Der korrupte Kommandant und seine perverse Nymphomanin
Seite 3: Schmutziger Blick
Ebenfalls verhaftet wurde Kochs Frau Ilse. Als Morgen um elf Uhr vormittags zur Durchsuchung der "Villa Buchenwald" erschien, soll sie ihn und seine Begleiter unfrisiert und nur notdürftig in einen Kimono gehüllt empfangen haben. Daraus wurden später Szenen wie die in Volker Harry Altwassers Letzte Haut, wo Konrad Morgen (im Roman heißt er Kurt Schmelz) vor der Verhaftung das Haus observiert. Hermann Pister, Kochs Nachfolger als Kommandant, hat ihm gesagt, dass Ilse Koch eine Hure und eine Nymphomanin ist. Jetzt liegt Schmelz mit einigen Beamten auf der Lauer und beobachtet, wie sich die Liebhaber die Klinke in die Hand geben. Ilse Koch trägt nichts außer einen durchsichtigen Morgenmantel aus Seide, und die Beobachter vertreiben sich die Zeit mit Wetten darüber, ob sie den jeweiligen SS-Mann mit ins Haus nehmen oder gleich auf der Veranda Sex mit ihm haben wird. Liebig wettet zehn Mark, dass sie es mit dem nächsten Partner auf dem Podest vor dem Haus treiben wird, Heinze hält dagegen. Leseprobe:
"Abgemacht", schlug Heinze sofort ein, musste aber mit ansehen, wie der Kerl die Koch auf der Veranda umdrehte, sie zum Geländer schob, an dem sie sich hielt, während er sie hart und brutal nahm. Sie schrie laut und flehte ihn an, es ihr heftiger zu besorgen, heftiger und noch härter, während ihre Brüste immer wieder gegen den Handlauf des Geländers schlugen. "Verdammt", sagte Heinze, "schon wieder verloren!" […] während der Kerl auf der Veranda einen tierischen Laut hören ließ, Sekunden später die Uniformhose schloss, der Koch auf den Hintern klatschte und sie mit gespreizten Beinen, glänzender Scham und mit über dem Geländer hängenden Oberkörper zurückließ. Sie bettelte, er möge ihr wenigstens noch die Faust hineinstecken, aber lachend und vergnügt verschwand der Mann in der Dunkelheit.
Eines der besten Bücher über Buchenwald stammt von Jorge Semprun, der von 1943 bis 1945 selbst dort eingesperrt war. Es heißt Die große Reise. Nach der Befreiung führt der Ich-Erzähler Gérard zwei Besucherinnen durch das Lager. Die Röcke der jungen Frauen spannen über den in Seidenstrümpfen steckenden Oberschenkeln, die Atmosphäre ist sexuell aufgeladen. Um sie zu schockieren, zeigt der Erzähler den geschminkten Frauen in den engen Uniformen die Folterkammer im Keller des Krematoriums, die zu vier Meter hohen Haufen aufgeschichteten Leichen im Hof. Beim Vorzeigen der Toten wird ihm bewusst, wie pornographisch diese Situation ist: "Ich denke daran, dass man ihren Tod erlebt haben muss, wie wir Überlebenden ihn erlebt haben, um sie mit reinem, brüderlichem Blick hier liegen zu sehen." Ein paar Seiten danach fährt der Erzähler an der einstigen Villa von Ilse Koch vorbei, die uns in Gérards Erinnerung als Tyrannin präsentiert wird. Die Kommandeuse sucht sich Häftlinge aus, um sie mehrfach zum Objekt ihrer Lust zu machen. Ihre Opfer müssen mit ihr schlafen, und es verschafft ihr eine zusätzliche Erregung, mit Blicken die tätowierte Haut der Männer abzutasten und sich die ästhetische Wirkung des daraus angefertigten Lampenschirms vorzustellen, der später in dem Zimmer stehen wird, in dem sie die Offiziere der SS zum gemütlichen Beisammensein empfängt.
