Der Trennungskrieg
Erfahrungsbericht von einer Woche im Gaza-Streifen: Mit Raketenangriffen und Hauszerstörungen bereitet Israels Militär den Boden für den Abzug aus Gaza
Rund zwei Wochen nach Beginn von "Operation Regenbogen" wurde die Lage im Gazastreifen im Laufe der vergangenen Woche immer gespannter. Mit jedem Todesopfer steigt in dem am dichtesten besiedelten Gebiet der Welt die Wut der Palästinenserinnen und Palästinenser. Währenddessen lässt sich die israelische Armee weder von der heftigen Kritik im In- und Ausland noch von den massiven Opferzahlen beeindrucken und setzt die Operation mit unverminderter Härte fort. Denn wenn der israelische Abzug aus Gaza beginnt, soll keine extremistische Gruppe behaupten können, sie habe die Israelis zur Räumung veranlasst. Für die Menschen bedeutet dies ein Leben in ständiger Angst. Und viel Leid - ein Erfahrungsbericht.
Es ist einer dieser Momente, an denen man lieber woanders wäre. Der Taxifahrer hat zu Beginn einer nur schlecht asphaltierten Straße angehalten. Während er aus dem Wagen steigt, deutet er auf ein zweistöckiges Haus auf der linken Seite. Es sieht aus wie viele hier, im Gazastreifen: halbfertig, mit seiner unverputzten Fassade aus Zement und Stein. Ein Dach über dem Kopf eben, in einer Gegend, in der Platz und Geld rar sind. Ein paar Meter weiter hat sich eine Gruppe Menschen um einen Berg Hausrat versammelt, beobachtet von einem israelischen Panzerwagen, der sich am anderen Ende der Straße postiert hat. Der Vater, dessen Familie in dem Haus lebt, erklärt:
Die Soldaten sind heute morgen um sechs Uhr gekommen und haben uns gesagt, dass wir unser Haus bis zum Mittag verlassen haben müssen. Eine Begründung haben wir nicht bekommen.
Der Fahrer drängt zum Aufbruch. Soldaten bewegen sich auf die Gruppe zu und signalisieren damit, dass es jetzt jeden Moment losgehen und diese unscheinbare Straße am Rande Rafahs zur Kampfzone werden kann. In der Tat durchbricht plötzlich ein dumpfer Knall aus dem Nirgendwo die Stille. Und das Haus, einst Heimat von zehn Menschen, sinkt in einer Staubwolke in sich zusammen. Während das Taxi rückwärts in eine Seitenstraße rast, ertönt ein spitzer Schrei, einer, wie ihn nur ein Mensch erzeugen kann, der gerade alles verloren hat. Schüsse sind zu hören. Woher sie kommen, wer sie abfeuert, bekommen die Insassen des Taxis nicht mehr mit. Es ist Montag, drei Tage, nachdem die Reise in den Gazastreifen begonnen hat.
Strategie der harten Hand
Am Freitag Nachmittag, bei der Abreise in Jerusalem, war die politische und strategische Situation noch sehr klar gewesen. Seit dem Referendum der Likud-Mitglieder Anfang Mai sind im Gazastreifen elf Israelis getötet worden, so viele wie nie zuvor in nur zwei Wochen. Der Generalstab, davon ausgehend, dass der Abzug aus Gaza trotz der Ablehnung der Likud-Mitglieder kommen wird, hatte diese Gelegenheit genutzt, um seine "Operation Regenbogen" durchzusetzen: Der Sicherheitskorridor zwischen Gazastreifen und Ägypten, den Israel auch nach einer Räumung besetzt halten will, solle auf eine Breite von durchgehend eineinhalb Kilometer verbreitert und mit einem tiefen, mit Wasser gefüllten Kanal versehen werden, um das Graben von Tunneln unter der Grenze hindurch unmöglich zu machen.
Durch eine Strategie der harten Hand sollten zudem extremistische Gruppen geschwächt werden: Häuser, aus denen heraus Truppen beschossen werden, sollten genauso zerstört werden, wie Gebäude, in denen Tunneleingänge oder Bombenwerkstätten gefunden wurden. Auf keinen Fall, so die Theorie, sollen sich die palästinensischen Extremisten Israels Rückzug aus Gaza auf die Fahnen schreiben können. Und noch viel weniger sollen sie danach über die Waffen, die Gewehre und Raketen verfügen, die die israelischen Ortschaften in direkter Nähe des Gazastreifens bedrohen.
