Der Sympathie-Faktor: Wie die Nato die Köpfe und Herzen der Europäer gewinnt

Seite 2: Der feministische Afghanistan-Krieg

Die Beteiligung von Frauenrechtsgruppen hat der Nato bei ihren Aktivitäten zusätzliche Legitimität verliehen. Aktivistinnen äußerten dabei die Ansicht, dass ihre beratende Tätigkeit es ihnen ermögliche, der Nato "Dinge zu sagen, die sie sonst nicht hören würden".

Dass die Militärallianz Nato ein feministisches Anliegen hat, ja überhaupt haben kann, mag bezweifelt werden. Bei dem Afghanistan-Krieg, der im Jahr 2001 startete, gab man vor, damit Frauen befreien zu wollen.

Doch die älteste Frauenorganisation in Afghanistan, Rawa, lehnte die Invasion umgehend ab und warnte vor einem Blutbad und Chaos. Die afghanischen Feministinnen erklärten den USA und der Nato, dass Krieg sie nicht befreien würde.

Schließlich mussten insbesondere Frauen und Kinder einen hohen Preis für den mehr als zwanzig Jahre dauernden US-Nato-Befreiungskrieg zahlen. Sie wurden zu Zehntausenden getötet und verstümmelt, während Millionen zur Flucht getrieben wurden. Aber das scheint dem feministischen Image der Nato wenig angehabt zu haben.

Im Women Peace and Security Index, der das Wohlergehen von Frauen anhand einer Vielzahl von Indikatoren misst, rangiert Afghanistan nach wie vor auf dem vorletzten Platz der Welt, knapp vor Jemen. Ein Unicef-Bericht für 2019 stellt fest, dass 3,7 Millionen Kinder nicht zur Schule gehen, 60 Prozent davon sind Mädchen. Ferner leben die meisten Afghanen weiterhin in Armut.

Das Nato-Netzwerk

Die Militärallianz kann bei ihrem Versuch, sich selbst in ein positives Licht zu rücken, von einem weitverzweigten Netzwerk, Lobbyismus, Public Relations und institutionellen Verflechtungen profitieren – und das schon seit vielen Jahrzehnten.

Neben den klassischen militärischen, zwischenstaatlichen und internationalen Institutionen, mit denen die Nato auch in Bezug auf personelle Besetzungen verflochten ist (EU, OSZE, European Defense Agency, UN usw., die wiederum mit tausenden anderen Organisationen verbunden sind), gibt es zudem eine Reihe von transatlantischen Organisationen, die dafür sorgen, dass die Treue zur Nato als quasi Staatsräson die gesellschaftlichen Schaltzentralen der EU-Länder reibungslos dominiert.

Nato-freundliche Lobbys wie der Atlantic Council und nationale Denkfabriken wie die Atlantik-Brücke in Deutschland oder der Council on Foreign Relations, das britische Royal Institute of International Affairs und ihre Pendants in vielen anderen Ländern werben seit Langem für das Militärbündnis.

Politiker, Wirtschaftseliten, Wissenschaftler und Journalisten werden von diesen Organisationen stetig rekrutiert und als Mitglieder gefördert und unterstützt. Baerbock ist zum Beispiel seit Jahren Teilnehmerin des Young Global Leaders Programm des Weltwirtschaftsforums und des Leaders Programm der Atlantik-Brücke.

Von Gladio bis zur zivilen Diplomatie

Es gibt auch eine Youth Atlantic Treaty Association, ein Netzwerk nationaler Organisationen von Berufseinsteigern, Universitätsstudenten und Forschern. Stärker verdeckte Kanäle laufen durch die Bilderberg-Gruppe, die die politischen, wirtschaftlichen, akademischen und journalistischen Eliten der Nato-Staaten versammelt.

In der Frühphase nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben die USA aktive politische "Landschaftspflege", oft sehr robust bis zur Förderung von Staatsstürzen, False-Flag-Operationen zur Diskreditierung linker Parteien und psychologischer Kriegsführung, um Europa an sich zu binden.

Die Operation Gladio, Codename für geheime "Stay-behind"-Operationen des bewaffneten Widerstands, die von der Nato und der CIA in Zusammenarbeit mit mehreren europäischen Geheimdiensten während des Kalten Kriegs organisiert wurden, hatten u.a. zum Ziel, das politische Klima in europäischen Ländern derart zu gestalten, dass sich US- und Nato-kritische politische Kräfte nicht entwickeln konnten.

