Der Technorealismus - die umstrittene Mitte

Douglas Rushkoff ist einer der Unterzeichner des technorealistischen Manifests, das heftige Diskussionen im Internet ausgelöst hat.

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Ich habe vor einiger Zeit ein Schriftstück unterzeichnet: eine Kampagne zum rationalen Denken über Technologie und ihre Rolle in der Gesellschaft. Seltsamerweise hat sich allein schon diese Aussage als umstritten erwiesen.

Wer mich als einen pro-technologischen Utopisten betrachtet oder wer selbst entschieden pro-technologisch eingestellt ist, für den sieht es so aus, als würde ich erklären wollen, warum Technologie von Übel ist und warum man sie überwachen, reduzieren oder abschaffen solle. Aber wer sich der Technologie und ihrer zunehmenden Ausbreitung absolut entgegenstellt, für den sieht dieselbe Aussage wie eine Entschuldigung aus, noch mehr von diesem "gefährlichen Zeug" in die Schulen und Wohnungen zu bringen, wo die Kinder unnötigerweise der Pornographie ausgesetzt und die Arbeiter unaufhörlich von Robotern ausgebeutet werde. Ich habe Emails, um diese Beschuldigungen zu belegen.

Genau das aber ist das Problem, dem sich der Technorealismus, ein neuer Zweig der Technikkritik, zu stellen versucht. Laut dem ersten Dokument, das im Internet veröffentlicht und während einer Konferenz an der Harvard Universität bekannt gegeben wurde, ist der Technorealismus ein Versuch, "eine fruchtbare Mitte zwischen dem Techno-Utopismus und dem Neo-Luddismus zu eröffnen."

Ich bin stets der utopischen Seite des Spektrums näher gestanden. Weil ich die Technologie als eine Erweiterung der menschlichen Natur betrachte und der Meinung, daß Menschen prinzipiell gut sind, habe ich an dem Glauben festgehalten, daß die Welt besser werden wird, wenn die Technologie den wirklichen Menschen mehr Macht verleiht. Unsere Technologien werden uns helfen, bessere Formen der gegenseitigen Beziehungen und der Sorge füreinander zu entwickeln.

In den frühen 80er Jahren, als ich mit Hackern und anderen freien Denkern zu tun hatte, betrachtete ich Regierungen als die Feinde von all dem. Sie verhaften Hacker, kontrollieren den Zugang und legen sogar IP-Adressen und Domainnamen fest. Viele erkannten damals nicht, daß eine Regierung nicht nur die Aktivitäten von bestimmten Individuen beschränkt, sondern daß sie auch als Regulator der kommerziellen Kräfte fungiert. Als die Regierung nicht mehr im Wege stand, konnten Firmen von Wired Ventures bis hin zu Microsoft erklären, daß das Internet ein kommerzieller Raum ist.

Wired und andere libertäre Organisationen taten dies auf philosophische Weise: Mit der Verbreitung von Slogans wie dem "lang anhaltenden Boom" wirtschaftlichen Wachstums, "Wandel ist gut" und der "Push-Technologie" selbst zog dieser Kern der digitalen Revolution die Cyberkultur absichtlich mit sich, um die Ziele der Wirtschaft und des Laissez-faire-Rechts zu unterstützen.

Währenddessen begannen Unternehmen wie Microsoft damit, die Allgegenwärtigkeit ihrer Software zu benutzen, um sie weniger flexibel zu gestalten. Windows ist verschlossen, aufgebläht und teuer. Indem Microsoft unsere Notwendigkeit nach Kompatibilität ausbeutet, kann sie uns zum Kauf neuer Softwareversionen zwingen, die neue Hardware erforderlich werden läßt usw.

Noch schlimmer ist, daß ohne Präsenz der Regierung die zivilen Räume im Internet ohne Einspruch zusammenbrechen. Das Usenet verschwand in Vergessenheit, andere Institutionen, die freien Informationszugang anbieten, benötigen permanent neue Gelder, um mithalten zu können, ihre Systeme den neuen, von der Industrie gesetzten Standards anzupassen.

Die Radiofrquenzen werden an diejenigen verkauft, die am meisten bieten, und privatwirtschaftliche Firmen, nicht wissenschaftliche Stiftungen, profitieren von der Vergabe der Domain-Namen und -Adressen.

Das sind die Gründe, warum ich mich, vielleicht ein wenig widerwillig, mit den Menschen verband, die ich früher als Vertreter einer "Ordnungspolitik" verstand. In früheren Zeiten baute und betrieb die Regierung so etwas wie öffentliche Bibliotheken und öffentliche Parks. Vielleicht kann sie dasselbe im Internet machen. Zumindest wäre das einen Versuch wert. Und so lange diese Leistungen von Menschen unterstützt und gelenkt werden, die die Meinungsfreiheit schätzen und vor Unterdrückung bewahren, können auch jene in Schranken gehalten werden, die dazu neigen, ihre Macht zu mißbrauchen.

Ich glaube wirklich, daß die Technorealisten für die große Mehrheit sprechen, die der ziemlich richtigen Meinung ist, die Technik werde die menschliche Evolution erweitern, wenn sie auf rationale und menschliche Weise eingesetzt wird. Die im Manifest ausgeführten einfachen Punkte, daß Information nicht Wissen ist, daß die Vernetzung der Schulen alleine diese nicht retten wird, daß die Regierung eine Rolle an der elektronischen Frontier spielen muß, wollen alle den gesunden Menschenverstand bekräftigen und einen blinden Utopismus genauso wie eine verängstigte Paranoia bekämpfen. Aber obgleich solche Schlußfolgerungen völlig offensichtlich sind, hat das Manifest der Technorealisten Ärger, abfällige Bemerkungen und im wesentlichen grundlose Kritik von vielen Seiten ausgelöst.

Michael Kinsley beispielsweise, der Chefredakteur von Micsosofts gebührenpflichtigem Online-Magazin Slate, griff das technorealistische Manifest, das er, wie er selbst sagte, niemals gelesen hatte, nur auf der Grundlage der vermeintlichen Absichten der Autoren an, die er aus einem Artikel über diese in einer großen Zeitung aus New York gefunden hatte. Das ist genau die grundlose reaktionäre Haltung, die im Internet derart überwiegt und die der Technorealismus zu beschränken sucht. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Kinsley und andere sich so darüber aufregen.

Der Technorealismus läßt die zentrifugale Kraft deutlich werden, mit der das Internet gerne alle Diskussionen in extreme Positionen polarisiert. Wie der Pfosten in der Mitte eines Karussels gibt es uns allen etwas Festen, um sich festzuklammern, während die Welt sich immer schneller dreht.