Der Papst ist müde

Der römischen Kirchenleitung sind die Visionen abhanden gekommen - zum frommen Ungehorsam gibt es für bekümmerte Katholiken keine Alternative

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Spektakel wie der Papstbesuch in Deutschland haben mit Jesus von Nazareth und der Suche nach einem glaubwürdigen Christentum im dritten Jahrtausend nichts zu tun. Falls in diesen Tagen irgendein belangvoller prophetischer Einspruch - etwa eine Skandalpassage zum deutschen Rüstungsexportkomplex in der päpstlichen Bundestagsrede - zu vermelden sein wird, dürfen wir von einem Wunder sprechen. Ganz anders als vor einem halben Jahrhundert steht die römisch-katholische Weltkirche heute unter einem Pontifikat ohne Freude, Charisma und Visionen. Auf Außenstehende wirken die Inszenierungen des Klerikersystems wie ein letztes Herumgehampel vor dem Abtauchen in die Bedeutungslosigkeit.

Wirklich überzeugt von seinem traditionalistischen Kurs scheint aber auch Benedikt XVI. nicht mehr zu sein. Der Papst ist ob des Verlaufs seines Pontifikates, der explosiven Austrittszahlen in seinem Heimatland und seiner abgestürzten Beliebtheitsskala tief enttäuscht, was man menschlich gut verstehen kann.

Der Papst ist müde. Das haben am letzten Wochenende fast alle Kommentatoren seines Wortes zum Sonntag wahrgenommen. Viele TV-Zuschauer, so vermutete der Papst wohl richtig, fragen, ob es Gott überhaupt "gibt". Zeit zur Auseinandersetzung mit der modernen Kosmologie, Evolutionsbiologie oder Hirnforschung ließ das Sendeformat nicht. Also folgte ein Verweis auf die "Schönheit der Schöpfung" und - immerhin - auf die Begegnung mit Menschen (gerade auch mit ganz "einfachen Menschen").

Diese Vorschläge wurden demütig, aber auch leidenschaftslos vorgetragen. Hat der Papst zur vielbeschworenen "Gotteskrise" wirklich Bedeutungsvolleres zu sagen als die bösen Reformtheologen des Memorandums "Freiheit" und ihre 70.000 Unterstützer ?

Bekenntnis zum Stillstand der Ökumene: "Erwartet nichts!"

Die entscheidende Passage der - in strategischer Hinsicht allzu durchschaubaren - Fernsehansprache war freilich nicht der "Gottesfrage" gewidmet, sondern der Ökumene bzw. der Unmöglichkeit von Ökumene. Eine halbe Stunde ist in Erfurt für die Evangelischen reserviert, deren Gemeinde laut Kardinal Joseph Ratzinger und hernach laut Benedikt XVI. nicht als Kirche zu betrachten ist.

Der Papst kommentiert vorab, damit hinterher keiner enttäuscht daherkommen kann: "Wir erwarten keine Sensationen." Wie sollten "wir" auch? Nicht ein einziger konkreter Schritt hin zur Kirchengemeinschaft ist seit dem Aufbruch des letzten Konzils Wirklichkeit geworden, und seit Joseph Ratzinger in Rom Karriere gemacht hat, gibt es nur bittere Rückschläge zu beklagen. Die Zahl der ökumenischen Konferenzen und Papiere ist Legion. Die Zahl der substantiellen Fortschritte ist Null, soweit es das kirchenamtliche Rom betrifft. So kommt also der Pontifex, der große Brückenbauer, in das Land der Reformation und verkündet, ganz realistisch und vernünftig: "Erwartet nichts von Belang!"

Was aber soll die Welt von Kirchenleitern erwarten, die trotz der einen Taufe und der einen Bibel den gemeinsamen Tisch der christlichen Geschwister verbieten? Und was ist von eben solchen Kirchenleitern mit Blick auf die viel größere Oikumene - im ursprünglichen Wortsinn - zu erwarten, nämlich bei der Mitarbeit an einer vitalen Kommunikation von unterschiedlichsten Menschenkindern und Kulturen auf dem gesamten bewohnten Erdkreis? Das Katholische, der Blick auf das Ganze, ist in Rom abhanden gekommen. Wer sich von dort bezogen auf die kleine und große Ökumene etwas erhofft, darf warten - bis zum St.-Nimmerleinstag.

