Der Rechtspopulist im Weißen Haus agiert wie ein Brandstifter
Überschattet von Betrugsvorwürfen des Präsidenten scheint der enge Kampf ums Weiße Haus vorerst offenzubleiben. Update: weiterhin bleibt der Ausgang offen
Der 4. November 2020 könnte als das Datum in die Geschichte eingehen, an dem Amerikas angeschlagene bürgerliche Demokratie nach langjähriger neoliberaler Agonie endgültig das Zeitliche segnete: Um rund halb drei Uhr Nachts (8:30 mitteleuropäischer Zeit) trat US-Präsident Donald Trump vor die Öffentlichkeit, um den Verlauf der Wahlnacht zu kommentieren.
Es sei die späteste öffentliche Erklärung, die er je abgegeben habe, scherzte ein kämpferischer Rechtspopulist, der seine Ansprache mit einer Litanei von tatsächlichen und vermeintlichen Wahlsiegen in etlichen Bundesstaaten begann. Vor allem der Sieg Trumps in Florida und Texas - die im Vorfeld der Wahl als umkämpft galten - hat die Wiederwahlchancen des umstrittenen Staatschefs erhöht. Bei der Verteilung der Wahlmänner lag der Präsident zum Zeitpunkt seiner Ansprache mit 213 Stimmen gegen Joe Biden zurück, der 227 Wahlmänner sichern konnte. Zum Sieg brauchen die Kandidaten 270 Wahlmänner.
Bei seiner Rede beanspruchte der Präsident aber auch Wahlsiege in Bundesstaaten, bei denen das offizielle Wahlergebnis noch nicht feststand. Hierunter waren die wichtigen Staaten Pennsylvania und Michigan, deren Wahlmänner aufgrund der gegebenen Arithmetik für den Sieg bei der Wahl entscheidend sein dürften. Trump erklärte rundweg, dass er die Wahl, soweit es ihn betreffe, schon gewonnen habe, und dass seine Gegner derzeit versuchten, die Wahlen zu fälschen und ihn um seinen Sieg zu bringen (Trump: "Ehrlich gesagt, wir haben die Wahl gewonnen").
Hiernach kündigte der umstrittene Präsident an, unverzüglich vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zu ziehen, um die weitere Auszählung von Stimmen zu stoppen. Das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten ist während der Präsidentschaft Donald Trumps mit konservativen Richtern besetzt worden, sodass in dem Gremium nun eine klare rechte Mehrheit herrscht.
Der Hintergrund: Der diesjährige Urnengang ist aufgrund der Pandemie von einem hohen Anteil an Briefwählern gekennzeichnet, die aber überwiegend den demokratischen Herausforderer wählen. Diejenigen Wähler, die die Pandemiebekämpfung ernst nehmen und Trumps diesbezügliche desaströse Politik verurteilen, haben vorwiegend die Möglichkeiten zur Briefwahl genutzt. Trumps Kernwählerschaft wählte hingegen größtenteils direkt.
Mit der Aufforderung, die Auszählung der Briefwahl zu stoppen, will Trump eine Verschiebung der Wahlergebnisse zugunsten seines demokratischen Herausforderers verhindern. Hierzu haben die Republikaner bereits vor den Wahlen damit begonnen, die zeitige Zustellung der Briefwahlstimmen zu sabotieren. Trumps Team arbeitete also daran, die Auszählung der Briefwahlstimmen zu torpedieren, um nun deren Auszählung unter Verweis auf die lange Zähldauer vor Gericht anzufechten.
Der Wahltag wird in apokalyptische Szenarien getaucht
Die offenen und verdeckten Anspielungen auf etwaigen Wahlbetrug - eine übliche Projektion der Neuen Rechten - im Fall einer Niederlage Trumps, die bereits massiv lanciert werden, stellen aber den entscheidenden Eskalationsschritt dar, der die Auseinandersetzung schnell in Gewalt umschlagen lassen kann. Selbst Kommentatoren des berüchtigten erzreaktionären Fernsehsenders Fox-News bemerkten, dass Trump in einer angespannten Lage, in der die politische Arena einem Pulverfass gleiche, ein "Streichholz angezündet" habe. Der Rechtspopulist im Weißen Haus agiert wie ein Brandstifter.
Die extremistische Rechte, die Trump als ihren Mann im Weißen Haus betrachtet, bereitete sich in Form von Milizen und sonstigen bewaffneten Gruppen schon lange vor dem Wahlkampf auf einen Bürgerkrieg vor, wobei in diesen Kreisen eben jene Verschwörungstheorien von "Wahlbetrug" kursierten, die nun Trump, der bei etlichen Gelegenheiten die extreme Rechte öffentlich unterstützte, bediente. Der Wahltag wird in apokalyptische Szenarien getaucht, um den Kampf um die Macht notfalls mit Waffengewalt zu führen.
