Der Ukraine-Krieg wurde provoziert: Warum das für Frieden zentral ist

Seite 2: Der Elefant im Raum: Die Vergrößerung der Nato

2008 schickte der damalige US-Botschafter in Russland und heutige CIA-Direktor William Burns ein Telegramm nach Washington, in dem er ausführlich vor den ernsten Risiken der Nato-Erweiterung warnte:

Die Nato-Bestrebungen der Ukraine und Georgiens treffen nicht nur einen wunden Punkt in Russland, sondern geben auch Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Folgen für die Stabilität in der Region. Russland sieht darin nicht nur eine Einkreisung und Bestrebungen, Russlands Einfluss in der Region zu untergraben, sondern befürchtet auch unvorhersehbare und unkontrollierbare Folgen, die russische Sicherheitsinteressen ernsthaft beeinträchtigen würden. Experten zufolge ist Russland besonders besorgt darüber, dass die starken Meinungsverschiedenheiten in der Ukraine über die Nato-Mitgliedschaft – ein Großteil der ethnisch-russischen Gemeinschaft ist gegen den Beitritt – zu einer größeren Spaltung führen könnten, die mit Gewalt oder schlimmstenfalls mit einem Bürgerkrieg einhergeht. In einem solchen Fall müsste Russland entscheiden, ob es eingreift; eine Entscheidung, die Russland nicht treffen möchte.

Die ukrainische Führung wusste ganz genau, dass ein Drängen auf eine Nato-Erweiterung auf ukrainisches Territorium Krieg bedeuten würde. Der ehemalige Selenskyj-Berater Oleksij Arestowytsch erklärte in einem Interview 2019, "dass unser Preis für den Nato-Beitritt ein großer Krieg mit Russland ist."

Zwischen 2010 und 2013 setzte Janukowitsch im Einklang mit der öffentlichen Meinung in der Ukraine auf Neutralität. Die USA arbeiteten verdeckt daran, Janukowitsch zu stürzen, wie ein Audio-Mitschnitt der damaligen stellvertretenden US-Außenministerin Victoria Nuland und des US-Botschafters Geoffrey Pyatt zeigt, die Wochen vor dem gewaltsamen Sturz Janukowitschs die Nachfolgeregierung planten.

Nuland macht in dem Telefonat deutlich, dass sie sich eng mit dem damaligen Vizepräsidenten Biden und seinem nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan abstimmte, demselben Team aus Biden, Nuland und Sullivan, das jetzt im Mittelpunkt der US-Politik gegenüber der Ukraine steht.

Nach dem Sturz Janukowitschs brach der Krieg im Donbass aus, während Russland die Krim beanspruchte. Die neue ukrainische Regierung beantragte die Nato-Mitgliedschaft, und die USA bewaffneten die ukrainische Armee und halfen ihr bei der Umstrukturierung, damit sie mit der Nato gemeinsam operieren konnte. Im Jahr 2021 sprachen sich die Nato und die Biden-Regierung mit Nachdruck für eine Zukunft der Ukraine in der Nato aus.

Im unmittelbaren Vorfeld des russischen Einmarsches stand die Nato-Erweiterung im Mittelpunkt. Putins Entwurf für den Vertrag zwischen den USA und Russland (17. Dezember 2021) forderte einen Stopp der Nato-Erweiterung. Auf der Sitzung des russischen Nationalen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022 bezeichnete die russische Führung die Nato-Erweiterung als Kriegsursache. In seiner Ansprache an die Nation an diesem Tag erklärte Putin die Nato-Ausdehung zu einem zentralen Grund für die Invasion.

Der Historiker Geoffrey Roberts schrieb kürzlich:

Hätte der Krieg durch ein russisch-westliches Abkommen verhindert werden können, in dem die Nato-Erweiterung gestoppt worden wäre und eine neutralisierte Ukraine im Gegenzug Garantien für eine ukrainische Unabhängigkeit und Souveränität erhalten hätte? Durchaus möglich.

Im März 2022 meldeten Russland und die Ukraine Fortschritte auf dem Weg zu einer schnellen Beendigung des Krieges auf der Grundlage der Neutralität der Ukraine durch Verhandlungen. Nach Angaben von Naftali Bennett, dem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten, der als Vermittler fungierte, war eine Vereinbarung in greifbare Nähe gerückt, bevor die USA, Großbritannien und Frankreich sie blockierten.

Während die Biden-Regierung die russische Invasion als nicht provoziert bezeichnete, bemühte sich Russland 2021 um diplomatische Optionen, um einen Krieg zu vermeiden, doch Biden lehnte Diplomatie ab und bestand darauf, dass Russland in der Frage der Nato-Erweiterung kein Mitspracherecht habe. Im März 2022 drängte Russland auf Verhandlungen, während das Biden-Team erneut eine diplomatische Beendigung des Krieges blockierte.

Wenn wir erkennen, dass die Frage der Nato-Erweiterung im Mittelpunkt dieses Krieges steht, verstehen wir, warum die Waffen der USA diesen Krieg nicht beenden werden. Russland wird eskalieren, soweit es notwendig ist, um die Erweiterung der Nato um die Ukraine zu verhindern.

Der Schlüssel zum Frieden in der Ukraine besteht in Verhandlungen auf der Grundlage der Neutralität der Ukraine und der Nicht-Erweiterung der Nato. Das Beharren der Biden-Administration auf der Nato-Vergrößerung um die Ukraine hat die Ukraine zu einem Opfer falsch verstandener und unerreichbarer militärischer Bestrebungen der USA gemacht.

Es ist an der Zeit, dass die Provokationen aufhören und Verhandlungen zur Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine geführt werden.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Common Dreams. Übersetzung: David Goeßmann.

Jeffrey D. Sachs ist Universitätsprofessor und Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er von 2002 bis 2016 das Earth Institute leitete. Außerdem ist er Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network und Kommissar der UN Broadband Commission for Development. Er war Berater von drei Generalsekretären der Vereinten Nationen und ist derzeit SDG-Beauftragter von Generalsekretär Antonio Guterres. Sachs ist der Autor des kürzlich erschienenen Buches "A New Foreign Policy: Jenseits des amerikanischen Exzeptionalismus" (2020). Zu seinen weiteren Büchern gehören: "Building the New American Economy: Smart, Fair, and Sustainable" (2017) und "The Age of Sustainable Development," (2015) mit Ban Ki-moon.

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