Der gespaltene Präsident

Horst Köhler: Kann der mit nur einer knappen Mehrheit gewählte ein integratives Amt überhaupt ausfüllen?

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Es kling fast wie ein Märchen: Der Sohn aus kleinem Hause, Flüchtlingskind, steigt auf der sozialen Leiter nach oben, ganz nach oben, und wird zum Schluss: Präsident. Als einziger von acht Geschwistern wird er Akademiker, mit Hilfe von Bafög, Fleiß, Talent und Durchsetzungsvermögen. Sein eigener Sohn wird mit 17 Jahren Vater, "ist ja fast peinlich", sein Kommentar dazu, konservativ eben. Die Tochter ist Aufgrund einer Krankheit fast erblindet, beide Kinder haben die uneingeschränkte Unterstützung der Eltern, gute Eltern eben. Es menschelte gewaltig im März dieses Jahres bei Johannes B. Kerner, bei dem den Deutschen ihr nächster Bundespräsident durch eine Talkshow vorgestellt wurde, Mediengesellschaft eben.

Dabei war dem Kandidaten Horst Köhler und seiner Frau die Unsicherheit und Unbeflecktheit im Umgang mit der Öffentlichkeit deutlich anzumerken. Obwohl schon wichtigere Posten innegehabt, wäre das des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland in der Karriere Köhlers das bisher Öffentlichste. Deshalb ähnelte der Auftritt der Köhlers bei Kerner eher einem Seelenstrip und weniger der Vorstellung eines mit allen rhetorischen Wassern gewaschen PR-gebrieften Profis. Die Nation jedenfalls ist seitdem gespalten. Die Umfragewerte beider Kandidaten kurz vor der Wahl waren dementsprechend: Je nach Umfrage hätten die eine Hälfte Gesine Schwan gewählt, die andere Horst Köhler, jeweils mit knapper Mehrheit. Das Einzige, für das sich die Wähler eindeutig entscheiden würden, ist die Direktwahl des Bundespräsidenten.

Alles Vergangenheit, die Direktwahldiskussion für die nächsten fünf Jahre, Schnee von gestern. Und doch spiegelt sich das Bild des neuen Bundespräsidenten in den Befürchtungen und Hoffnungen der Menschen wider. Was die einen an Horst Köhler bewundern, beunruhigt die anderen. Ist der Mann ein Kämpfer und Vorbild, der sich von ganz unten nach ganz oben arbeitete, aber, sich seiner Herkunft immer bewusst, die Welt zu verbessern suchte? Oder ist er jemand, der aufgrund von Machtstreben sich bestimmten Opportunitäten und Abhängigkeiten preisgegeben hat, nach dem Motto: "Welch Brot ich ess, des Lied ich sing"?

Sozial fragile Nation mit weitgereistem Präsidenten

Die letzten Jahre berufsbedingt im Ausland verbracht, platzte, nach einer unsäglichen Kandidatenposse, der Präsidentschaftskandidat von CDU/CSU mitten in die bisher größte Reformdiskussion der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dadurch ergab sich, dass weniger der Köhler als seine Vergangenheit, weniger das Amt an sich, als die nationalen Befindlichkeiten den "kleinen Wahlkampf" um den Nachfolger von Johannes Rau prägten.

Das Verwunderliche dabei war: Gerade dadurch wurde das von vielen als machtlos bewertete Präsidentenamt zumindest temporär mit einer überhöhten medialen Macht ausgestattet. Der Opposition ist dies recht, würde sie doch die Wahl eines bürgerlich-konservativen und wirtschaftsliberalen Bundespräsidenten gerne als Signal zum Machtwechsel im Jahr 2006 durch die Medien transportiert sehen. Viele sehen das aber auch als Bedrohung für den inneren sozialen Frieden, Köhler gleichwohl als jemand, der nicht integriert, wie das Amt es vorsieht, sondern spaltet, zugunsten eines globalen neoliberalen Kurses und zum Nachteil der sozial Schwachen. Globalisiert der neue Präsident das Land oder integriert das Amt des "Präsidenten aller Deutschen" den Globalisierer?