Auf der Fahrt durch die Straßen von Rafah deutet der Fahrer von Zeit zu Zeit auf bewaffnete Männer. "Kalaschnikow," sagt er. Und: "Galil" - ein israelisches Sturmgewehr, mit dem normalerweise israelische Soldaten ausgerüstet sind . Auch eine M-16, ein ziemlich teures und deshalb auch in Israel recht rares Sturmgewehr, ist zu sehen. Ob es sich bei den Männern um palästinensische Sicherheitskräfte oder Angehörige militanter Gruppen handelt, ist unklar. Die Grenzen können ohnehin fließend sein, in einer belagerten Gesellschaft. Der Fahrer sagt:
Wer eine Waffe braucht, kann sich jederzeit eine beschaffen. Die Schmuggler bringen soviel durch die Tunnel unter der Grenze hindurch, wie möglich - dazu sind sie da.
Die Armeeführung hatte schon seit Langem darüber geklagt, dass man bei der Fahndung nach den Tunneln immer zwei Schritte hinterher hinkte und eine breit angelegte Operation gefordert. Nach der Ermordung einer Mutter und ihrer vier Kinder Anfang Mai und dem Tod von sechs Soldaten vor zwei Wochen schien auch den Politikern die Zeit dafür gekommen, zumal man auf die Zustimmung der israelischen Öffentlichkeit hoffen konnte, die auf den gewaltsamen Tod von Israelis normalerweise mit Rufen nach Vergeltung antwortet.
Der Konsens in der israelischen Gesellschaft hat sich verschoben
Doch diesmal versagten weite Teile der Öffentlichkeit der Regierung die Gefolgschaft. Schon kurz nachdem "Operation Regenbogen" begonnen hatte, war diese auf massive Kritik von Menschenrechtlern und Oppositionspolitikern gestoßen, die dem Militär vorwarfen, allein bis zum vorangegangenen Wochenende 116 Häuser und damit die Heimat von 198 Familien oder 1.160 Menschen zerstört zu haben, wie die Organisation BeTselem in einer Statistik vorrechnete. Und die konservative Zeitung Jedioth Ahronoth kommentierte unter dem Titel "Das Blut unserer Kinder", einer biblischen Anspielung:
Es ist schwer einer Mutter, deren Sohn auf bestialische Art und Weise getötet wurde, weil ein paar tausend Menschen meinen, inmitten von Feindesland wohnen zu müssen, zu erklären, dass ihr Fleisch und Blut für die Verteidigung des jüdischen Staates gefallen ist.
Der Konsens innerhalb der israelischen Gesellschaft habe sich in den vergangenen Monaten verschoben, erklärt der Politologe Ascher Arian, Experte für Wählerbewegungen in Israel, diese Entwicklung:
Die Debatte über den Trennungsplan hat die Siedler der israelischen Öffentlichkeit entfremdet. Die Siedler im Gazastreifen werden nicht mehr als menschliche Schutzschilde für die Sicherheit Israels, sondern als Störfaktoren gesehen. Denn mit der Vorlage seines Trennungsplanes hat Scharon der Öffentlichkeit auch zu verstehen gegeben, dass ein Gaza ohne Israelis gleichzeitig das Ausbleiben von toten Israelis in Gaza bedeutet. Dass dann auch noch ein kleiner Teil der Gesellschaft, die Likud-Mitglieder, über die Umsetzung des Planes entscheiden durfte, stößt zudem auf Unverständnis: Viele haben das Gefühl, dass die Siedler ihnen ihren Willen aufdrücken. Das politische Chaos nach dem Referendum hinzu genommen, fällt es der Regierung derzeit ausgesprochen schwer, ihre Handlungen einer breiten Öffentlichkeit zu erklären.