Demokratisches Desaster
Selbst wenn der greise demokratische Herausforderer Joe Biden in den kommenden Tagen noch knapp vorne liegen sollte und gewalttätige Auseinandersetzungen vermieden werden können: Das Ergebnis der Wahlen kann bereits jetzt als Desaster für das neoliberale Establishment der Demokratischen Partei, wie auch für die Umfrageinstitute der Vereinigten Staaten gewertet werden. Die Wahlprognosen lagen noch weiter daneben als 2016. Die Mehrheit im Repräsentantenhaus kann zwar gehalten werden, eine zuvor sicher geglaubte Mehrheit im Senat scheint indessen ungewiss.
Der neoliberale Kandidat Joe Biden, der sich in einem von Manipulationsvorwürfen überschattenden Vorwahlkampf gegen seinen sozialistischen Konkurrenten Bernie Sanders durchsetzte, konnte entgegen der Behauptungen des demokratischen Parteiestablishments keine substanziellen Gewinne im konservativen Milieu verbuchen. Zugleich wurde die Linke von der Biden-Kampagne insbesondere in der heißen Wahlkampfphase nahezu vollständig ignoriert.
In Texas schnitt Biden sogar schlechter als Hillary Clinton ab. Der amerikanische "Rostgürtel", dessen verarmte weiße Arbeiterklasse Trump 2016 seinen Überraschungssieg bescherte, konnte entgegen der Wahlprognosen ebenfalls nicht eindeutig von Biden zurückgewonnen werden: In Wisconsin und Michigan führt Trump knapp. Pennsylvania liegt auf des Messers Schneide, die Hoffnungen auf demokratische Wahlsiege im Süden, in Georgia und North Carolina, könnten sich - nach der Niederlage in Florida - ebenfalls nicht materialisieren.
Update: Noch kann Trump gewinnen
In einer ersten Reaktion bezeichneten Sprecher der Biden-Kampagne die Selbstausrufung Trumps zum Wahlsieger als einen "offenen Versuch", die "amerikanischen Bürger ihrer demokratischen Rechte" zu berauben.
Das Vorgehen des Präsidenten sei "beispiellos" und "empörend". Niemals zuvor hätte ein Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten es versucht, den US-Bürgern "ihre Stimmen wegzunehmen", hieß es weiter. Man sei sich dessen sicher, dass am Ende des langwierigen Auszahlungsprozesses Joe Biden als der "nächste Präsident der Vereinigten Staaten" feststehen werde.
Tatsächlich schient sich in einem der wichtigsten umkämpften Bundesstaaten, in denen zuvor Trump in Führung lag, der Wind zu drehen, nachdem nun auch die per Briefwahl abgegebenen Stimmen ausgezählt werden. In Wisconsin, im deindustrialisierten Rostgürtel der Vereinigten Staaten, scheint die frühe Führung für Trump nun dahingeschmolzen zu sein. Gegen 12:00 mitteleuropäischer Zeit errang dort der Demokrat eine hauchdünne Mehrheit vor dem republikanischen Amtsinhaber. Biden führte vor Trump mit 49,3 zu 49,1 Prozent, nachdem 95 Prozent der Stimmen ausgezählt waren.
Die Verteilung der Wahlmänner gestaltete sich am Mittag mitteleuropäischer Zeit folgendermaßen: Trump hatte sich 213 Wahlmänner gesichert, bei Biden waren es schon 238. In folgenden Staaten, in denen das Wahlergebnis noch nicht feststand, lag Joe Biden bei den andauernden Auszählungen vorne: Nevada (6 Wahlmänner) und Wisconsin (10 Wahlmänner). Somit scheinen Biden bislang - bevor die Auszählung Briefwahlstimmen abgeschlossen wurde - 252 Wahlmännerstimmen sicher zu sein.
Trump führt hingegen in den Battleground-States Michigan (16 Wahlmänner), Pennsylvania (20), North Carolina (15), Georgia (16) und Alaska (3). Folglich könnte der Präsident mit insgesamt 283 Stimmen des Wählerkollegiums (Electoral College) wiedergewählt werden, obwohl er Prognosen zufolge abermals eine Minderheit der tatsächlichen Wählerstimmen der US-Bürger erhielt. Diese einfache Arithmetik des Wahlverlaufs erklärt auch, wieso die Kampagne des Rechtspopulisten alles daranzusetzen versucht, die Auszählung der Briefwahlstimmen möglichst rasch zu unterbinden - man will so ein Umkippen des Wahlergebnisses zugunsten der Demokraten, wie es sich in Wisconsin abzeichnet, verhindern.
Dieser Text wird aktualisiert.