Der Tahrir-Platz von Köln

Abrechnung mit den landläufigen Illusionen in der Flüchtlingskrise

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Es war die "dunkle Seite" der Massenproteste gegen das Mubarak-Regime in Ägypten: Hunderte von Frauen sind während der Proteste und Auseinandersetzungen auf dem zentralen Tahrir-Platz in Kairo Opfer von Übergriffen und Vergewaltigungen von Banden junger Männer geworden, berichtete die Zeit auf ihrer Onlinepräsenz im Juli 2013:

Die Täter, die in Banden organisiert sind, gehen immer nach dem gleichen Muster vor. Sie umringen ihr Opfer, trennen es von seinen männlichen Begleitern, reißen der Frau die Kleider vom Leib und machen sich dann über sie her. Augenzeugen, die einschreiten wollen, werden zusammengeschlagen oder wüst beschimpft.

Die Zeit
Bahnhofsplatz in Köln. Bild: Raimond Spekking/CC-BY-SA-4.0

Die Parallelen zu den sexistischen Übergriffen in Köln und Hamburg sind offensichtlich. Auch hier waren es Banden junger Männer, die in der Silvesternacht regelrecht Jagd machten auf Frauen, die sie offensichtlich für Freiwild hielten (Köln: "Völlig neue Dimension der Gewalt"). Zumeist waren es Raubdelikte, die oftmals mit bis zur Vergewaltigung gehenden sexuellen Übergriffen einhergingen. Bis jetzt sind bei der Polizei 90 Anzeigen eingegangen (Kölner Polizei: "Wir haben bisher noch keinen Tatverdächtigen").

Diese Vorfälle lassen nun sehr schnell eine Illusion verschwinden, die Illusion von der moralischen Überlegenheit der Opfer von Krieg und Vertreibung. Die Hölle aus Staatszerfall und Bürgerkrieg, der die Flüchtlinge entkommen sind, hat diese selbstverständlich geprägt, sie hat Spuren hinterlassen. Die Flucht aus dieser Anomie in die erodierenden Zentren des krisengeschüttelten kapitalistischen Weltsystems schaffen ohnehin nur die Stärksten: Die jungen Männer und diejenigen, die es sich noch leisten können, dies zu bezahlen.

Es fliehen traumatisierte - oder brutalisierte - Menschen, die selbstverständlich die Hölle, der sie entkommen sind, nicht einfach hinter sich lassen, sondern in sich mit tragen. Die Krisenideologie des Islamismus wirkt oftmals auch bei all jenen nach, die ihm zum entkommen trachten. Die Flüchtlinge haben ein Recht zur Flucht - nicht weil sie als Opfer bessere Menschen sind, sondern weil sie Menschen sind. Die Erwartung, Flüchtlinge aus den Zerfallsregionen der Peripherie, die es bis in die BRD schaffen, würden sich besonders gut betragen und ein vorbildliches staatsbürgerliches Verhalten an den Tag legen, ist entweder naiv oder rassistisch.

Angesicht der offensichtlich global auf allen Ebenen eskalierenden Krisendynamik, die eben solche Rackets und Banden hervorbringt, zerfällt auch eine weitere liberale Illusion. Die Illusion des "Wir schaffen es!" Hierunter ist im Kern die Integration der geflüchteten Menschen in die deutsche Arbeitsgesellschaft gemeint, ihre Verwertung in der deutschen Industrie, die Deutschland einen zweiten konjunkturellen Frühling verschaffen solle.

Selbstverständlich wird dies Kalkül aufgrund der eskalierenden Krisendynamik nicht mehr aufgehen. Die deutsche Arbeitsgesellschaft, die Deutschlands Rechtsextremisten möglichst hermetisch abschotten wollen, funktioniert nur vermittels extremer Exportorientierung und der gigantischen Handelsüberschüsse, die bald krisenbedingt einbrechen werden. Wenn die Flüchtlingskrise irgendetwas signalisiert, dann ist es die zivilisatorische Überlebensnotwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus. Letztendlich flieht in die Zentren die ökonomisch überflüssige Bevölkerung der Peripherie, wo der ökonomische Verfall den nicht enden wollenden Bürgerkriegen vorherging.