Die Nato verfügt heute zudem über zahlreiche Trainings- und Bildungszentren in 34 Mitgliedsstaaten und Partnerländern, gruppiert um Themen wie Sicherheit, Waffentraining, internationales Recht und Verteidigung. Dazu kommen Exzellenzzentren, in denen Führungskräfte und Spezialisten, die von Regierungen sowie aus der Industrie, Wissenschaft und dem Privatsektor kommen, in Sachen Krisenmanagement Fortbildungen erhalten. Diese Cluster sollen Drehscheiben bilden für zivil-militärische Kooperationen in unterschiedlichen Sektoren.

Die gigantische Abteilung für zivile Diplomatie der Nato arbeitet schließlich mit allen Print- und elektronischen Medien zusammen. Ihre Pressereisen ermöglichen es Reportern, "an Bord des Flugzeugträgers USS George H.W. Bush auf der Adria mitzufahren" und "sich in einer U-Bahn-Station in Rom (Italien) unter Experten für Terrorismusbekämpfung zu mischen".

Stipendien, Influencer, Kunst

Für Nato-Stipendien können sich auch Vertreter von Denkfabriken, Universitäten usw. bewerben. Dabei soll besonderes "Augenmerk darauf gelegt werden, junge Menschen, Frauen und wichtige Meinungsmacher anzusprechen, auch solche, die bisher keinen Kontakt zur Nato hatten." Merje Kuus fasst die Stoßrichtung der Kampagne so zusammen:

Neben der Nato-eigenen Abteilung für Öffentlichkeitsdiplomatie wird die Botschaft des Bündnisses durch eine Vielzahl von nichtstaatlichen Organisationen vermittelt, die mit der Nato zusammenarbeiten, ihr aber nicht angeschlossen sind. Sie werden von den nationalen Außen- und Verteidigungsministerien, der Nato-Abteilung für öffentliche Diplomatie und von privaten Unternehmen finanziert und organisieren eine breite Palette von Aktivitäten, mit denen die Nato innerhalb und außerhalb ihrer Mitgliedstaaten bekannt gemacht werden soll.

Auch über Influencer, Festivals und Menschenrechtsorganisationen versucht man, die Botschaft, dass das Militärbündnis die Schutzorganisation der demokratischen Staaten darstellt, zu kommunizieren. Selbst Umweltschützer:innen sprechen auf Nato-Konferenzen und vice versa oder sitzen in Beratungsgremien.

Vor allem die Jugend wird in den Fokus genommen, u.a. mit dem neuen Programm "Protect the Future Campaign". Im Jahr 2022 wurden zwölf junge Influencer aus Ländern wie Deutschland, Spanien oder Großbritannien von der Nato eingeladen, trafen den Generalsekretär, reisten zum Gipfel in Madrid und besuchten einen US-Flugzeugträger und ein Awacs-Training.

Daraus sollen laut Nato 300.000 Beiträge in den sozialen Medien hervorgegangen sein, die mehr als neun Millionen junge Menschen erreichten. Die Nato sponsort Künstler, veranstaltete im letzten Jahr ein großes Nato-Gaming-Turnier, fördert Ausstellungen und diverse Kunstaktionen.

It's the Nato economy, stupid!

Und dann ist da noch die ökonomische Seite. Die europäische Wirtschaft wird zunehmend militarisiert. Viele Arbeiterinnen und Gewerkschafter haben gute Jobs in der Rüstungsindustrie. Das wirkt wie eine implizite Kritikbremse.

Zudem braucht der Koloss Nato für seine Aktivitäten Firmen, die zuliefern, von Konferenzequipment über medizinische Güter bis hin zu Moskitonetzen – und sichert damit das Überleben von Betrieben. Obwohl es sich bei den größten Ausgaben um die von Waffen handelt, also für Unternehmen, die oft das wirtschaftliche Aushängeschild ihrer Gemeinden sind, profitieren auch kleinere Firmen – was wiederum die Einstellung von Bürgern und die von ihnen gewählten Vertreter beeinflussen kann.

Der Nato-Sympathie-Effekt

Dass es also derart viel Vertrauen in das Militärbündnis Nato in Europa gibt, Sicherheit zu schaffen – trotz der oft tödlichen Bilanz –, und so wenig kritische Debatte rund um das Militärbündnis existiert, ist sicherlich nicht allein mit dem Geflecht von institutionellen Kooperationen, geschickter PR und Meinungspflege, Politiker- und Journalistenbetreuung sowie dem enormen Ausstoß von Demokratie- und Menschenrechtsbotschaften durch die Nato zu erklären.

Aber dass diese tief verwurzelte, seit Jahrzehnten gewachsene Nato-Sympathie-Industrie Wirkungen hat auf die öffentliche Meinung, auf das, was Menschen über die Aktivitäten und die Ausrichtung der Nato denken, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden.

Wie weitgehend die Effekte sind, darüber kann man sich sicherlich streiten.