Der Westen beginnt im Osten der EU
Seite 2: Mit der massenhaften Arbeitsmigration soll die Ukraine stärker an den Westen gebunden werden
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Präziser formuliert: Die großzügige Vergabe von Arbeitsvisa an ukrainische Migranten durch Polen ist auch geopolitisch motiviert. Hierdurch wird die Abkopplung der Ukraine aus dem geopolitischen und auch ökonomischen Orbit der Russischen Föderation beschleunigt. Durch die weitgehende Kappung der traditionellen ökonomischen Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine nach dem prowestlichen Regierungsumsturz, die ja noch zu Sowjetzeiten ausgebildet worden waren, wurde die ukrainische Wirtschaftsmisere zusätzlich verschärft. Die rasch anschwellende Arbeitsmigration gen Westen wirkt dem nun als eine Art soziales Ventil entgegen.
Der nationalistische und sozioökonomisch weitgehend zusammengebrochene Westen der Ukraine, dessen faschistische Gruppierungen führend an dem Umsturz in Kiew beteiligt waren (Ukraine über alles), erhält so eine wirtschaftliche Lebensader. Die Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten dürfen in der Westukraine inzwischen einen ähnlich großen sozioökonomischen Stellenwert einnehmen, wie es in Polen kurz nach dem EU-Beitritt der Fall war.
Arbeitsmigration in den europäischen Schwarzmarkt
Inzwischen mehren sich die Signale, dass diese Linie, mittels massenhafter Arbeitsmigration die Ukraine stärker an den Westen zu binden, auch von der EU übernommen wird. Die Abschaffung der Visapflicht für Ukrainer in der EU kann als ein erster Schritt in diese Richtung verstanden werden. Seit dem 11. Juni können sich ukrainische Staatsbürger visafrei in der EU, in der Schweiz, in Norwegen, in Liechtenstein und Island bewegen. Da Ukrainer in der EU weiterhin ein Arbeitsvisum brauchen, öffnet diese Regelung der illegalen Arbeitsmigration - als einer ersten Stufe der ukrainischen Westwanderung - Tür und Tor.
Polnische Unternehmerverbände befürchten bereits, dass der Zustrom billiger und williger Arbeitskräfte, der das niedrige Lohnniveau in Polen aufrechterhält, sich bald weiter nach Westen verlagern wird, wie The Economist ausführte:
Polnische Firmen sind nun besorgt, dass der Strom billiger Arbeit bald versiegen wird. Neue Regeln, die im Mai eingeführt worden sind, erlauben es Ukrainern, 90 Tage lang in die EU (aber nicht in Großbritannischen und Irland) ohne Visum zu reisen. Sie können nicht arbeiten, aber polnische Unternehmer sorgen sich, dass dies sich mit der Zeit ändern wird - und dass viele Ukrainer in der Zwischenzeit sich auf den Schwarzmarkt in Westeuropa als Tagelöhner durchschlagen werden. In den vergangenen Wochen haben viele ukrainische Arbeitsmigranten polnische Zeitarbeitsfirmen aufgesucht, um sich nach Arbeitsmöglichkeiten weiter im Westen zu erkundigen.
The Economist
Polen dürfte somit nur eine erste Zwischenstation bei dieser großen Westwanderung ukrainischer Arbeitskräfte bilden. Politisch ist die polnische wie europäische Politik, die die ukrainische Migrationsbewegung befördert, durch zwei Faktoren motiviert: Einerseits kann so der Druck zur Anhebung des Lohnniveaus vermindert werden - die gilt insbesondere für das Niedriglohnland Polen -, andererseits wird durch die liberale Migrationspolitik die Herauslösung der Ukraine aus dem geopolitischen Orbit Russlands befördert. Die Kappung der vielfältigen sozioökonomischen Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine wird durch eine periphere, auf massenhafter Arbeitsmigration beruhende Anbindung an die EU ersetzt.
Die ukrainische Migration in Polen wird von Warschau auch als eine Trumpfkarte bei den zunehmenden Auseinandersetzungen mit Brüssel und Berlin ausgespielt. So verweisen polnische Politiker auf diese Migrationswelle in dem Dauerstreit um die Aufnahme von Flüchtlingen mit der EU. Die rechtspopulistische Regierung in Warschau bezeichnet das Heer der ukrainischen Wanderarbeiter in Polen dann gerne als ukrainische "Flüchtlinge", um den Forderungen nach Aufnahme von Geflüchteten aus dem arabischen Raum nicht nachkommen zu müssen.
Die rechtspopulistische Regierungspartei PiS ("Recht und Gerechtigkeit") muss in der Frage der Arbeitsmigration zudem innenpolitisch einen Spagat vollführen. Während die nationalistische Basis der Partei eine konfrontative Haltung gegenüber dem ukrainischen Nationalismus einfordert, werden zugleich keine anti-ukrainischen Kampagnen von der Parteiführung forciert. Zu groß sind die Vorteile für das Kapital in Polen.
De facto ignoriert die PiS ausländerfeindliche Umtriebe oder Übergriffe, ohne diese bewusst zu schüren. Hinzu kommt noch das traditionelle Überlegenheitsgefühl des polnischen Nationalismus gegenüber dem Osten, der immer als barbarisch und unterentwickelt angesehen wird. Dieses Gefühl der Überlegenheit habe tiefgehende "historische Wurzeln", erklärte der Historiker Marek Wojnar, die bis in die Zwischenkriegszeit reichten, als die marginalisierte ukrainische Minderheit in Ostpolen unter armseligen Bedingungen auf dem Land lebte. Die Ukraine gelte folglich dem polnischen Nationalismus als ein "primitives" Land.
Auch hierin spiegeln sich letztendlich in der ukrainischen Wanderungsbewegung in Polen nur die Erfahrungen, die polnische Migranten in der EU vielfach sammelten. Die Ukrainer, die auf Arbeitssuche in Polen sind, finden sich denselben Ressentiments und Benachteiligungen ausgesetzt, wie sie polnische Arbeitsmigranten im Westen erdulden müssen.