Und selbstverständlich geht es hier nicht um einen kulturalistischen Kampf zwischen dem islamischen Morgenland und dem christlichen Abendland, wie ihn rechte Ideologen propagieren. Es ist kein Rückgriff auf "Traditionen", der junge Männer aus dem arabischen Raum zu Vergewaltigern macht. Die Clans, Milizen, Banden und Sekten, die sich im Windschatten von ökonomischen Zusammenbrüchen und Staatszerfall breitmachen, etablieren "entbundene Gewaltstrukturen, wie sie aus dem Zerfall der warenproduzierenden Anti-Zivilisation des Geldes hervorgehen", erläuterte der Krisentheoretiker Robert Kurz in seinem 2003 erschienenen Werk "Weltordnungskrieg". Die endemisch hohe Arbeitslosigkeit, gepaart mit der Verwilderung des Staatsapparates, der nicht mehr aus der Kapitalverwertung finanziert werden kann, bringe eine "verlorene Generation" desorientierter junger Männer hervor, die "auf ihre kapitalistische Überflüssigkeit bösartig reagieren und sich in den hoffnungslosen Milizen" der Zusammenbruchsregionen der Welt wiederfinden, so Kurz.

Die arabischen Banden gleich den rechtsextremen Banden

Der Krisenprozess bringt auch in Deutschland ähnliche Phänomene hervor, die aufgrund der niedrigeren Krisenintensität - noch - nicht dermaßen extrem zutage treten. Die arabischen Banden, die in Köln und Hamburg auf Frauen Jagd machten, sie gleichen den deutschen Banden, die - weitestgehend straffrei - bisher Hunderte von Brandanschlägen und Übergriffen auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte verüben konnten. Dies ist eigentlich die Antwort der an der Schwelle zur gesamtgesellschaftlichen Hegemonie stehenden extremistischen Rechten in Europa: Aus Angst vor den krisenbedingt zunehmenden gesellschaftlichen Zerfall in der Peripherie, der eine ideologische Personfizierung in den "arabischen jungen Männern" erfährt, wird mit der Forcierung des gesellschaftlichen Zerfalls, mit der Barbarisierung in den Zentren reagiert, indem ebenfalls rechtsextreme Banden gebildet werden. Die extreme Rechte forciert das Abdriften Europas in einen neuartigen "molekularen" Weltbürgerkrieg.

Deswegen zerfällt nun auch eine dritte, große Illusion, der rechtsextremistische Wahn, Deutschland könne sich von dem Folgen des globalen Krisenprozesses abkapseln, indem die Grenzen dichtgemacht würden. Die Rackets und Banden sind schon hier - es sind die Nachbarn, die abends zu Brandstiftern werden. Ganz abgesehen davon, dass nur eine dreiwöchige Schließung der deutschen Grenzen den "Exportüberschussweltmeister" in den sozioökonomischen Kollaps treiben würde. Es wirkt geradezu absurd, wenn nun die neue deutsche Rechte, die schon immer gegen "Emanzen" und Feminismus wetterte, die sexistischen Übergriffe arabischer Banden ausnutzen will, um die Mobilisierung deutsche rechtsextremer Banden zu forcieren.

Letztendlich gilt es, beiden Formen der krisenbedingten Barbarisierung - den arabischen Banden wie der deutschen Nazibande - entschieden entgegen zu treten und ihren gemeinsamen Nenner zu betonen. Das antifaschistische Engagement von Aktivisten und zivilgesellschaftlichen Gruppen muss um eine antisexistische Komponente gegen all die chauvinistischen arabischen "jungen Männer", die auf ihre ökonomische Überflüssigkeit nicht emanzipatorisch, sondern bösartig reagieren, erweitert werden.