Meister Eckart und der römische Weltkatechismus

Die Reisestation Erfurt böte Benedikt XVI. Gelegenheit, neben Martin Luther auch den Dominikaner Meister Eckart ins Gedächtnis zu rufen. Eckart (ca. 1260-1328) steht für eine spannende Kirchengeschichtsepoche lange vor der Reformation. Er lehnte ein nur den theologisch gebildeten Lateinkundigen zugängliches "Wahrheitsmonopol" ab und predigte ganz bewusst in der Sprache der Leute. Seine Theologie von der innersten Gottesgeburt in jedem Menschen war mit dem Konstrukt einer elitären Priesterkirche unvereinbar und ist - auch in philosophischer Hinsicht - denkbar aktuell (Eckart wusste im Vorgriff schon: der objektivistische Dogmengott, den man "haben" kann, ist tot; er lässt sich nicht mehr reanimieren).

Die Kirchengeschichte des 2. Jahrtausends verlief nicht im Sinne dieses Lese- und Lebemeisters. Freie Christengeister, Laienbewegungen und Beginen, mit denen sich zu Eckarts Zeit eine kirchliche Emanzipation der Frauen den Weg bahnte, wurden verfolgt. Die klerikale Ideologie einer Zwei-Stände-Kirche, die gegenwärtig trotz des letzten Reformkonzils wieder durchgesetzt werden soll, verfestigte sich.

Siebenhundert Jahre nach Eckart gilt ein Theologe wie Karl Rahner in der römischen Kirche schon wieder als halber Ketzer (allen Ansätzen, die ein Gespräch mit dem Weltbild der Moderne eröffnen, wird es ähnlich ergehen). Der "neue" Weltkatechismus von 1993 vermittelt das Dogma - über den Menschen hinweg - genau im Sinne jener Inquisitoren, die Eckarts Lehre als gefährlich erachteten. Dass die Katechismus-Paragraphen im 3. Jahrtausend von keiner Menschenseele mehr verstanden werden, interessiert die Autoren nicht. Historisch-kritische Bibelforschungen, die mit den amtlichen Doktrinen zu Jungfrauengeburt oder Auferstehung nicht vereinbar sind, werden unterschlagen. Den islamophoben Rechts-Katholiken sei es ins Stammbuch geschrieben: Von einer Versöhnung der römischen Kirche mit der Aufklärung kann keine Rede sein (auch da nicht, wo man postmodern zugunsten des traditionalistischen Paradigmas theologisiert).

Joseph Ratzinger, von berufenen Mündern als der genialste Gegenwartstheologe gepriesen, ist maßgeblich mitverantwortlich für diese enge, ängstliche und bisweilen auch recht aggressive Geistigkeit. Rüdiger Safranski bescheinigt ihm "so was Zartes, Kindliches, auch Unschuldiges" (zit. Matussek: Das katholische Abenteuer, S. 159). Die Theologen, die ob ihrer freien Geistesregungen in der Kirche schlechte Erfahrungen gemacht haben, kennen auch eine ganz andere Seite von ihm.

Das unbiblische und illegale Machtsystem kommt in Erklärungsnot

Das im zweiten Jahrtausend verfestigte klerikale Machtsystem kommt heute freilich in große Erklärungsnöte, denn nicht alle Getauften können sich so feurig wie Matthias Matussek für die Priestermonarchie erwärmen. Der Papst ernennt Kardinäle, die allein wählen wiederum den nächsten Papst, und so reproduziert sich das "geistliche Imperium Romanum" (Küng) immer weiter fort. Was ein Kardinal sein soll, hat Jesus nicht gewusst, und in der Bibel kommt dieses Amt auch nicht vor.

Definition und Praxis der Machtausübung in der römischen Kirche widersprechen eklatant den Weisungen, die Jesus den Seinigen für den Umgang miteinander gegeben hat: keine Machtausübung über andere, kein Herunterwillküren, kein Oben und Unten unter Geschwistern (Markusevangelium 10,42-43). Zuletzt haben Hermann Häring ("Freiheit im Haus des Herrn") und Hans Küng ("Ist die Kirche noch zu retten?") aufgezeigt, dass das feudalistische Leitungssystem mit der biblischen und frühkirchlichen Ordnung schier unvereinbar ist (und folglich als illegal bewertet werden muss).

Es gab eine Zeit, da wurden die Bischöfe Roms von den Christen Roms gewählt. Es gab eine Zeit, da wies es der Bischof von Rom weit von sich, Befehlshaber über die Patriarchen anderer Kirchenprovinzen zu sein.