Für mich ist das weniger eine realistische Beschreibung der Ilse Koch und ihres Salons in der Führersiedlung als vielmehr ein Gedankenexperiment und der Versuch, eine als pornographisch empfundene Situation, das Vorzeigen zum Skelett abgemagerter Toter, zum Beweis der in Buchenwald erfahrenen Gewalt und Entmenschlichung, in eine andere Bilderwelt zu übertragen, die der Pornographie, weil das eine Annäherung an das eigentlich Unvorstellbare und nicht wirklich Vermittelbare sein könnte. Anders gesagt: Wenn der reine Blick auf die Opfer der NS-Verbrechen deren Leidensgenossen vorbehalten ist, den KZ-Überlebenden, bleibt für die anderen nur der schmutzige Blick der Pornographie. Bei Semprun ist das einer von mehreren Versuchen, die Lagererfahrung weiterzugeben, das Reduzieren von Menschen auf Körper und deren verwertbare Teile (von den Händen der Zwangsarbeiter in den Rüstungsfabriken bis zum Zahngold, das man den Toten aus den Kiefern brach) in eine erzählbare Form zu überführen. Mit solchen Überlegungen ist er nicht weit von Claude Lanzmann entfernt, der in Shoah keine dokumentarischen Aufnahmen von den Opfern des Holocaust haben wollte, weil er solche Bilder für pornographisch hält.
Die Phantasmagorie von der Kommandeuse als einer perversen Nymphomanin mit einem Faible für mit Menschenhaut bespannte Lampenschirme hat also unter Umständen eher wenig mit der biographischen Ilse Koch zu tun, dafür aber sehr viel mit einer - auch ästhetischen - Verarbeitung dessen, das sich der sprachlichen oder bildhaften Verarbeitung eigentlich entzieht (man denke an Adornos Diktum, dass nach Auschwitz keine Lyrik mehr möglich sei). Durch Altwassers Letzte Haut habe ich leider keine neuen Erkenntnisse dazu gewonnen. Mir fällt an diesem Roman nur auf, wie schnell sich die Dominatrix in ein die Männer um ihr Ejakulat anflehendes Weibchen verwandelt, wenn ein Autor es so haben will. Manchmal ist Pornographie auch einfach nur Pornographie, um Freuds Wort von der Zigarre zu variieren.
Familienmelodram mit Urne
Das Sittengemälde, das sich dem echten Konrad Morgen bei seinen Ermittlungen in Buchenwald und Weimar darbot, ist in mehreren Versionen überliefert, vom Szenario für eine TV-Soap bis zur Hardcore-Fassung. Es geht da um die Zeit vor Kochs Versetzung nach Majdanek. Ilse hat eine Affäre mit dem Lagerarzt Waldemar Hoven und auch mit Hermann Florstedt, dem stellvertretenden Kommandanten. Koch selbst sucht Entspannung bei einer "Tänzerin" in Weimar. 1941 eskaliert die Situation, weil Ilse von der Mätresse erfährt. Sie wendet sich an den Polizeipräsidenten (und SS-Obergruppenführer) von Weimar, berichtet ihm, dass überall in der "Villa Buchenwald" Geld herumliegt, nennt ihren Mann einen Dieb und einen Mörder. Sie tut das entweder aus Rache oder weil sie Wind von den Aktivitäten des Erbprinzen zu Waldeck bekommen hat, Strafe fürchtet und sich als Unschuldslamm präsentieren will. Möglicherweise ist das Ganze eine Intrige von Hoven (will den Gatten seiner Geliebten aus dem Weg räumen) und/oder Florstedt (will selber Kommandant werden).
Schließlich rauft man sich zusammen. Die Intriganten und Ilse-Liebhaber kriegen kalte Füße, weil sie selbst in Kochs Manipulationen verwickelt sind und befürchten, dass er sie ermorden lässt. Hoven erklärt dem Polizeipräsidenten in seiner Funktion als Lagerarzt, dass Ilse eine nervlich überreizte Frau ist und die Anschuldigungen erfunden hat. Der Obergruppenführer glaubt ihm oder lässt sich überzeugen, um den Skandal zu vermeiden und ist wahrscheinlich froh, im Herbst 1942 als SS- und Polizeiführer nach Rostow am Don versetzt zu werden. Ilse einigt sich mit Karl, die Ehe zum beiderseitigen Vorteil aufrecht zu erhalten. Karl erlaubt dem "schönen Waldemar", ihr Liebhaber zu sein. Statt ihren Gatten wie angedroht bei Theodor Eicke zu denunzieren, dem Inspekteur der Konzentrationslager, schreibt Ilse mit Karl zusammen einen Brief an Eicke, in dem sich die Eheleute einen asketischen Lebensstil bescheinigen und schwere Vorwürfe gegen den Erbprinzen zu Waldeck erheben. So oder so ähnlich könnte es gewesen sein. Da es kaum belastbare Beweise gibt, darf man sich aussuchen, was man glauben und wie man die Handlungselemente kombinieren will.
