Der korrupte Kommandant und seine perverse Nymphomanin

Seite 4: Geheimprozess

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Morgens Ermittlungen gegen Karl Otto Koch wurden von mysteriösen Todesfällen begleitet. Der SS-Hauptscharführer Rudolf Köhler beispielsweise, ein potentieller Zeuge, beging angeblich Suizid, indem er eine Zigarette nach der anderen rauchte und die Kippen schluckte. Morgen war klug genug, die Obduktion von der Gerichtsmedizin in Jena durchführen zu lassen und nicht in der Pathologie von Buchenwald. Prof. Friedrich Timm, der Doktorvater von Erich Wagner ("Ein Beitrag zur Tätowierungsfrage"), öffnete den Körper, konnte die Todesursache aber nicht eindeutig klären. Bei der toxikologischen Untersuchung einzelner Leichenteile fand das kriminaltechnische Institut in Berlin Spuren von Veronal. Auch Morgen hatte wenig Skrupel, wenn es um das Erreichen seiner Ziele ging. Um Hoven die Giftmorde nachzuweisen, ließ er an vier russischen Kriegsgefangenen die Wirkung von in Buchenwald getesteten Pharmaprodukten ausprobieren. Kogon schreibt, dass die Männer die Experimente überlebten und dann erwürgt wurden. Morgen stritt das ab. Die Sache wurde nie befriedigend aufgeklärt.

Laut Tagebuch von Dr. Ding wohnte dem Giftversuch neben Morgen auch Bernhard Wehner bei, damals Leiter der "Reichszentrale zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen" und SS-Sturmbannführer. Der 1931 in die NSDAP und die SA eingetretene, in vielen spektakulären Kriminalfällen des Dritten Reichs ermittelnde Wehner kam später als Polizeireporter beim Spiegel unter. Seine Spezialität war es, von der wahren Natur der NS-Verbrechen abzulenken, indem er die von den Handlangern eines Terrorsystems begangenen Taten mit Lustmorden, Raubüberfällen und Serienkillern vermischte und das Reichskriminalpolizeiamt bei dieser Gelegenheit zur unpolitischen Organisation erklärte, in der brave deutsche Polizeibeamte ihre Pflicht erfüllten - Kriminalisten, die man, so die Botschaft, in der BRD dringend brauchte, um die Sicherheit zu gewährleisten. Von dieser PR-Arbeit für die alten Kameraden aus dem RKPA - die bald Führungsposten im Bundeskriminalamt und in den Landeskriminalämtern besetzten - profitierte Wehner auch persönlich. 1954 wurde er Leiter der Kriminalpolizei in Düsseldorf. Die Kontinuitäten bei Exekutive und Judikative gehören mit dazu, wenn man sich wundert, warum Ilse Koch im Gefängnis starb, obwohl die NS-Gewaltverbrechen so zögerlich verfolgt wurden.

Weil die Ermittlungen in der Buchenwalder Korruptionsaffäre eine Größenordnung erreichten, die ein SS- und Polizeigericht wie das in Kassel überforderte, genehmigte Himmler im November 1943 die Bildung eines Gerichts "zur besonderen Verwendung". Morgen wurde als Untersuchungsrichter dieses SS- und Polizeigerichts z. b. V. eingesetzt, das autorisiert war, die Korruption in den Konzentrations- und Vernichtungslagern zu bekämpfen und Verfahren vor anderen Gerichten an sich zu ziehen. Alle Dienststellen des Reichssicherheitshauptamtes und des RKPA waren zur Unterstützung verpflichtet. Morgen ermittelte nach Buchenwald in Majdanek, Oranienburg, Sachsenhausen, Herzogenbosch, Auschwitz, Plaszow und Dachau. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Morgens späteren Einlassungen zufolge ergaben seine Untersuchungen, dass Karl Otto Koch 1941 bereits ein Vermögen von mehr als 100.000 Reichsmark angehäuft hatte - bei seinen Bezügen als Kommandant ein Ding der Unmöglichkeit. Koch hatte Häftlinge ausgeraubt, Geld und Naturalien unterschlagen, einen florierenden Schwarzhandel betrieben und in Buchenwald eine sehr profitable Schattenwirtschaft etabliert. Einen nicht unerheblichen Teil des Gewinns hatte er in Lottoscheine, Pferdewetten und wechselnde Liebschaften investiert. Einem Polizeibericht nach gab Koch von 5.597 Gramm Zahngold, das über einen nicht genauer bestimmten Zeitraum von toten Häftlingen erbeutet wurde, nur 851 Gramm an die dafür vorgesehene Stelle weiter. Den Rest behielt er für sich. Die Stenotypistin Ilse Köhler war praktisch mittellos, als sie Karl Koch kennenlernte. Nach der Heirat änderte sich das dramatisch. Von 120 Reichsmark im Jahr 1938 stieg ihr Bargeldvermögen auf 25.000 Reichsmark im Jahr 1943. Sie besaß jetzt Pelze, teure Hüte, Schuhe und Kleider, ein edles Sattel- und Zaumzeug, Möbel, Geschirr, Gläser, Dekorationsgegenstände, Wäsche von allerbester Qualität. Ungeklärt ist, welche Summen ihr Gatte im Laufe der Jahre an einflussreiche Persönlichkeiten im Verwaltungsapparat der SS zahlte, damit diese ihre schützende Hand über ihn hielten. Morgen wurde 1944 von Himmler zurückgepfiffen, weil er Leuten wie Oswald Pohl, dem Herrn über das Lagerwesen, zu nahe gekommen war.