Unkontrollierte Machtausübung und Amtseinsetzungen ohne Teilhabe aller Gläubigen sind aber nicht etwa ein "demokratietheoretisches Problem". Sie stehen vielmehr für eine schwere Beschädigung der Kirchengestalt im gläubigen (bzw. theologischen) Sinn. Diese Beschädigung der Kirche bedarf dringend einer Heilung, die sich wieder an Jesus ausrichtet. Die Einsetzung eines Bischofs kann gemäß biblischer und altkirchlicher Ordnung nur rechtmäßig erfolgen, wenn alle Schwestern und Brüder in der Kirche an ihr mitwirken. Abgesehen von den unmenschlichen Bürden, die sehr betagten Amtsträgern auferlegt werden, hat das feudalistische System der Machtreproduktion verheerende Auswirkungen auf die geistigen Kraftfelder der Kirche.

Hubertus Halbfas beklagt in seiner exzellenten Schrift "Glaubensverlust" (2011), dass Theologen mit Charisma und intellektuellen Potenzen kaum noch Chance haben, einen Bischofsstuhl zu besteigen. Leute mit Eigensinn, die sich solidarisch mit ihren Gemeinden zeigen, sind nicht gefragt. In den römischen Personalakten steht Gehorsamsbereitschaft und genehmes Mittelmaß der Kandidaten an erster Stelle. Entsprechend fällt das Bild aus, das neunzig Prozent der Bischöfe derzeit in der Öffentlichkeit abgeben.

Traditionalismus und eine prophetische Kirche sind unvereinbar

Neuerdings hat John L. Allen ("Das neue Gesicht der Kirche", 2011) die Prognose gewagt, der traditionalistische Flügel werde sich in der römischen Weltkirche auf Dauer durchsetzen und seine "Orthodoxie" mit einer entschiedenen Haltung in politischen Fragen (globale Gerechtigkeit, Absage an Wirtschaftskriege) zugunsten der Ärmsten verbinden. Diese Prognose beruht im zweiten Teil auf einem großen Trugschluss und zeugt nicht von einem ausgeprägten historischen Bewusstsein.

Der römische Lehramtsdogmatismus und vorherrschende Paradigmen wie der augustinische Platonismus sind Produkte einer Staatskirchenepoche, in der sich die Christenheit vom kompromisslosen Widerstand gegen das Götzensystem von "Mammon, Macht, Krieg" längst verabschiedet hatte. Solange der Staat den sakramentalen Heiligungsapparat unbehelligt lässt, wird eine traditionalistische Kirchenorganisation niemals zum spürbaren Widerstand übergehen.

In meinem Buch "Die fromme Revolte" zeige ich auf, wie beharrlich Joseph Ratzinger als Kardinal, Papstanwärter und Pontifex gegen die Ökumene für Gerechtigkeit, Frieden und das Überleben auf dem Planeten polemisiert und im gleichen Atemzug den interkulturellen wie interreligiösen Weltdialog verzerrt als "Relativismus" dargestellt hat. Sein fast freundschaftlicher Umgang mit dem Kriegs- und Folterpräsidenten George W. Bush jun. steht in der neueren Kirchengeschichte einzig da.

Seit einiger Zeit sucht er zaghaft wieder Anschluss an die Friedens- und Gerechtigkeitsbotschaft sowie das globale Dialog-Ethos seiner unmittelbaren Vorgänger. Doch die Bilanz seines bisherigen Pontifikates besteht aus einem traurigen Versagen angesichts der Re-Installierung einer Welt-Kriegs-Unordnung und der jüngsten "Rettungspakete" zugunsten eines im Endergebnis massenmörderischen Finanzkapitalismus. Der laut vernehmbare Widerspruch des "Oberhaupts" von einer Milliarde Katholiken wurde in den entscheidenden Jahren verpasst!

Im Interviewband "Salz der Erde" bekennt Kardinal Joseph Ratzinger:

Wenn Zugehören zur Kirche überhaupt einen Sinn hat, dann doch nur den, dass sie uns das ewige Leben und so überhaupt das richtige, das wahre Leben gibt.

Es liegt auf der Hand, dass ein so individualistisches Himmels-Credo die Weltkirche nicht gerade auf den zivilisatorischen Ernstfall hin orientiert.

Im Übrigen ist es ein großer Irrtum, den Ansätzen einer anthropologisch gewendeten Theologie - von Eckart bis Rahner - eine seichte "Weltanpassung" (und heute auch Dienstleistungsfunktionen für ein bürgerliches Wohlfühl-Christentum) zu unterstellen. Kirchen- und Theologiegeschichte zeigen vielmehr, dass sich nahezu alle Kollaboration von Kirchen mit unmenschlichen Weltmächten auf gegenteiliger Grundlage - und unter Ausklammerung der Botschaft Jesu im Dogmen-Credo - vollzogen hat. Die traurige Gestalt von Pius XII., den der Papst selig waschen will, sollte Warnung genug sein.