In der SS-Führersiedlung traf Morgen offenbar auf Frauen, die ihm Ilse Koch als widerliche, zu allem fähige Schlampe schilderten. Ob da Neid mit im Spiel war? Hier blitzt wieder der Wahnsinn auf. Wenn die Kochs nicht so demonstrativ auf großem Fuß gelebt hätten, wenn Ilse ihren Status als Kommandantengattin etwas weniger genossen und nicht mit Hoven und Florstedt geschlafen hätte (deren Ehefrauen wohnten auch in der Siedlung), dann hätte das am Charakter des KZ Buchenwald nichts geändert, aber die Gattin des Kommandanten hätte gute Chancen gehabt, als anständige deutsche Frau durchzugehen wie alle anderen in dieser Gruselsiedlung. Konrad Morgen trat später, im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, als Entlastungszeuge auf, verteidigte den Ruf der SS und verklärte Buchenwald in der extremsten Form seiner Aussagen zum Ort, in dem man zwar nicht verhätschelt wurde, aber doch recht gut hätte leben können, wenn es da nicht ein paar skrupellose und unmoralische Verbrecher gegeben hätte. Das Familienmelodram mit Mord, Gier und Perversionen passte gut in dieses Bild, weil es vom wahren Charakter der SS und des Dritten Reichs ablenkte.
Ich bemerke an mir selbst, dass ich lieber melodramatische oder notfalls pornographische Kriminal- und Kolportagegeschichten über Ilse Koch lese, als mich darüber zu informieren, wann in Buchenwald wie viele Menschen zu Tode kamen und unter welchen grauenvollen Umständen das geschah. Bei der "Hexe von Buchenwald" stellt sich permanent die Frage, ob es in der populären Überlieferung so viele aus dem Trivialroman, dem Horrorfilm und der Pornographie vertraute Versatzstücke gibt, weil in diesem Fall die Kolportage mit der Wirklichkeit übereinstimmte? Oder könnte es ein Ablenkungsmanöver sein? Sind diese Berichte als der Versuch zu werten, das Geschehene einzuordnen, indem man es mit persönlichen Verfehlungen und Ausschweifungen in Verbindung brachte, die nicht ganz dem entzogen waren, was die Welt bis dahin kannte und erlebt hatte.
Kochs "private" Morde wurden erst möglich, weil er sich eines von der SS installierten Tötungsapparats bedienen konnte. Hoven, der Liebhaber seiner Frau, machte mit Dr. Erwin Ding, dem ersten Lagerarzt und Leiter der Fleckfieberversuchsabteilung, Menschenexperimente für die Pharmaindustrie, zog tödliche Injektionen für Euthanasieopfer, Kriegsgefangene und Regimegegner auf, ermordete nebenbei Leute, die Koch aus dem Weg haben wollte und stellte dann selbst den Totenschein aus. Vom System wurde er gedeckt. Weil die Nazis ihren Verbrechen gern den Anschein des Legalen gaben, wurde jeder Todesfall in Buchenwald medizinisch "untersucht". Angesichts der vielen Leichen (geschätzte 56.000 Opfer) kann man sich denken, wie oberflächlich das ablief, aber in den Akten machte es sich gut. Obduktionen führte anfangs das gerichtsmedizinische Institut der Universität Jena durch. 1938 übernahm die Pathologie in Buchenwald diese Aufgabe. Dann wurden die Leichen im lagereigenen Krematorium verbrannt. So war alles in einer Hand.
Als 1945 die Amerikaner kamen, fanden sie im Krematorium 1.200 Büchsen. Inhalt: Die penibel aufbewahrte Asche von Menschen, die ohne erreichbare Angehörige gestorben waren. Ordnung und Sauberkeit waren Leuten wie Karl Otto Koch sehr wichtig. An diese Büchsen und die durch sie repräsentierten Sekundärtugenden sollte man gelegentlich denken, wenn man die Berichte von Konrad Morgen und anderen liest, in denen Ilse Koch als Schlampe beschrieben wird, die erst mittags aufsteht, statt für die Familie ein herzhaftes Frühstück zuzubereiten und dann das Haus zu putzen. Ihr Gatte übrigens sparte die Urnen ein, als die Leichen immer mehr wurden. Die Asche und die Knochenreste wurden neben dem Krematorium ausgekippt. Wenn der Ascheberg eine bestimmte Größe erreicht hatte kamen Lastwagen, transportierten die menschlichen Überreste in den Wald und schütteten alles in eine Grube. Beim Eintreffen der Amerikaner war im Krematorium auch eine Urne mit dem angeklebten Namen des ehemaligen Kommandanten zu besichtigen. Das überrascht, weil Wochen vor Kochs Hinrichtung der Brennstoff für die Öfen ausgegangen war. Ob da jemand versucht hatte, dem Schrecken mit Klebeband und bitterer Ironie zu begegnen?
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