"Ukraine über Alles!"
Ein kurzer Blick auf die Kräfte hinter der aktuellen Eskalation in der Ukraine
Alles oder nichts - in dieser Eskalationsdynamik scheint die ukrainische Opposition gefangen. Unter dem "Jubel der Demonstranten" haben am vergangenen Samstag die Oppositionsführer Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk das jüngste weitgehende Zugeständnis von Präsident Janukowitsch als "vergiftet" abgelehnt. Der verstärkt unter Druck geratende Staatschef hatte den beiden Oppositionellen den Posten des Premiers (Jazenjuk) und seines Stellvertreters (Klitschko) angeboten.
Die Opposition fordert offiziell die schnellstmögliche Durchführung einer Präsidentschaftswahl. Tatsächlich scheinen aber die auf den Straßen dominierenden extremistischen Kräfte innerhalb der heterogenen Oppositionsbewegung inzwischen auf einen umgehenden gewaltsamen Umsturz zu setzen. Kurz nach der umjubelten Absage der Oppositionsführer an eine Regierungsbeteiligung stürmten Oppositionsgruppen Gebäude in Kiew, in denen Spezialeinheiten der Polizei untergebracht waren. Etliche Regierungsgebäude insbesondere im Westlichen Teil des Landes befinden sich ebenfalls unter Kontrolle von Oppositionskräften. Nun soll auch das Justizministerium in der Hand der Opposition sein.
Wie sehr die gemäßigten Kräfte innerhalb der Opposition zu Getriebenen einer von Extremisten angeheizten Dynamik wurden, kann sehr gut am Beispiel des deutschen Politexports Vitali Klitschko begutachtet werden (Ost oder West?). Seine Versuche, die von den Rechtsextremen forcierte Eskalation der Gewalt am 19. Januar zu verhindern, brachten dem Boxweltmeister eine von Buhrufen begleitete Attacke mit einem Feuerlöscher ein (Schlittert die Ukraine ins Chaos?). Ausgepfiffen wurde Klitschko auch nach seinem ersten Gespräch mit Janukwoitsch am vergangenen Donnerstag, nachdem er mühsam "rechte Schlägertrupps an den Barrikaden in der Gruschewski-Straße zu einer kurzen Waffenruhe" überreden konnte, wie es inzwischen selbst Spiegel-Online auffällt.
Inzwischen sind es gerade diese rechtsextremen "Scharfmacher" (Hass auf Moskauer, Juden und "andere Unreine"), die auf der Straße die Führung übernommen haben. Vermittels ihrer militanten und gut vernetzten Anhängerschaft können sie jederzeit Konfrontationen mit den Polizeikräften initiieren, um so alle Bemühungen zu einer Entspannung der Lage zu torpedieren. Klitschko und auch Jazenjuk hatten am Samstag somit eigentlich gar keine anderen Optionen, als das Angebot Janukowitschs abzulehnen, wollten sie nicht innerhalb der Opposition umgehend marginalisiert werden. Beide Politiker sind längst zu Getriebenen geworden, die dem Gang der Eskalation folgen müssen. Klitschko erklärte zudem, es gebe keine Extremisten auf dem Maidan.
"Ukraine über Alles!"
Dominant sind nun dezidiert faschistische und offen antisemitische Kräfte wie die Partei Swoboda (Freiheit) des Scharfmachers Oleg Tjagnibok, der seine hauptsächlich aus der Westukraine stammende Anhängerschaft zu immer neuen Angriffen aufwiegelt. Rund 12 Prozent konnten diese um einen Imagewechsel bemühten Neonazis bei den vergangenen Wahlen erringen. Daneben spielen bei den Auseinandersetzungen auf der Straße sich neu formierende, militant-neofaschistische Netzwerke eine herausragende Rolle. Neonazis insbesondere aus der Hooligan- und Fußballszene sammeln sich etwa in dem militanten Nazinetzwerk "Rechter Sektor" (Prawyj Sektor), dessen straff organisierte Einheiten bei den Straßenkämpfen in erster Reihe agieren (Brennende Polizisten und tote Demonstranten in Kiew).
Auch an der entscheidenden Eskalation der Gewalt am 19. Januar, als Demonstranten abermals Parlaments- und Regierungsgebäude zur stürmen versuchten, waren Neonazis federführend beteiligt. Laut BBC haben eben die Aktivisten des Nazinetzwerks Prawyj Sektor die "Speerspitze" der militanten Angriffe gegen Polizeieinheiten gebildet. In sozialen Netzwerken riefen Aktivisten des Prawyj Sektor sogar offen zu Spenden von "Zwillen, Baseballschlägern, Stahlkugeln, Laserpointern, Benzinflaschen, Ketten und Pyrotechnika auf", berichtete der US-Sender Radio Free Europe (RFE/RL). Am 22. Januar kündigte Andrei Tarasenko, der Koordinator dieses Neonazinetzwerkes, im Fall einer Räumung des Demonstrationscamps einen "Guerillakrieg" und einen "Bürgerkrieg" in der gesamten Ukraine an.