Ästhetizismus und klerikaler Selbstanbetungsritus

Die bedingungslose Wiederaufnahme der Pius-Bruderschaft durch Benedikt XVI. hat sich längst als eine ausweglose Katastrophe seines Pontifikats erwiesen (allerdings wusste auch schon 2005 jeder halbwegs Gescheite, dass die Traditionalisten nie und nimmer das II. Vaticanum anerkennen würden und dass Judenfeindlichkeit zu ihrer Identität gehört). Die mannigfachen Konzessionen an den Rechtsaußenflügel gehen einher mit Konzils- und Geschichtsrevisionismus und mit einem rückwärtsgewandten Ästhetizismus , der unheilbar katholische Spielkinder in helle Entzückung versetzt.

Die Wiedereinführung der Tridentinischen Messe als einem ordentlichen Ritus ist nur Teil eines viel größeren liturgischen Romprogramms, das selbst konservative Bischöfe aus pastoralen Gründen ablehnen. Die geschäftstüchtigen Salonkatholiken, deren mannigfache Albernheit wir hier ganz sportlich übergehen wollen, klatschen Beifall. Sie enthalten ihrem Publikum aber die Wahrheit vor. Die tridentinische Messe war ein erschreckend beziehungsloses Geschehen und ist als "Privatmesse" (Beraubungsmesse) wirklich zutreffend benannt. An unzähligen Privataltären haben sich arme Leute die Knie wundgedient. Der ganze Hokuspokus wurde - nicht nur in wenigen Einzelfällen - mit sportlichen Rekordzeiten heruntergeleiert und war mitunter in seiner "Häresie der Formlosigkeit" nicht mehr zu überbieten (vgl. dazu sogar Matussek: Das katholische Abenteuer, S. 70). Auch Legenden über unerlöste Priesterseelen bewahren die unfromme Praxis im Kulturgedächtnis auf.

Als Kind habe ich im Dorfkrankenhaus der Franziskanerinnen noch einem "tridentinisch" zelebrierenden Missionar gedient (mit viel Verwunderung über mehrfach wiederholte Zaubergesten). Vielleicht sollte man auch die Kategorie "Komik" ins Spiel bringen? Als Priesteramtskandidat musste ich viel später einem Privatzelebranten ministrieren, der unverdrossen in einen leeren Raum hinein segnete (ich war, seitlich kniend, außer ihm die einzige Menschenseele in der Kapelle).

Jegliche Anwandlung, die einem klerikalen Selbstanbetungsritus nahekommt, ist mit dem letzten Konzil unvereinbar. Doch ein Christentum, das sich heute wiederfinden will, müsste mit Blick auf Ästhetik und Lebensstil noch an ganz anderen Stellen aufwachen. Auf dem II. Vaticanum verpflichteten sich zunächst 36 (später aber 500) Bischöfe im Katakombenpakt vom 16. November 1965, auf alle unjesuanischen Insignien aus teuren Edelmetallen (Goldkreuze etc.) zu verzichten, ihre Kleidung nicht als Ausdruck von Macht zu missbrauchen und in der eigenen Lebensführung alles zu unterlassen, was sie - im Vergleich zu den normalen Leuten - den Reichen zurechnen würde (aus der alten Kirche ist die Regel überliefert, dass das Bischofsgehalt nicht höher als die individuelle gemeindlichen Armenunterstützung sein soll).

Dieser Katakombenpakt ist selbstredend ein Zeichen für alle Getauften und sollte fünf Jahrzehnte nach seinem Abschluss auch von lutherischen, altkatholischen oder anglikanischen "Würdenträgern" als Aufruf zum Verlassen der "Bischofspaläste" verstanden werden. Bevor wir - fernab vom leibhaftigen Weltgeschehen - über die "Gottesfrage" räsonieren, könnten wir Christen vielleicht erst einmal anfangen, wieder wie Christen solidarisch zu leben.

Die kaltgestellte Alternative: Drewermanns Wegweisung für ein therapeutisches Christentum

Nahezu vergessen ist heute im Kircheninnenraum, welche Neuaufbrüche in den 1980er Jahren gerade auch für viele Katholiken mit dem Namen Eugen Drewermann verbunden waren. Dieser Paderborner Priester hatte zunächst die biblische Urgeschichte exegetisch (auf der Basis historisch-kritischer Forschung), tiefenpsychologisch und philosophisch ausgelegt. Sein zentrales Forschungsergebnis: Nicht Bosheit oder stolzer Ungehorsam, sondern ein Abgrund der Angst treibt Menschen in zerstörerische Dinge hinein, die ihnen selbst und anderen die Leiden nur noch unerträglicher machen (wer sogenannte Todsünden verstehen möchte, kommt mit dem herkömmlichen Moralismus also nicht einen Deut weiter).

