"Der große Lockdown war niemals alternativlos"
Seite 3: Der Lockdown war ein Misserfolg
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Wie erfolgreich war der Lockdown Ihrer Ansicht nach?
Karl Heinz Roth: Er war weitgehend ineffizient. Die Prioritäten waren falsch. Covid-19 ist vor allem für chronisch Kranke und alte Menschen gefährlich, aber die pauschalen Maßnahmen begrenzten die Infektionszahlen nicht wirksam.
Deswegen wäre der umgekehrte Weg richtig gewesen, also bei den Krankenhäusern und in der Altenpflege ansetzen und die Gefährdeten schützen. Stattdessen wurden die Risikogruppen preisgegeben, insbesondere in den Heimen. Dort verstarb ein sehr großer Anteil an der Covid-19-Toten insgesamt.
Sie sprechen von einem Anteil von 40 Prozent an den Opfern im transatlantischen Raum, also in Nordamerika und Europa.
Karl Heinz Roth: Zum Teil waren die Lockdown-Maßnahmen kontraproduktiv. Beispielsweise wurden die Menschen mit Ausgangssperren in ihre Wohnungen gezwungen, obwohl das Virus sich in geschlossenen Räumen verbreitet, nicht im Freien. Sie haben den Pandemie-Prozess beschleunigt.
Die Schließung der Parks in den Slum-Städten des Globalen Südens war eine Katastrophe. Die Leute hätten sich stattdessen so lange wie möglich sich im Freien aufhalten sollen. Natürlich ist es ebenso unsinnig, Kreuzfahrtschiffe fahren zu lassen, wo sich die Menschen ebenfalls vor allem in geschlossenen Räumen aufhalten.
Die Kollateralschäden der Lockdown-Politik sind außerordentlich groß, vor allem im Globalen Süden: Die medizinische Unterversorgung, gestiegener Alkohol- und Drogenkonsums, mehr Selbstmorde und anderes. Der Chefstatistiker der WHO schätzte im Juli 2021, dass an der Pandemie wahrscheinlich sechs bis acht Millionen Menschen sterben werden.
Die Übersterblichkeit, die zum Teil auf Unterversorgung zurückgeht, steigt aber seiner Berechnung nach noch einmal fast um den gleichen Betrag. Dass diese Bilanz einfach ignoriert wird, macht mich fassungslos.
Im Verlauf des Jahres 2020 polarisierte sich die epidemiologische Debatte zwischen denjenigen, die auf weitgehende Kontaktbeschränkungen und möglichst geringe Infektionszahlen setzten, und auf der anderen Seite denen, die vor allem die gefährdeten Bevölkerungsteile schützen wollten. Sie skizzieren in Ihrem Buch einen "dritten Weg", einen Mittelweg zwischen "Laufen lassen bis zur Herdenimmunität!" und "Alles Runterfahren!" Wie hätte dieser Weg ausgesehen?
Karl Heinz Roth: Statt der unspezifischen Kontaktbeschränkungen wären gezielte Präventionsmaßnahmen notwendig gewesen. Dazu zählen Massentests, um neue Infektionsherde einzuhegen, das genaue Informieren der Bevölkerung und vor allem der Schutz von chronisch kranken und alten Menschen, auch durch die Einrichtung von Spezialkliniken und geeigneten Richtlinien für die Heime.
Das wäre effizient und zugleich maßvoll gewesen. Die Pandemie hätte sich zwar weiter ausgebreitet, aber die schweren Verläufe, Krankenhauseinweisungen und die Sterblichkeit wären von Anfang an deutlich zurückgegangen. Hunderttausende sind unnötig gestorben.
Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Hätten denn wirklich Kneipen, Gastronomie und Clubs geöffnet bleiben können, ohne dass die Erkrankungszahlen nicht mehr zu beherrschen gewesen wären?
Karl Heinz Roth: In einer Pandemie müssen Versammlungen in geschlossenen Räumen mit einem geeigneten seuchenhygienischen Konzept erfasst werden, das ist schon richtig.
Aber da wäre eine Strategie der Überzeugung sinnvoll gewesen, nicht eine der Direktiven und der Entmündigung. Die Gesellschaft ist weitaus klüger, als Politiker glauben, auch die Gesundheitspolitiker.