In seinem Abschlussbericht vom 11. April 1944 legte Morgen Karl Otto Koch mehrere Morde zur Last, die Anstiftung Untergebener, Hehlerei, das Führen einer schwarzen Kasse, Betrug und das Unterschlagen von 94.000 Reichsmark. Ilse Koch wurde der Begünstigung und der gewohnheitsmäßigen Hehlerei beschuldigt. Am 17. August 1944 wurde formell Anklage gegen das Ehepaar sowie weitere Beschuldigte aus dem ehemaligen Kommandanturstab von Buchenwald erhoben (deren Verfahren wurde später abgetrennt). Im September 1944 begann vor dem SS- und Polizeigericht zur besonderen Verwendung der streng geheime Prozess. Koch stritt alles ab und behauptete, ein aufrechter und ehrlicher SS-Mann zu sein, das Opfer eines gezielten Rufmords, hinter dem der Lügen verbreitende Erbprinz zu Waldeck stecke. Unregelmäßigkeiten in den Abrechnungen seien das Resultat schlampiger Buchführung und nicht der Versuch, sich auf Kosten der Häftlinge und der SS zu bereichern.

Rund um das Ermittlungsverfahren gab es Drohungen und Einschüchterungsversuche, hinter denen Oswald Pohl gesteckt haben soll. Am Ende hatte Morgen so viele Beweise gesammelt, dass auch der mächtige Chef des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes seinen Günstling nicht mehr schützen konnte. Am 19. Dezember 1944 wurden die Urteile gegen Karl und Ilse Koch verkündet. Der ehemalige Kommandant von Buchenwald und Majdanek wurde der Unterschlagung für schuldig befunden und war in den Augen des Gerichts für die - unautorisierte - Ermordung von mindestens drei Menschen verantwortlich, die er angewiesen oder gedeckt hatte. Karl Otto Koch wurde zweimal zum Tode verurteilt. Für Ilse Koch hatte die Anklage fünf Jahre wegen Hehlerei gefordert. Sie wurde freigesprochen, wegen Mangels an Beweisen. Morgen erzählte nach dem Krieg, dass sie einen Nervenzusammenbruch simuliert und die Rolle der unwissenden und naiven, ihrem Mann blind vertrauenden Hausfrau und Mutter gespielt habe. Dadurch sei es ihr gelungen, die Richter einzuwickeln.

Ilse Koch wurde auf freien Fuß gesetzt. Vermutlich am Weihnachtstag 1944 tauchte sie in Ludwigsburg auf, bei der Stiefschwester ihres Gatten. Erna Raible hatte sich schon früher um die Kinder gekümmert und das auch während Ilses Untersuchungshaft getan. Die militärische Lage war inzwischen so prekär, dass jeder Mann gebraucht wurde. Karl Otto Koch dachte vielleicht, dass man das Urteil nicht vollstrecken, sondern ihn zur "Frontbewährung" schicken würde. Am 5. April 1945 wurde er in Buchenwald durch ein Erschießungskommando der SS hingerichtet. Mehrere Beteiligte berichteten hinterher darüber. Je nach Version sah er dem Tod mannhaft ins Angesicht oder musste er gefesselt werden, weil er sich mit Händen und Füßen wehrte, als man ihn vom Gefängnis in Weimar auf den Ettersberg brachte. Von Karl Otto Koch blieb nur sein Name auf der bereits erwähnten Urne.