Beim Familienroman sei anzusetzen, bei den Verwundungen unserer Lebensgeschichte, bei den unbewussten Verwicklungen und tragischen Ausweglosigkeiten unserer Beziehungen, beim psychosomatischen Aussatz, bei den Kreisläufen der Angst und bei einer nicht nur behaupteten, sondern erfahrbaren Erlösung.

Drewermann versteht Jesus, der im Zentrum all seiner Arbeiten steht, vorzüglich auch als Therapeuten (das Buch "Jesus der Hund" von Bernhard Lang vermittelt Forschungsergebnisse zu einem "jüdischen Kynismus", die hier durchaus als historische Bestätigung gelesen werden könnten). Wenn Menschen, lebensblind durch seelisches Leiden, wieder Licht sehen können, wenn Mundtotgemachte wieder anfangen zu sprechen, wenn depressiv Gelähmte wieder das eigene Gehen lernen und erstarrte Mumien aus den Gräbern ihrer Seele heraussteigen, dann erst darf man von Wundern sprechen.

Drewermanns tiefenpsychologische Exegese ermöglichte es ungezählten Religionslehrern und Predigern, die großen Bilder zwischen Geburt und Auferstehung - ohne Verrat an der Aufklärung - als wirkliche Glaubensbilder (Bilder des Vertrauens und der Heilung) zu vermitteln. Die biblische Botschaft zielt für ihn nicht auf ein objektivierbares Dogma, sondern auf die "Heilung zerbrochener Herzen", auf ein neues Selbstverstehen des Menschen. Zu seiner inzwischen abgeschlossenen Dogmatik gehören dicke Bände über moderne Biologie, Kosmologie und Hirnforschung. Hier werden Tabufragen behandelt, die die lehramtshörige Theologie - etwa mit billig reproduzierten Konstruktionen zum "Schöpfungsglauben" - bis heute konsequent umgeht!

Die politischen Theologen, zu denen ich mich als gleichzeitiger "Drewermannianer" selber zähle, witterten bei diesen ganz neuen Wegen ein gezähmtes Christentum für bildungsbürgerliche Kreise (bis heute nehmen einige von ihnen nicht wahr, dass kein anderer Theologe so kompromisslos wie Drewermann den Widerspruch gegen Kapitalismus und Kriegsmaschinerie vorträgt). Der Terminus "therapeutisches Christentum" wurde allen Ernstes als herablassender Kampfbegriff - gegen Drewermann - gebraucht.

Joseph Ratzinger begnügte sich - nach Delegation des Inquisitionsverfahrens an die unterste Ebene - mit lapidaren Abkanzlungen ("ach ja, diese Modewelle ist ja schon wieder vorbei"), und seine Fans beten das noch immer nach. Was man in all diesen Fällen wohl nicht voraussetzen darf, ist eine gründliche Lektüre der Werke des gescholtenen Autors (wie sie nicht wenige Menschen auf heilsame Weise in ihrer Selbstgewissheit erschüttert hat).

Eine breite Wirkungsgeschichte besonders auch außerhalb der verfassten Kirche und im Einzelfall bei einem kirchentreuen Bestsellerautor zeigt, dass Drewermann sein Lebenswerk nicht vergeblich ausgearbeitet hat. Doch in der Kirche hat man die Chancen für eine neue Pastoral und eine andere Theologenausbildung im Dienst von Menschen in drei Jahrzehnten vertan. Es waltet nach wie vor die heilige Ignoranz.

Thema Nr. 1 der Außenwahrnehmung: Sexual- und Frauenfeindlichkeit

Im Focus der öffentlichen Außenwahrnehmung zum Papstbesuch stehen sexualisierte Gewaltdelikte sowie Sexual- und Frauenfeindlichkeit der Kirche ganz oben auf der Themenliste. Die kirchenamtliche Homophobie hat seit den 80er Jahren ja wirklich geradezu groteske Züge angenommen, und ein Gleiches gilt für die theologischen Stellungnahmen zu Genderfragen. Die entsprechenden Anschauungen spielen in katholischen Verbänden und bei jungen Christen keine Rolle mehr. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass selbst junge US-Evangelikale zu 44 Prozent die Möglichkeit einer "Eheschließung von gleichgeschlechtlichen Partnern" befürworten (eine knappe Mehrheit der US-Katholiken denkt ebenso).

