrastruktur schlecht entwickelt und das Internet kaum vertreten. Lange Wartezeiten - oftmals Jahre - auf Telefonanschlüsse und schlechte Qualität der Leitungen lassen meistens schon die Grundvoraussetzungen fehlen. Korruption und schlechter Service verstärken den Mangel. Auf dem Land ist die Verkabelung unzureichend. Dort wäre somit Mobilfunk die praktischste Lösung sowie globale Breitband-Datenübertragungssysteme auf Satellitenbasis. Doch die damit verbundenen hohen Investitionen will niemand tätigen. Die Preise für den Anschluss, für Hard- und Software sowie die Nutzungsgebühren sind enorm hoch und liegen oft über den durchschnittlichen Monatseinkommen. Selbst mit Zugangsmöglichkeit - wie im Falle der peruanischen cabinas publicas - bleiben viele Menschen außen vor: ihnen fehlen einfach die technischen Kenntnisse sowie die Sprachkenntnisse (Englisch, in ländlichen Gebieten oft auch Spanisch). Der Sozialwissenschaftler Juan Enríquez von der Harvard Universität meint deshalb sogar, dass das Internet die chancenlosen Bevölkerungsteile nicht stärker integriert, sondern im Gegenteil noch mehr marginalisiert: "Un ingeniero que hable inglés en la Argentina tendrá más en común con su colega de trabajo vía Internet en Detroit que con muchos argentinos". Vernetzung kann also auch ein Ausschlusskriterium sein.

Solange alle diese Faktoren sich nicht verbessern, bleibt die Vorstellung einer Cyberdemokratie mit besser informierten und politisch aktiveren Bürgern eine Wunschvorstellung (oder ein Alptraum, aus der Sicht mancher Regierender). Die Verheißungen des Internet - Freiheit, Allwissenheit und grenzenlose Kommunikation - bleiben vorerst Mythen. Der Nord-Süd-Konflikt wird nur um eine Variante reicher, den Gegensatz von vernetzten ‚informationsreichen' und nicht angeschlossenen ‚informationsarmen' Ländern. Die politischen Rahmenbedingungen müssen von den Regierenden geschaffen werden, zu den hohen Investitionen sind wahrscheinlich nur ‚Global Players' in der Lage, die dann aber auch ein deftiger Gewinn erwartet.3

Information will frei sein

Aber auch bei guter Ausbildung der Bevölkerung kann Informationsfreiheit eine Illusion bleiben. Die Organisation Reporters sans Frontiers hat eine Liste von über 20 Staaten veröffentlicht, die ihrer Bevölkerung den Zugang zum Internet verbieten oder einschränken. Da sie sich nicht völlig vom Internet abschneiden möchten, betreiben sie eine Art ‚Zwangsserver', über die nur zuvor kontrollierte Informationen abgerufen werden können. Neben China, Weißrussland und Birma findet sich dort auch Kuba.

Das Internet in Kuba steht - verständlicherweise - auf einer sehr niedrigen Ausbaustufe. Im sozialistischen Inselstaat bereitet das Internet den Funktionären zunehmend Unbehagen. Sie sehen sich in einem Dilemma: "Das Streben nach Modernisierung und technischem Fortschritt beißt sich mit dem Bedürfnis nach Kontrolle" (Bert Hoffmann). Dem Entwicklungsstreben steht die Angst vor Verbreitung oppositioneller Ansichten gegenüber. Dabei war es Fidel Castro selbst, der in den 80er Jahren im ganzen Land ‚Jugend-Computer-Clubs' gründen ließ.

Es gibt nur wenige Hosts und die auch fast nur in Havanna und Santiago. Der Zugang ist auf wenige Teilnehmer - meist wissenschaftliche Organisationen oder Ministerien - beschränkt. Die Universität von Havanna gewährt ihren Studenten Zugang zu Email (Anfang 1998 noch über zwei 286er für die ganze Uni, die oft außer Betrieb waren). Ein Account mit vollem Internetzugang kostet $ 260 pro Monat (Durchschnittslohn ca. $ 10). Man schätzt, dass es 20-30.000 PCs auf Kuba gibt - offizielle Angabe: rund 65.000 -, die einen Netzanschluss haben. Aber lediglich über rund 2.000 Computer hat man Zugang zum World Wide Web, der Rest taugt nur zu Email-Funktionen. Das US-Embargo verhindert zusätzlich die zahlenmäßig bedeutende Einfuhr von Hard- und Software. Sie gibt es fast nur por la izquierda (unter der Ladentheke). Solange die politische Situation sich nicht ändert, sogar offiziell die Angst vor dem Internet geschürt wird - in der Jugendzeitschrift Juventud Técnica (No. 285) lautete ein Titel ‚El lado oscuro de la informática' - wird Kuba weiterhin auf der Liste von RsF geführt werden.

Zur Cyberdemokratie ist es also noch ein weiter Weg. Wie in der Realität, war auch im virtuellen Raum der Krieg wieder schneller. Cyberwar gibt es schon und das nicht nur als Spiel. Die Guerilla in verschiedenen Ländern Lateinamerikas nutzt das Internet ausgiebig, um für ihre Sache zu werben und weltweite Unterstützernetzwerke zu konstruieren. Vorreiter waren die Guerilleros der mexikanischen EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) und ihre Unterstützer, die nach dem Beginn des Aufstandes 1994 in Chiapas ihre Erklärungen über das Internet verbreiteten, auch um die Informationsblockade seitens der meisten mexikanischen Medien zu umgehen. So konnten die Zapatisten weltweite Unterstützung für ihren Kampf mobilisieren und neueste Entwicklungen in Chiapas oft schon Minuten später weltweit bekanntgeben.

Auch die Guerilleros der MRTA (Movimiento Revolucionario Túpac Amaru) in Peru nutzten das Internet. Als es Weihnachten 1996 zur Besetzung der japanischen Botschaft in Lima kam, verbreiteten sowohl die MRTA wie auch der peruanische Staat ihre Standpunkte im Internet. Websites, Mailinglisten und Newsgroups werden inzwischen oft auch von den Geheimdiensten kontrolliert. So überwachte der peruanische Geheimdienst SIN mehrere Foren der Auslandsperuaner, um sich über ihre politischen Aktivitäten zu informieren. Die kolumbianischen Untergrundkämpfer der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) sind im Netz ebenso vertreten wie die inzwischen zur Partei umgewandelte URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca) in Guatemala.

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