Folter und Überlebensdruck

In Ilsa, She Wolf of the SS wird der Besuch des fetten Saliromanie-Generals mit einem Fress- und Saufgelage der oberen Ränge gefeiert, während sich im Mannschaftsquartier eine Sexorgie entspinnt. Der General singt ein Lied über das schöne Hofbräuhaus und freut sich über eine pfiffige Idee der Dominatrix. Ilsa hat am Ende der Tafel eine bibbernde junge Frau platziert. Die Frau ist völlig nackt und hat halb erfrorene Beine, weil sie auf einem Eisblock steht. Um den Hals hat sie eine Schlinge. Das Eis schmilzt, die Schlinge zieht sich zu, die nackte Frau wird langsam stranguliert, am Ende hängt sie tut von einem Balken. Die Partygäste im KZ finden das sehr amüsant.

Ilsa, She Wolf of the SS

Bevor man mich der Nazi-, Schweinkram- und Gewaltverherrlichung bezichtigt, sage ich zuerst das Offensichtliche. Die Regie ist miserabel, die Kameraarbeit auch nicht besser, das Talent der Darsteller nicht im schauspielerischen Bereich zu suchen, hinsichtlich der Motive der Filmemacher bin ich illusionslos. Natürlich finden wir das alle unerträglich und unentschuldbar. Wenn man dann noch, wie dieser Film, behauptet, historisch verbürgte Ereignisse zu präsentieren, verhöhnt man damit die Opfer. So etwas geht gar nicht. Trotzdem lässt sich die Szene als die Übertragung von Nazigräueln in ein anderes Register verstehen, unabhängig von der Intention der Macher. Die Orgien kennt man aus Berichten über Kochs in wüste Besäufnisse ausartende "Kameradschaftsabende" in Buchenwald und über das, was seine Frau angeblich getrieben hat. Nachdem Patton im Hinrichtungskeller des Krematoriums gewesen war, erfuhr eine schockierte Öffentlichkeit von den Haken, an die das Mordgesindel von der SS ihre Opfer aufgehängt hatte, um sie qualvoll sterben zu lassen. Und der Eisblock? In Buchenwald mussten Häftlinge bei winterlichen Temperaturen nackt auf dem Appellplatz stehen, was genauso durch die Medien ging wie die Unterkühlungsversuche im ebenfalls von den Amerikanern befreiten KZ Dachau. In Buchenwald warfen Dr. Ding und Dr. Hoven Häftlinge nicht in kaltes Wasser, um zu sehen, wie lange ins Meer gestürzte Piloten überleben können; sie fügten den Probanden Verbrennungen zu, um Behandlungsmethoden für die Opfer von Phosphorbomben zu testen (was auch in Ilsa vorkommt).

Es fällt doch auf, wie ähnlich die Mittel sind, mit denen sich Nachrichtenoffiziere, Journalisten, Strafverfolger, Romanschreiber und Exploitationfilmer - bei ganz unterschiedlichen Motiven - der "Hölle der Lager" nähern (auch das eine Metapher). Es fing an am 14. Februar 1945, also zwei Monate vor der Befreiung von Buchenwald, als der US-Geheimdienst einen vertraulichen Bericht über die Frau des Kommandanten anfertigte, von der es hieß, dass sie einen Hang zu Grausamkeit und willkürlicher Gewalt habe und dass in ihrem Auftrag vier (oder vierzig) tätowierte Häftlinge getötet worden seien, worauf man ihnen die Haut abgezogen habe. Wahrscheinlich zwei Tage nach der Befreiung, am Abend des 13. April, kamen Edward A. Tenenbaum und Egon W. Fleck in das Lager. Die beiden gehörten zur Psychological Warfare Division, Tenenbaum im Rang eines First Lieutenant und Fleck, ein 1938 emigrierter Wiener, als ziviler Experte, weil er mit Sprache und Kultur vertraut war.