Obwohl einige mächtige Kirchenleiter es noch nicht mitbekommen haben, hat sich die Welt im neuen Jahrtausend sehr gewandelt. Sie bewegt sich zumindest in der Frage der sexuellen Orientierung in einer guten Linie hin zu mehr Respekt vor den Menschenrechten. Die schwul-lesbischen Proteste zum Papstbesuch täten allerdings gut daran, nicht den Anschein zu erwecken, es gehe nur um eine erbitterte Auseinandersetzung mit dem "Übervater" (die menschenrechtsfeindliche Diskriminierung kirchlicher Arbeitsnehmerinnen und Arbeitsnehmer ist indessen wirklich eine hochpolitische Protestfrage). Der amtliche Katholizismus ist in Sachen "Sexualität" heute ein Fall für Seelsorge. Er braucht Hilfe. Das sollte auch zum Ausdruck kommen.

Nun muss man also zur Kenntnis nehmen, dass die römische Kirche vor allem dort, wo es wirklich zu menschenfreundlichen Fortschritten in der Gesellschaft gekommen ist, als Gegenerin wahrgenommen wird. Noch nie haben wir davon gehört, dass Finanzkapitalisten, Kriegsgewinnler oder Folterer zu einer Demonstration gegen den Papst aufrufen. Das sollte doch zu denken geben.

Der absurde Vorwurf des "Nationalkirchentums" an die Reformer

Als Linker mit katholischer Sozialisation und Identität respektiere ich ehrenwerte Katholiken mit anderem politischen Standort wie etwa Heiner Geißler, Bundespräsident Christian Wulff oder Norbert Lammert (nicht von ungefähr kann man bei Matthias Mattusek, der ein Apologet von Henryk M. Broder und Thilo Sarrazin ist, über diese Namen nicht viel Gutes nachlesen).

Bei den bekümmerten Katholiken im christdemokratischen Spektrum lassen sich beim besten Willen keine nationalkirchlichen Ambitionen ("deutscher Sonderweg" etc.) erkennen, und das gilt ohne Abstriche auch für die sehr zahlreichen organisierten Reformkatholiken in Deutschland und Österreich, die ich kenne. Im Reformkatholizismus ist der weltweite konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung fest verankert (was man von den Szenen der Neupapisten wohl kaum behaupten kann). Welche staatsfernen Vorstellungen bezogen auf die Kirchengestalt im eigenen Lande vorherrschen, kann man in Friedhelm Hengsbachs neuem Kirchenreformbuch "Gottes Volk im Exil" (2011) nachlesen.

Da nun aber in der Geschichte des älteren Reformkatholizismus rechte und nationalkirchliche Tendenzen ("Germanisches versus Romanisches") tatsächlich eine nicht geringe Rolle gespielt haben, kommt der Vorwurf "nationalkirchliches deutsches Eigenbrödlertum" einem Totschlagargument sehr nahe. Anderswo - etwa in Lateinamerika - geht man mit römischen Vorgaben wohl oft viel freier und kreativer um als im deutschsprachigen Bereich und verzichtet deshalb eher auf kirchenpolitisches Engagement.

Doch die klassischen Reformforderungen, wie sie hierzulande seit der Würzburger Synode immer und immer wieder - vergeblich - formuliert werden, unterscheiden sich kaum von dem, was der Reformkatholizismus auf dem ganzen Globus vorträgt. Die weltweite Vernetzung und Zusammenarbeit der Reformer ließe sich allerdings noch um einiges verbessern.

Das Gerede von einem singulär in deutschen Landen sterbenden Katholizismus kann sehr leicht als Fiktion entlarvt werden, wenn man nach Italien, Frankreich, Spanien oder sogar auch Polen schaut (beim Niedergang in Lateinamerika hat Rom selbst ganze Vorarbeit geleistet). Über das kritische Verhältnis des Vatikans zu den Nationalstaaten erfährt man darüber hinaus einiges, wenn man die staatlichen Aufwendungen für Besuche des Papstes ins Blickfeld nimmt (sofern sie den Steuerzahlern jeweils wahrheitsgetreu mitgeteilt werden).

Der Ultramontanismus liquidiert das eigene Milieu

Der Ultramontanismus (romzentrierte Katholizismus), der in seiner Frühzeit durchaus auch emanzipatorische Potenzen aufwies, hat - nach der Säkularisation - das Programm "Bündnis von Kirche und Volk" betrieben. Zwischen 1850 und 1950 sorgte er für eine Verkirchlichung ganzer Landschaften und Milieus, wie es sie in dieser Form bis dahin wohl nie gegeben hatte. In einigen ländlichen Gebieten, so in meiner sauerländischen Kinderheimat, war die "katholische Himmelskuppel" trotz mannigfacher Risse im Gewölbe noch bis in die 1960er Jahre hinein oder länger intakt.

