Der Traum vom Großtürkischen Reich

Seite 2: Erdogans Vision und die Reaktion der Anderen

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Das vor hundert Jahren untergegangene Osmanische Reich verkörpert für Erdogan Glanz und Macht im Mittleren Osten, so soll "seine" Türkei jetzt auch wieder werden. Mit seiner Geschichtsdeutung bedient er nationalistische Gefühle, wie es auch Hitler tat. Ähnlich wie Hitler, der Deutschland fremdgesteuert wähnte, stellt Erdogan die Türkei als ein von fremden Mächten drangsaliertes Land dar.

Erdogan und Ankaras Oberbürgermeister, Ibrahim Melih Gökçek, stellen den Lausanner Vertrag in Frage. Sie erheben Anspruch auf die griechischen Inseln Tilos, Lesbos, Chios, Samos, Ikaria und Kreta. Der Lausanner Vertrag von 1923 teilte nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches das Gebiet neu auf. Griechenland reagierte empört. Ministerpräsident Tsipras warnte, es sei gefährlich für die bilateralen Beziehungen und die ganze Region, das Lausanner Abkommen infrage zu stellen.

Der Chefredakteur der gemäßigten türkischen Tageszeitung Hürriyet Daily News fragte vorsichtig, was denn falsch sei am Vertrag von Lausanne. Schließlich galt dieser bisher als Symbol der Unabhängigkeit. Ankaras Oberbürgermeister twitterte dazu: "Ihr Klugscheisser, die den 'treaty of lausanne' unterstützen; hier sind die Inseln, die direkt neben uns sind und die wir an die Griechen geben mussten. Und Ihr bezeichnet Lausanne als Erfolg!"

Die superintelligenten Lausanner! Schaut her; die blau markierten Gebiete/Inseln haben wir im Vertrag von Lausanne an die Griechen gegeben … und ihr feiert Lausanne als Sieg?? Erfolg??

Tweet aus dem Ruhrbaron-Artikel

Erdogan geht es mit dem Hinweis auf den Lausanner Vertrag nicht nur um die griechischen Inseln. Er erhebt auch Anspruch auf das nordirakische Mosul. In einem Interview Anfang Oktober erklärte er, nach der Befreiung der Stadt Mosul vom IS dürften dort nur sunnitische Araber, Turkmenen und sunnitische Kurden leben.

Die irakische Regierung wies dies scharf zurück und forderte den Abzug der türkischen Soldaten aus dem Irak. Man habe die Türkei nie um Unterstützung gebeten und betrachte die türkischen Soldaten als Besatzer. Anfang Oktober hatte die Türkei beschlossen, den Militäreinsatz in Syrien und im Irak um ein weiteres Jahr zu verlängern.

Die Türkei scheint es aber nicht nur auf Mosul abgesehen zu haben. Sie hat, Experten zufolge, mit der sunnitisch-arabischen Bevölkerung des Nordiraks eine Milizkraft mit dem Namen al-Hashd al-Watani (dt. Nationale Mobilmachung) gegründet. An der Spitze dieser Miliz steht der ehemalige Gouverneur von Mosul, der nach dem kampflosen Verlust der Stadt an den IS abgesetzt wurde.

Diese Miliz soll zusammen mit den Barzani unterstehenden Peschmerga der KDP maßgeblich bei der Befreiung Mosuls mitwirken. Die Stadt soll dann den Milizen der al-Hashd al-Watani übergeben werden, wobei anzunehmen ist, dass die meisten IS-Kämpfer zu dieser sunnitischen Miliz überlaufen werden. Dann könnte es sein, dass die türkische Armee mit den sunnitischen Milizen in westliche Richtung nach Tal Afar vorstoßen. Die überwiegend turkmenische Stadt ist derzeit ebenfalls unter der Kontrolle des IS.

Danach würde das nächste Angriffsziel Shengal heißen, das derzeit von den ezidischen Selbstverteidigungseinheiten der YBŞ und den Volksverteidigungskräften der HPG kontrolliert wird. Somit hätte die türkische Regierung im Verbund mit den sunnitischen Milizen und der KDP das gesamte Gebiet von Mossul bis an die Grenze Rojavas unter Kontrolle. Damit könnte sie den Einfluss der PKK in der Region schwächen, was auch im Sinne Barzanis wäre. Und vom Nordirak aus könnte sie dann auch die verhasste demokratische nordsyrische Föderation, kurz Rojava, angreifen. Die Politiker aus Rojava sehen diese Gefahr ebenfalls.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die Türkei einen schleichenden Faschisierungsprozess durchläuft, der von den westlichen Regierungen entweder unterschätzt oder billigend in Kauf genommen wird. Historisch gesehen kann man festhalten, dass bspw. die NATO bis heute kein Problem mit faschistischen Regimen in ihren Reihen hatte, solange sie ihren Interessen dienlich waren. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei der Türkei hier um ein aktuelles Beispiel handelt.