Der Ukraine-Krieg wird enden. Die Frage ist wann und wie

Seite 2: 1. De-facto-Teilung

Wenn – und hier muss ich angesichts der immer wieder unvorhergesehenen Entwicklungen in diesem Krieg das Vorbehaltliche betonen – wenn Putins Armee die gesamte Donbass-Region sowie die gesamte Schwarzmeerküste einnimmt und die Ukraine dadurch kleiner und landumschlossen wird, könnte er seine "militärische Sonderoperation" für erfolgreich erklären, einen Waffenstillstand ausrufen, seine Kommandeure anweisen, die neu besetzten Gebiete zu befestigen und zu verteidigen, und die Ukrainer vor die Wahl stellen, die russischen Truppen zu vertreiben oder sich mit einer De-facto-Teilung des Landes zufrieden zu geben.

Putin könnte auf alle ukrainischen Bemühungen, verlorene Gebiete zurückzuerobern, mit Luft- und Raketenangriffen reagieren. Diese würden den enormen wirtschaftlichen Schaden, den die Ukraine bereits erlitten hat, nur noch verschlimmern. Dazu gehören nicht nur die beschädigte oder zerstörte Infrastruktur und Industrie, ein monatliches Haushaltsdefizit von fünf Milliarden Dollar und ein voraussichtlicher Rückgang des BIP um 45 Prozent in diesem Jahr, sondern auch Einnahmeverluste in Milliardenhöhe, weil die wichtigsten Exportgüter nicht über das von Russland beherrschte Schwarze Meer verschifft werden können. Eine Schätzung der Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine vom April reichte von 500 Milliarden bis zu eine Billion Dollar, was Kiew weit überfordert.

Angenommen, die Ukraine würde einer Teilung zustimmen, so würde man ein beträchtliches Territorium einbüßen. Präsident Wladimir Selenski müsste im eigenen Land mit einer heftigen Gegenreaktion rechnen. Dennoch könnte er kaum eine andere Wahl haben, da die wirtschaftliche und militärische Belastung durch endlose Kämpfe für die Ukraine unerträglich werden könnte.

Auch die westlichen Unterstützer der Ukraine könnten kriegsmüde werden. Sie haben gerade erst begonnen, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges und der gegen Russland verhängten Sanktionen zu spüren, die zunehmen werden. Die Sanktionen haben Russland zwar tatsächlich geschadet, aber sie haben auch dazu beigetragen, dass die Energie- und Lebensmittelpreise im Westen in die Höhe geschossen sind (auch wenn Putin davon profitiert, indem er sein Öl, Gas und seine Kohle zu höheren Preisen verkauft).

Die Inflationsrate in den USA ist mit 8,6 Prozent im Mai die höchste seit 40 Jahren gewesen, während das Haushalts-Büro des US-Kongresses seine Schätzungen für das Wirtschaftswachstum – 3,1 Prozent in diesem Jahr – auf 2,2 Prozent für 2023 und 1,5 Prozent für 2024 gesenkt hat. Und das alles, während die Zwischenwahlen bevorstehen und die Zustimmungswerte von Präsident Biden, die jetzt bei 39,7 Prozent liegen, weiter sinken.

Auch in Europa gibt es wirtschaftliche Probleme. Die Inflation in der Eurozone lag im Mai bei 8,1 Prozent, dem höchsten Wert seit 1997, und die Energiepreise explodierten. Innerhalb weniger Tage nach der russischen Invasion stiegen die europäischen Erdgaspreise um fast 70 Prozent, und der Ölpreis erreichte mit 105 Dollar pro Barrel ein Achtjahreshoch.

Und die Krise geht weiter. Die Inflation in Großbritannien ist mit 8,2 Prozent die höchste seit 1982. Am 8. Juni erreichten die Benzinpreise dort ein 17-Jahres-Hoch. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geht davon aus, dass die französische, die deutsche und die italienische Wirtschaft (die drei größten in Europa) für den Rest des Jahres schrumpfen werden, wobei nur Frankreichs Wirtschaft im vierten Quartal ein schwaches Wachstum von 0,2 Prozent verzeichnen wird. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob Europa und die USA auf eine Rezession zusteuern, aber viele Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer halten dies für wahrscheinlich.

Der wirtschaftliche Gegenwind könnte zusammen mit dem Nachlassen der anfänglichen Euphorie, die durch die beeindruckenden Erfolge der Ukraine auf dem Schlachtfeld ausgelöst wurde, zu einer Ukraine-Müdigkeit im Westen führen. Der Krieg hat bereits an Bedeutung in den Schlagzeilen verloren. In der Zwischenzeit könnten die größten Unterstützer der Ukraine, darunter auch die Regierung Biden, bald mit den wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen im eigenen Land beschäftigt sein und immer weniger Interesse daran haben, weiterhin Milliarden von Dollar an Wirtschaftshilfe und Waffen zu liefern.

Die Kombination aus Ukraine-Müdigkeit und russischen militärischen Erfolgen, wie schmerzhaft und brutal sie auch sein mögen, könnte genau das sein, worauf Wladimir Putin setzt. Die westliche Koalition aus mehr als drei Dutzend Staaten ist sicherlich beeindruckend, aber er ist klug genug, zu wissen, dass Russlands Vorteile auf dem Schlachtfeld es für die USA und ihre Verbündeten immer schwieriger machen könnten, ihre Einheit aufrechtzuerhalten.

In Frankreich, Italien und Deutschland wurde die Möglichkeit von Verhandlungen mit Putin am Rande bereits erwähnt. Die Ukraine wird weder wirtschaftlich noch militärisch vom Westen abgekoppelt. Aber es könnte sein, dass das Land trotz Solidaritätsbekundungen mit der Zeit immer weniger auf westliche Unterstützung zählen kann.

All das könnte wiederum die Voraussetzungen für ein De-facto-Teilungsszenario schaffen.