Wenn ich die Magie der katholischen Landschaft in Kirchenreformvorträgen in zu schönen Farben male (weil mir die regressiven Kindereien eines Matthias Matussek selbst nicht ganz fremd sind), protestieren mit Regelmäßigkeit vor allem die Alten. Sie erinnern an die Heucheleien, die religiösen Angstneurosen und mancherlei andere Bedrückungen in den geschlossenen katholischen Milieus.

Das Ende der katholischen Landschaft im Eichsfeld, im Sauerland, in Tirol oder sonstwo ist indessen längst besiegelt. Ein beispielloser Traditionsabbruch, der keineswegs erst nach dem Reformkonzil eingesetzt hat, ist vollzogen. Die Milieus des sozialen Leutekatholizismus waren aufgrund einer gefestigten Gemeinschaftsidentität durchaus nicht anfällig für fundamentalistische Hirngespinste. Sie prägen auf unterschiedliche Weise bis heute in vielen Dörfern das soziale Zusammenleben.

Noch gibt es eine allerletzte Generation, die im Rahmen eines Zeitfensters von etwa zehn oder fünfzehn Jahren als Brückengeneration aktiv an einer neuen Gestalt von Kirche vor Ort mitarbeiten könnte. Doch hier erweist sich der heutige Ultramontanismus, wie er von Papst und vielen Bischöfen vertreten wird, als der entscheidende "Liquidator" des Milieus. Die gesamte Pastoralplanung wird auf eine Priesterkirche (mit immer weniger und immer unglücklicheren Priestern) ausgerichtet.

Immer mehr Dorfkirchen - mit manchmal tausendjähriger Geschichte - stehen leer. Die Zahl der ohnehin schon anonymen Großgebilde wird erneut halbiert (die Pfarrverbünde etc. werden also doppelt so groß); ganze Landkreise werden zum Dekanat. Durch solche Brachiallösungen werden die jetzt noch anzutreffenden menschlichen Reichtümer einer nahen Kirche am Ort systematisch abgewürgt. Am Ende stehen einige wenige zentralistische "Priesterwallfahrtsstätten", zu denen dann noch eine traditionalistische Minderheit am Sonntag mit dem Autor vorfährt.

Es gibt allseits bekannte Alternativen, so etwa in der französischen Diözese Poitiers . Sogenannte Laien erfüllen die von ihren Vorfahren (nicht von Bischöfen) erbauten Dorfkirchen mit neuem Leben. Wo die Vertreter einer narzisstischen Priesterideologie und eines klerikalen "Eucharistismus" - mit z.T. schon wahnhaften Zügen - solche Wege verbauen, bleibt den Gläubigen nichts anderes übrig, als die Kirchenschlüssel in ihre eigene Obhut zu nehmen.

Ohne die fromme Revolte wird sich nichts bewegen

Wer heute unter Katholikinnen und Katholiken die Illusion fördert, Aufbruch und Reform in unserer Kirche seien ohne Einübung in den frommen Ungehorsam von unten möglich, handelt fahrlässig und unverantwortlich. Die Folge eines solch billigen, aber durch die real existierenden Machtverhältnisse nicht zu rechtfertigenden Optimismus wäre eine weitere Geschichte der vergeudeten Energien, Frustrationen und Resignationen an der Basis. Ohne eine breite fromme Revolte von unten, wie sie sich längst an vielen Schauplätzen abzeichnet, wird es nicht zu einem Ausstieg aus der Lethargie und erst recht nicht zu Veränderungen kommen.

Das Konzept des frommen Ungehorsams beinhaltet, dass die Getauften in ihren Gemeinden heute wahr werden lassen, wozu Jesu Vorbild und ein gutes Geistwehen sie ermutigt. Dazu gehören z.B.: Zahlung der Kirchensteuer an selbstgewählte Christeninitiativen nach Körperschaftsaustritt (für Katholiken mit zu hohem Leidensdruck eine gute Alternative; theologische Werkstätten vor Ort, in denen Wege einer überzeugenden Jesus-Praxis und einer heute verstehbaren Glaubenssprache erkundet werden; lokale Erklärungen zur unverzüglichen Beendigung der Kirchenspaltung und dem entsprechende Formen der Abendmahlsfeier und gemeinsamen Diakonie; die Gründung unabhängiger ökumenischer Basisgottesdienstgemeinden oder die Einladung zu "Hauskirchen"; die Spendung der wegen des sog. Priestermangels "aussterbenden" Krankensalbung durch Diakone und durch Frauen und Männer aus medizinisch-pflegerischen Tätigkeitsfeldern; das Läuten der Kirchenglocken in "priesterlosen Gemeinden" zum ortsnahen Gottesdienst (mit "Laienpredigt"); die stillschweigende Umsetzung von Anliegen, die seit Jahrzehnten ignoriert werden (wie die Beendigung der Diskriminierung von weiblichen, wiederverheirateten, homosexuellen Getauften); die volle Einbindung verheirateter Priester in die Gemeindearbeit …