Psychologische Kriegsführung also. Was machten zwei PsyWar-Leute in Buchenwald? Für Holocaust-Leugner kann die Antwort nur lauten: Gefälschte Beweise für Nazigräuel deponieren, die es so nie gegeben hat. Das Szenario ohne Verschwörungstheorie: Fleck und Tenenbaum hatten den Auftrag, sich ein Bild von der Lage zu machen - und zwar sowohl hinsichtlich der Täter und ihrer Verbrechen als auch mit Blick darauf, mit welchen Deutschen die Militärregierung zusammenarbeiten konnte (und mit welchen nicht). Es lag nahe, in Buchenwald nach vertrauenswürdigen Personen zu suchen, weil dort viele politische Gefangene festgehalten wurden. Fleck und Tenenbaum betraten das Lager wohl in der Erwartung, eine klare Trennung zwischen Tätern und Opfern vorzufinden. Inzwischen weiß man aber, dass der auf den Häftlingen lastende Überlebensdruck wenig Raum für Mitmenschlichkeit und Solidarität ließ.

Kommunisten und Lebende Tote

Unter den Gefangenen gab es Konkurrenz und Gewalt. Die Überlebenschancen erhöhten sich, wenn man Mitglied einer Gruppe war. Am besten organisiert waren die Kommunisten, denen es im Laufe der Zeit gelang, die Schlüsselpositionen in der Häftlingslagerverwaltung zu besetzen. Die SS hatte diese Selbstverwaltung der Häftlinge aus zwei Gründen eingeführt: Um die Effizienz zu steigern und um die Lagergemeinschaft zu spalten. Anfangs wurden vorbestrafte Kriminelle zu Funktionshäftlingen oder "Kapos" gemacht. Dann übernahmen die Kommunisten die meisten dieser Stellen. Dabei ging es ziemlich mörderisch zu, mit tatkräftiger Unterstützung durch Waldemar Hoven. Der Lagerarzt verabreichte in Absprache mit den Kommunisten tödliche Injektionen, wenn sich die Gelegenheit ergab, in der Verwaltung einen "Berufsverbrecher" durch einen politischen Gefangenen zu ersetzen.

Die neuen Funktionshäftlinge führten Verbesserungen herbei, von denen das gesamte Lager profitierte, und sie hatten Privilegien, die anderen vorenthalten blieben. Nicht nur Koch, auch sie betrieben einen schwunghaften Schwarzhandel. Aus dem Vernichtungslager Auschwitz trafen Waggonladungen voller Kleidungsstücke ein, die man den ermordeten Juden abgenommen hatte. Funktionshäftlinge organisierten das Sortieren der Textilien und lösten die oft darin eingenähten Wertsachen heraus. Das so erworbene Kapital ließ sich verwenden, um SS-Männer zu bestechen, weitere Verbesserungen zu erreichen und die eigene Machtposition auszubauen. Andererseits wurden in den letzten Jahren immer mehr Menschen in Buchenwald eingeliefert, die man dort wie Vieh behandelte. So vergrößerte sich die Kluft zwischen dem privilegierten Teil der Häftlinge und deren Genossen und dem Rest der Lagerbevölkerung. Der Großteil der 21.000 Überlebenden wirkte beim Eintreffen der Amerikaner apathisch und litt unter schweren Mangelerscheinungen. Gleichzeitig gab es straff organisierte, relativ wohlgenährte Gruppen von Kommunisten, Angehörigen bestimmter Nationen und so weiter, die überraschend selbstbewusst auftraten, eigene Aufmärsche veranstalteten, für Ordnung sorgten und einen internationalen Lagerrat bildeten. Das stand im starken Kontrast zu den "lebenden Toten", denen Fleck und Tenenbaum begegneten.