Die linksliberale US-Zeitschrift "The Nation" thematisierte diesen extremen Nationalismus im "Herzen des Euromaidan". Sollten die Proteste in vorgezogene Neuwahlen münden, würde die extreme Rechte - insbesondere Swoboda - hiervon erheblich profitieren. Die Rechtsextremen seien nun "stärker akzeptiert und werden eher im Mainstream verortet", erklärte ein Migrationsaktivist gegenüber The Nation. Inzwischen seien die Parolen in Kiew wieder zu hören, die der ukrainische Nationalismus in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hätte. Sprüche wie "Ruhm der Nation! Tod den Feinden!", oder "Ukraine über Alles" seien auf dem Maidan inzwischen populär.
Klitschkos Pakt mit den extremen Nationalisten
Dieser Rückkehr des extremistischen Nationalismus kann sich auch der von der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgebaute Vitali Klitschko nicht entziehen. Er wirkt ebenfalls an der Reanimierung der faschistischen Rituale der Zwischenkriegszeit mit, wie The Nation irritiert berichtete:
Nahezu alle Sprecher auf dem Platz der Unabhängigkeit - selbst der zum Oppositionsführer gewandelte Boxer Vitali Klitschko, der zumeist in Deutschland lebt und eine US-Aufenthaltserlaubnis hat - starten und beenden ihre Auftritte mit dem Spruch "Ruhm der Ukraine", auf den die Masse antwortet: "Den Helden Ruhm".
Progressive Aktivisten müssten innerhalb der Oppositionsbewegung "an zwei Fronten" kämpfen, erläuterte eine Aktivistin gegenüber The Nation. Es sei ein Kampf gegen ein autoritäres Regime und gegen extremen Nationalismus, der auf dem Maidan anerkannt sei und für legitim erachtet werde. Dabei hat nicht zuletzt der CDU-Mann Klitschko, der sich über die besondere Protektion von Kanzlerin Angela Merkel freuen kann, maßgeblich zu dieser Akzeptanz des Neofaschismus in der Ukraine beigetragen. Während die Konrad-Adenauer-Stiftung europapolitische Seminare mit der Klitschkopartei UDAR organisierte, hat der Boxweltmeister das nach den letzten Parlamentswahlen geschlossene Bündnis mit den ukrainischen Faschisten trotz aller Kritik eisern aufrechterhalten.
Kritisiert wurden Klitschko wie Jazenjuk etwa von Oleksandr Feldman, dem Präsidenten des ukrainischen jüdischen Komitees, der aufgrund des um sich greifenden Nationalismus und Antisemitismus Alarm schlägt. Es sei eine "traurige Entwicklung" vom Demokratiestreben zu "Ultranationalismus und Antisemitismus", die die ukrainische Protestbewegung eingeschlagen habe, warnte Feldman. Seit Swobodas Wahlerfolg und deren Einzug ins Parlament hätten Jazenjuk und Klitschko, die Führer von Vaterland und UDAR, "wiederholt sich den Bitten von mir und vielen weiteren Demokratieunterstützern verweigert, die einen Bruch des Oppositionsbündnisses mit Swoboda forderten". Stadtessen sahen Klitschko und Co. diese Nazipartei und ihren Führer als "essenzielle Partner in der Koalition zum Sturz Janukowitschs".
Die Warnungen und abermaligen Aufforderungen Feldmanns an die "gemäßigten" Oppositionsführer, sich von Swoboda zu distanzieren, dürften durch jüngste antisemitische Vorfälle motiviert worden sein: Am 11. Januar ist ein jüdischer Hebräischlehrer beim Verlassen seiner Synagoge von Unbekannten mit messerbewehrten Springerstiefeln zusammengetreten worden. Zudem haben Talmudschüler bei nächtlichen Auseinandersetzungen einen Neonazi festgesetzt, der genaue Pläne der Umgebung ihrer Talmudschule mit sich führte.
Ein von einer deutschen politischen Stiftung aufgebauter Politikexport wie Vitali Klitschko, dessen politische Agenda sich in der "schnellstmöglichen" EU-Integration der Ukraine erschöpft, so Klitschko gegenüber der Konrad Adenauer Stiftung, war somit im Vorfeld der aktuellen Eskalation maßgeblich daran beteiligt, diejenigen rechtsextremen Kräfte erst hoffähig zu machen, die nun offensichtlich außer Kontrolle geraten sind. Die massive politische Unterstützung Klitschkos durch deutsche Regierungskreise stellt kein Staatsgeheimnis dar. Es reicht, mal aufmerksam den Spiegel oder die FAZ zu lesen:
Neue Unterstützung winkt der pro-europäischen Opposition derweil von anderer Seite. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Gruppe der konservativen Parteien in der EU (EVP) wollen Klitschko laut Informationen des Magazins "Der Spiegel" durch gemeinsame Auftritte stärken. Geplant sei, den Boxer zum Oppositionsführer und Gegenkandidaten von Präsident Janukowitsch aufzubauen, hieß es. Parallel dazu würden EVP und die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung Politiker von Klitschkos Udar-Partei logistisch unterstützen und schulen. Eine Bestätigung dafür gab es zunächst nicht.