Vom Staatssekretär zum Bundespräsidenten

Nicht-Regierungsorganisationen wie Weed und Attac sehen in Horst Köhler einen "Schreibtischtäter", der für etliche neoliberale Politiken die Verantwortung tragen muss, nicht zuletzt für die Argentinien-Krise, die in seiner Amtszeit als IWF-Präsident stattfand und große Teile der argentinischen Gesellschaft in tiefe Armut stürzte. Andere wiederum billigen ihm zu, zumindest versucht zu haben, den IWF zu "entschärfen", also seinen Kurs zu "humanisieren", wobei über die tatsächliche Bilanz Uneinigkeit herrscht. Aber auch die innen- und europapolitische Bilanz hat ein gewisses "Gschmäckle", wie man in Köhlers Heimatstadt Ludwigsburg bei Stuttgart sagen würde.

Der von der Kohl-Regierung angestoßene EU-Stabilitätspakt ist genauso ein Kind des damaligen Staatsekretärs Horst Köhler, wie die wirtschaftlichen Grundlagen der Wiedervereinigung Anfang der 90er Jahre. Der Stabilitätspakt hielt gerade einmal knapp ein Jahrzehnt: Mittlerweile überschreitet ein Land nach dem anderen die 3%-Neuverschuldungsgrenze, über eine Änderung des Paktes wird nachgedacht. Gleichfalls wird seit diesem Frühjahr die "gescheiterte" Deutsche Einheit, zumindest der ökonomische Aspekt, heiß diskutiert. Während der geschlagene Gegenkandidat Wolfgang Schäuble für die politische Einheit zuständig zeichnet, auch nicht unbedingt eine Erfolgsgeschichte, war Horst Köhler der Vater der ökonomischen Einheit.

Dass bei der Ausgestaltung der Wiedervereinigung die wirtschaftlichen Erwägungen den politischen unterlegen sind, ist heute unbestritten. Das war von Helmut Kohl auch so gewollt. Wenn der neue Bundespräsident aber schnellere und grundlegendere Reformen in Deutschland anprangert, dann sollte er vielleicht auch die Rolle seiner Partei bei in der Vergangenheit versäumten Reformnotwendigkeiten bedenken.

Streitpunkt in der Bundesversammlung: Hans Filbinger

Neben den Abgeordneten, welche die Parlamente aus Bund und Ländern in die Bundesversammlung, also das Wahlgremium des Bundespräsidenten, entsenden, sind in gleicher Anzahl Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aufgerufen, als gesellschaftliche Repräsentanten ihre Stimme abzugeben. Die mehr oder weniger bekannten Sportler, Wirtschaftsführer und Leute aus der Medien- und Showbranche wurden dieses Jahr durch die Nominierung des ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, in den Hintergrund gedrängt.

Der mehrfach mit bundesrepublikanischen Orden geehrte Filbinger hat während des Zweiten Weltkriegs in verschiedenen Funktionen auch an Todesurteilen mitgewirkt. Aufgrund dessen musste er als Ministerpräsident im Jahr 1978 zurücktreten und konnte in der Öffentlichkeit, trotz vielfältiger Versuche, nie seine vollständige Rehabilitation bewirken. Die Rehabilitationsversuche sind, wie auch seine Politik als Ministerpräsident, bis heute äußerst umstritten, seine Verurteilung in den Medien wurde als Verleumdungskampagne bezeichnet. Obwohl schon des öfteren in der Bundesversammlung anwesend, verlangten Politiker von SPD, Grünen und der PDS einen freiwilligen Verzicht Filbingers. Dies zeigt einmal mehr die außerordentliche politische Dimension der diesjährigen Bundespräsidentenwahl.

"Deutschland ist ein tolles Land, es hat mir viel gegeben, jetzt will ich dem Land einiges zurückgeben", sagte der neue Bundespräsident vor seiner Wahl in Interviews und wiederholte dies in seiner Rede direkt nach der Wahl vor der Bundesversammlung. Und nach der Wahl gilt immer noch: Für die einen ist dies eine Drohung, für die anderen eine Hoffnung.