Bislang vielleicht am spektakulärsten ist im deutschsprachigen Raum die Initiative von 300 österreichischen Pfarrern, die sich in ihrer Arbeit am eigenen Christengewissen ausrichten. Ein wichtiger Grundsatz des frommen Ungehorsams besteht darin, keine neuen Opfer bzw. "Märtyrer" in Auseinandersetzungen mit Kirchenleitungen zu produzieren (weil sonst der ewig alte Autoritätskonflikt die neuen Wege sofort wieder verdirbt). Solange Repressionen die Linie der Hierarchie bestimmen, sollte man den Bischof als einem Weisungsgebundenen Roms - sei er konservativ oder eher offen - nicht mit allem behelligen, was man tut. Mit den Leuten verbundene Amtsträger müssen geschützt werden, weil ihr Rauswurf dem Anliegen in keiner Weise nützen würde.

Das Programm lautet: "Mehr Jesus, weniger Amtskirchenleitung." In der Umsetzung wird mit Überzeugung und Frohsinn stillschweigend Gutes getan - statt Kräfte in einem aussichtslosen "Protest gegen oben" zu vergeuden. Die Bibel legt mit höchst unterschiedlichen Theologien Zeugnis ab von einer vielfältigen, äußerst pluralistischen Kirche der Frühzeit. Der gemeinsame Geist, nicht aber eine zentralistisch diktierte Uniformität, wirkte die Einheit der globalen Tischgemeinschaft. Diese biblisch-frühkirchliche Grundlage wollen die Traditionalisten jeglicher Couleur, die maßgeblichen Kirchenspalter unserer Tage, nicht anerkennen.

Abraham, oder: Aufbrechen in ein anderes Land …

Das traditionalistische Programm sorgt für Angstbetäubung, Regression und selbstverliebte Ästhetik. Es ist das präzise Gegenprogramm zur Trias "Glaube, Hoffnung, Liebe" (1 Korinther 13,13) und verbaut der Kirche damit jede Zukunft, ganz gleich wie hoch der Marktwert dieses Programms unter all jenen sein mag, die die Moderne nervös, schwermütig oder neurotisch macht.

Wer sich seine katholische Kinderheimat und andere Gottesbesitztümer in Dogmenbeton gießt, wird zwangsläufig alles verlieren und Abraham , den Stammvater aller mutig Vertrauenden, verraten. Falls man in Rom die Stimme nicht mehr vernimmt, die Menschen in das Offene und Weite hinausruft, sollte man sich dort auf das Schweigen verlegen und das Zuhören lernen.

Im Übrigen hat der Bruder Papst ganz Recht darin, dass die Begegnung mit Menschen ein vorzüglicher Ort der Gotteserfahrung ist. Wir sollten alle darin bestärken, den Eros der Begegnung als himmlische Gabe sehen zu lernen. An der Seite von Jesus denken wir Christen natürlich vorzüglich an die Hungrigen und Durstigen, an die Nackten, Gefangenen, Kranken, Obdachlosen und an die "Fremden" - also auch besonders an die, die ganz anders glauben, denken und leben als wir und sich womöglich als Atheisten verstehen. Lebendige Ebenbilder oder Gleichnisse Gottes, wohin wir auch kommen. Was hätten wir seit dem Frühling in Galiläa zu Beginn unserer Zeitrechnung vorzuweisen, das ansteckender wäre als diese christliche Erotik?

Literaturhinweise zu diesem Beitrag

  • Peter Bürger: Die fromme Revolte - Katholiken brechen auf. Oberursel 2009 (vgl. auch im Telepolis-Autorenarchiv meine "katholischen Beiträge" seit 2005).
  • Hubertus Halbfas: Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss. Ostfildern 2011.
  • Hermann Häring: Freiheit im Haus des Herrn. Vom Ende der klerikalen Weltkirche. Gütersloh 2011.
  • Friedhelm Hengsbach: Gottes Volk im Exil. Anstöße zur Kirchenreform. Oberursel 2011.
  • Hans Küng: Ist die Kirche noch zu retten? München 2011.