In Schweden wurde erfolgreich die Bevölkerung überzeugt, geschlossene Räume ohne Belüftung wie Bars und Clubs zu meiden, weil sie eine Gefahr darstellen. Dann wurde allerdings der schwere Fehler gemacht, keine wirksamen Schutzmaßnahmen im medizinischen und pflegerischen Bereich zu ergreifen, was den schwedischen Ansatz diskreditierte.
Überzeugung statt Entmündigung
Warum wurde der dritte Weg nicht beschritten?
Karl Heinz Roth: Er hätte den Bruch mit der bisherigen Gesundheitspolitik bedeutet. Dazu hätte die Politik einen erheblichen Teil des öffentlichen Budgets in das Gesundheitswesen umzuwälzen müssen. Der dritte Weg hätte beinhaltet, die Heime wieder unter kommunale Aufsicht zu bringen und die Krankenversorgung und Pflege aufzuwerten.
Die nichtpharmazeutischen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung haben in vielen Ländern Proteste ausgelöst. Sie sind politisch nicht leicht einzuordnen, sie unterscheiden sich auch je nach Ort. Aber sicher gab es eine Tendenz zur Verharmlosung von Covid-19, bis hin zur Leugnung irgendeiner Gefahr.
Karl Heinz Roth: Alle Pandemien lösen Ängste aus. Die Angstreaktionen führen dazu, dass Gerüchte zirkulieren, die Menschen machen Sündenböcke aus und suchen nach Wundermitteln, um die Gefahr abzuwenden. Ja, die Menschen verschließen die Augen vor der Realität dieser Krankheit.
Andererseits müssen wir auch die Gegenseite sehen, nämlich die "No Covid / Zero Covid"-Kampagne, die seit Frühjahr 2020 fordert, mehr oder weniger den chinesischen Ansatz der Ausrottung zu verfolgen. Diese Fraktion hängt der Illusion an, die Pandemie ließe sich mit einem kompletten Shutdown innerhalb einer bestimmten Frist ausrotten. Das ist genauso illusionär. Diese beiden Lager haben sich meiner Meinung nach gegenseitig aufgeschaukelt.
Auch wenn der Gedanke schwer auszuhalten ist, Covid-19 wird nicht die letzte Pandemie bleiben. Wie sieht Ihrer Meinung nach ein zukunftsweisendes Programm aus, um mit dieser Gefahr umzugehen?
Karl Heinz Roth: Da wäre zunächst die Ausweitung von pharmazeutischen Maßnahmen, das heißt die Entwicklung von geeigneten Medikamenten und Impfstoffen. Gegen Sars-CoV-1 gab es Anfang der 2000er -Jahre vielversprechende Ansätze für Proteaseinhibitoren, das sind antivirale Medikamente.
Bevor sie in klinischen Studien erprobt werden konnten, wurde die Forschung abgebrochen, weil die Absatzmöglichkeiten der Pharmaindustrie nicht lukrativ genug schienen. 2020 hat man sich an diese Ansätze erinnert und mühsam aus den Tresoren der Labors die damaligen Untersuchungsergebnisse hervorgekramt.
Wäre die pharmakologische Forschung nicht an Renditen orientiert, sondern als Gemeingut organisiert, hätten wir diese Medikamente heute schon zur Verfügung.
Dann brauchen wir einen globalen Ansatz bei den Interventionen. Etwa 35 Prozent der Weltbevölkerung sind doppelt geimpft. In den entwickelten Zentren liegt die Rate allerdings etwa 60 Prozent, im Globalen Süden nur zwischen zwei und zehn Prozent.
Besonders wenig Impfungen gibt es in den verarmten Ländern (least-developed countries). Kein Wunder, wenn sich neue Varianten wie Delta aus Indien und Omikron aus Südafrika verbreiten! Nur durch ein globales Vorgehen können wir die weitere Ausbreitung abbremsen.
Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung über einen Impfzwang in Deutschland ziemlich absurd.
Schließlich brauchen wir ein Konzept für eine nachhaltige Stärkung des Gesundheitswesens weltweit. Dazu gehört die Rekommunalisierung der Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, eine massive Aufwertung der Gesundheits- und Pflegeberufe.
Ich denke an die Einführung der 30-Stunden-Woche, eine bessere Entlohnung der Beschäftigten, vor allem in den unteren Kategorien, Tarifverträge, Reservepuffer bei Personal und Material. Das wären vernünftige Schlussfolgerungen aus dem katastrophalen Versagen im Umgang mit Covid-19.