Vor allem deshalb hatte das Militär am Donnerstag vergangener Woche erstmals seit zwei Jahren auch israelischen Journalisten wieder erlaubt, in den Gazastreifen zu reisen. Wenn die Berichterstatter, so die Hoffnung, die Situation der israelischen Soldaten im Gazastreifen mit eigenen Augen sehen, würden sie der israelischen Öffentlichkeit schon vermitteln, worum es bei "Operation Regenbogen" geht und um Verständnis werben.
So waren die Militärsprecher nach der Ankunft in Gaza ausgesprochen auskunftsfreudig gewesen, hatten am Samstag einen Besuch an der Grenze zu Ägypten und Interviews mit Offizieren arrangiert, die über den ständigen Beschuss aus den an der engsten Stelle des Sicherheitsstreifens nur einen halben Kilometer entfernten Häuserfronten und den Unwillen der ägyptischen Behörden sprachen, die Grenze zum Gazastreifen adäquat zu schützen. Deshalb, so ihr Credo, sei es nötig, die Pufferzone zu verbreitern: "Es werden nur so viele Gebäude abgerissen, wie unbedingt notwendig," hatte ein Offizier gesagt.
Doch am Sonntag hatte der Plan des Militärs begonnen, erste Ermüdungserscheinungen zu zeigen: Zwar entschied der Oberste Gerichtshof in Jerusalem an diesem Tag, die Zerstörung von Gebäuden sei rechtens, wenn sie der Sicherheit diene. Doch die Berichte der wenigen israelischen Journalisten, die sich in den Gazastreifen gewagt hatten, waren vernichtend gewesen, zumal herausgekommen war, dass die Kooperation der Ägypter derzeit nicht am Willen, sondern am Friedensvertrag von Camp David scheitert: Darin ist festgelegt, dass der Nachbarstaat auf der Sinai-Halbinsel nur eine kleine, schwach bewaffnete Polizeitruppe stationieren darf. Regierungschef Scharon musste deshalb öffentlich eingestehen, dass die beiden Regierungen derzeit Geheimverhandlungen über eine Änderung des Vertrages führen.
Die Propagandamaschine läuft auf Hochtouren
In Gaza zeigte die Kritik aus der Heimat sofortige Wirkung: Das Militär stellte die Zusammenarbeit mit den Korrespondenten ein; die Grenzübergänge nach Israel wurden ohne vorherige Ankündigung für jeglichen Verkehr in beide Richtungen geschlossen, während in Rafah mit unvermindertem Tempo Häuser zerstört wurden und über Gaza-Stadt die Kampfhubschrauber kreisten, bis sie von Zeit zu Zeit ihre tödliche Fracht entluden.
Wie zum Beispiel über Orten wie diesem: Am Montag Abend steht ein älterer Mann in Gaza vor einem Haufen Schutt, der einmal seine Schlosserwerkstatt gewesen ist. In der Nacht zuvor hatten Hubschrauber eine oder mehrere Luft-Boden-Raketen auf das freistehende Gebäude gefeuert, in dem sich nach Angaben des Besitzers zu der Zeit sein 24jähriger Sohn aufhielt. Noch suchen Helfer des Roten Halbmondes in den Trümmern nach ihm; Hoffnung ihn noch lebend zu finden, hat niemand hier. Vermutlich wird er Teil einer dieser sich ständig nach oben ändernden Statistiken werden, die Menschen auf eine Zahl reduzieren.
In einer knappen Mitteilung hatte das Militär am Morgen mitgeteilt, es sei eine Bombenwerkstatt zerstört worden. Der Besitzer weist dies weit von sich. Wer Recht hat? Das lässt sich in diesen Tage, in denen die Propagandamaschinen auf beiden Seiten auf Hochtouren laufen, nie so genau sagen. Fakt ist, dass in den vergangenen beiden Wochen mehr als ein Dutzend Werkstätten und Lagerhallen in Schutt und Asche gelegt wurden.
Ze'ew Schiff, Kommentator der Zeitung HaAretz, bezweifelt, dass es sich dabei immer um Fabriken für Waffen und Bomben gehandelt hat: "Mir scheint, als wird hier nach dem Gießkannen-Prinzip vorgegangen," sagt er. Zuständig für die Informationsbeschaffung sei der Inlandsgeheimdienst Schin Beth. Doch der habe im Gazastreifen nur sehr wenige Quellen:
Deshalb wird einfach jedes in Frage kommende Objekt zum Ziel gemacht, in der Hoffnung, möglichst viele Volltreffer zu landen.