FAZ
Ukrainische Rechtsextremisten haben eine hohe Meinung von Deutschland
Die bitterste Ironie an dieser vermittelten deutschen Unterstützung des ukrainischen Rechtsextremismus stellt sicherlich der Umstand dar, dass viele ukrainische Neonazis tatsächlich eine wirklich hohe Meinung von Deutschland haben. Die Deutschlandliebe der ukrainischen Rechtsextremisten verleitet diese etwa dazu, in SS-Uniformen auf Demonstrationen und Kundgebungen aufzulaufen. Am 1. Januar etwa marschierten rund 15.000 Rechtsextreme bei einem gespenstischen Fackelzug durch Kiew, um des Nazikollaborateurs Stephan Bandera zu gedenken. Etliche Demonstranten taten dies in Uniformen der von den Nazis in der Westukraine nach dem Überfall auf die Sowjetunion aufgestellten SS-Division Galizien.
Banderas Kampfverbände der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) - deren Parolen jetzt wieder auf den Maidan erschallen - wurden schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion von der Wehrmacht aufgebaut und in die Angriffsplanungen eingebunden. Diese ukrainischen Kollaborateure haben im Kriegsverlauf an unzähligen Massakern teilgenommen, denen hunderttausende Juden, Polen, Andersdenkende und politische Gegner zum Opfer fielen. Ermuntert von den deutschen Besatzern organisierten diese ukrainisch-faschistischen Kräfte mitunter eigenständig die Vernichtungsaktionen, wie etwa bei dem bestialischen Pogrom in Lviv, bei dem wenige Tage nach Kriegsausbruch die jüdische Bevölkerung der Stadt zusammengetrieben, entkleidet, zusammengeschlagen und ermordet wurde.
Diese ausführlich dokumentierte und in der seriösen Geschichtswissenschaft unumstrittene massenmörderische Praxis des ukrainischen Nationalismus hält die heutigen Rechtsextremisten nicht davon ab, Stephan Bandera, die OUN oder die SS-Division Galizien als Helden zu verehren. Politiker der rechtsextremen Swoboda sind etwa bei Beerdigungen von Naziveteranen gern gesehene Gäste. Hier werden die Kommandos zum Abschuss der Ehrensalve durch die als SS-Männer verkleideten Nazis noch auf Deutsch gegeben - Tradition verpflichtet eben.
Dieses dezidiert nationalsozialistische Geschichtsbild, das Swoboda am 1. Januar auf die Straßen Kiews trug, stellt aber auch ein Symptom dar für die tiefe sozioökonomische und kulturelle Spaltung der Ukraine in einem von der Schwerindustrie geprägten, russischsprachigen Osten und einen deindustrialisierten und verarmten, ukrainischsprachigen Westen. Die Akteure und Organisationen der faschistischen ukrainischen Kriegskollaboration mit Nazideutschland, die im Westen verehrt werden, gelten im Osten und Süden der Ukraine als eine Bande von Verbrechern und Verrätern. Diese Spaltung kommt auch in der offiziellen staatlichen Geschichtspolitik zum Ausdruck. Während im Westen die ukrainische SS-Division "Galizien" rehabilitiert wird und dem Nazikollaborateur Bandera immer neue Denkmäler errichtet werden, ließ der derzeitige Präsident Janukowitsch diesem den Titel "Held der Ukraine" aberkennen, der Bandera vom Amtsvorgänger Juschtschenko verliehen wurde.
Für den auf Osteuropa spezialisierten Extremismusexperten Andreas Umland stellt die rechtsextreme Partei Swoboda mit den offensiv propagierten Symbolen und Ideen der "Organisation Ukrainischer Nationalisten" sogar eine "implizit separatistische" Bewegung dar, da dieses Geschichtsbild die Formierung eines gesamtukrainischen Geschichtsbewusstseins unterminiere. Die Verehrung der Organisationen und Führer des ukrainischen Kriegsnationalismus würde im Süden oder Osten - trotz ebenfalls vorhandener xenophober und rassistischer Ressentiments - als "unangemessen und sogar beleidigend" angesehen, so Umland.
Letztendlich dürfte dieser Verweis auf das separatistische Potenzial der gegenwärtigen Auseinandersetzungen auch deren größtmögliche Eskalationsstufe benennen: einen Bürgerkrieg, der zwischen der West- und Ostukraine vor der Haustüre der EU geführt würde - mit freundlicher Unterstützung der Konrad Adenauer Stiftung.