"Warum lasst ihr das zu?"
Am Dienstag wird die Lage zunehmend unübersichtlicher. Es scheint, als wolle das Militär, in der weisen Ahnung, dass es bald vorbei sein wird, so viel aus der Operation herausholen wie möglich. Immer öfter sind an diesem Tag die typischen Explosionen zu hören, die von überall und nirgendwo zu kommen scheinen, bis am Himmel eine Staubwolke zu sehen ist und den Ort der Explosion verrät. Aus der Ferne sind den ganzen Morgen Schüsse zu hören. Die Bitte, noch einmal an den südlichen Stadtrand von Rafah gefahren zu werden, lehnt der Taxifahrer ab: "Es wird Ärger geben," sagt er und zeigt statt dessen das tägliche Leben der Bewohner von Gaza-Stadt: Die Männer, die ihre Tage im Teehaus verbringen, weil sie keine Arbeit haben. Das Villenviertel der Reichen, in dem Palmen die Straße säumen und sorgsam gepflegte Gärten einen Anschein von Normalität vermitteln. Die Supermärkte, in denen die immer weniger werdenden Produkte zu immer höheren Preisen angeboten werden. Gaza ist eine Stadt der Gegensätze, eine Stadt, in der immer ärmer werdende Menschen immer mehr Geld brauchen.
Und Gaza ist eine Stadt der Wut, in dem Moment, in dem die Nachricht des Tages die Runde macht: Das Militär habe in Rafah 20 Demonstranten getötet, ist zu hören. Urplötzlich wendet sich die Atmosphäre. Die Ausländer werden beschimpft. "Warum lasst Ihr das zu?", ruft ein Mann wutentbrannt; der Taxifahrer versucht zu erklären, zu beruhigen, bevor er seine Passagiere zurück in Richtung Wagen drängt. Später erzählen Kollegen, dass der Korrespondent der New York Times in Rafah nur knapp einem Entführungsversuch entgangen ist.
Auf der Fahrt zurück in die Unterkunft sind am Himmel wieder Hubschrauber und Kampfflugzeuge zu sehen. Sie kreisen. Immer und immer wieder, bis man ihren Lärm und die Angst nicht mehr ertragen kann. Raketen kennen kein Gut und Böse, nur ihr programmiertes Ziel. Und das kann in diesen Tagen überall sein.
Es bleiben zwei Tage in Gaza, bis die Grenze wieder für Journalisten geöffnet wird. Zwei Tage, in denen die Armee Rafah besetzt, Straßensperren errichtet, jedes Haus durchsucht, der Sicherheitsrat Israel verurteilt, bevor Generalstaatsanwalt Menachem Mazuz die Militärführung am Donnerstag Nachmittag anweist, nach Alternativen zur Verbreiterung der Sicherheitszone zu suchen, und die Panzer angeblich wieder aus den besetzten Stadtteilen abziehen. Daran, auf die Straße zu gehen, die Informationen zu überprüfen, ist in dieser Zeit nicht zu denken: BeTselem meldet, die Armee habe Rafah weiterhin abgeriegelt, mache weiter wie bisher, und die Informationen der Gruppe sind in der Regel zu gut, um sie von der Hand zu weisen; Gerüchte über neue Entführungsversuche machen die Runde. Wer verzweifelt ist, greift nach jedem Strohhalm. Wer nach der Macht strebt, dem ist jedes Mittel recht. Auf beiden Seiten. Wenn Beides vermischt die kritische Masse erreicht, ist der Moment gekommen, an dem man als Außenstehender besser woanders sein sollte.
Am Donnerstag Abend endet die Reise in Jerusalem. Die Menschen erledigen ihre letzten Einkäufe vor Geschäftsschluss; die Cafés sind so gut gefüllt wie schon lange nicht mehr. Vom Krieg, der nur 60 Kilometer Luftlinie südwestlich von hier stattfindet, ist an diesem Abend nichts zu spüren. Es ist eine andere Welt.