Die beiden Berichterstatter schreiben über den Machtkampf unter den Häftlingen, halten fest, dass die kommunistischen Kapos für viele Todesfälle verantwortlich seien, bemühen sich aber auch, deren Verhalten im Kontext des KZ Buchenwald zu sehen:

Soweit so etwas rekonstruiert werden kann, sind die Motive der Kommunisten völlig human. Nur der Tüchtigste konnte zwölf Jahre Konzentrationslager überleben. Die Tüchtigkeit bestand darin, die SS von der eigenen Nützlichkeit zu überzeugen, und im Kampf für das Überleben musste dieses Merkmal hervortreten. Gestützt durch den geheiligten Egoismus ihrer Mission, durch den Gedanken zu leben, um ein kommunistisches Deutschland zu formen, verloren sie ihren humanen Idealismus. Sie wurden hart, denn sie überlebten ja nicht für sich selbst, sondern im Namen der proletarischen Zukunft Deutschlands und rechtfertigten dadurch viele extreme Mittel des Überlebens.

Ihre Informationen bezogen Tenenbaum und Fleck aus zweiter Hand, weil die Kapos nicht darüber reden wollten und einige von ihnen bereits begonnen hatten, an späteren Legenden zu stricken. Der heroische Kampf der Kommunisten im KZ Buchenwald gehört zum Gründungsmythos der DDR, die sich zum direkt aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangenen Staat stilisierte (und die BRD zur Nachfolgeorganisation des Dritten Reichs erklärte). Dafür gab es eine reale Grundlage, zu der einiges hinzuerfunden, bei der manches weggelassen und vieles übertrieben wurde. Die kommunistisch dominierte Lagerverwaltung rettete vielen Häftlingen das Leben, indem sie die zur Evakuierung angeordneten Todesmärsche hinauszögerte, aber die in der DDR groß gefeierte Selbstbefreiung konnte nur stattfinden, weil die Wachmannschaften der SS beim Herannahen der Amerikaner die Flucht ergriffen, und weniger als hundert der 51.000 Toten von Buchenwald waren organisierte Kommunisten. Für die Funktionshäftlinge hatte der Zweck die Mittel geheiligt. Eine Grausamkeits- und Perversionsheroine namens Ilse Koch war auch da sehr praktisch, weil die ihr zugeschriebenen Untaten von den nicht so erfreulichen Aspekten in der Vita der Helden des Antifaschismus ablenkten. Ein SS-Lagerarzt, der mit der Kommandeuse Ehebruch begeht und für sie Zeugen beseitigt, war aus Sicht der offiziellen DDR-Geschichtsschreibung viel besser als ein Waldemar Hoven, der die Gegner der Kommunisten in deren Auftrag mit Giftspritzen ermordet.

Perverse Nymphomanin, verheiratet mit einem Schwulen

Fleck und Tenenbaum fragten entweder gezielt nach Karl und Ilse Koch, weil sie den Geheimdienstbericht vom Februar 1945 gelesen hatten, oder Häftlinge erzählten von sich aus von dem Paar, wobei offen bleiben muss, ob es sich dabei um Hörensagen handelte oder nicht. Hier das Ergebnis:

Die schlimmsten Gräueltaten geschahen, während der berüchtigte Karl Koch Lagerkommandant war. […] Er und seine Frau waren pervers. Der Ehemann homosexuell und die Ehefrau Nymphomanin. Beide befriedigten ihre Wünsche an den hilflosen Insassen. Sie ging durchs Lager, griff sich einen ihr genehmen Partner und nahm ihn mit nach Hause für die Nacht, um ihn später unweigerlich erschießen zu lassen. Sie liebte Tätowierungen. Die Häftlinge wurden regelmäßig im Hospital untersucht. Wann immer ein Häftling mit einer etwas außergewöhnlichen Tätowierung gefunden wurde, wurde er getötet, seine Haut abgezogen und der tätowierte Teil gegerbt. Einige außergewöhnliche Objekte wurden daraus angefertigt, unter anderem ein berühmter Lampenschirm.

Datiert ist der Bericht am 24. April 1945. Zu dem Zeitpunkt waren bereits die Artefakte des Buchenwald-Tischs präsentiert worden (vom 16. bis 21.4.), darunter konservierte Hautstücke mit Tätowierungen und besagter Lampenschirm (ohne Tätowierungen). Ann Springer, Korrespondentin der United Press, war vor Ort gewesen und hatte eine am 20. April in Stars and Stripes abgedruckte Reportage verfasst, durch die die Lampenschirmgeschichte erstmals öffentlich wurde. Springer schreibt von Bucheinbänden, Lesezeichen und anderen "dekorativen Stücken" aus Menschenhaut sowie einem Lampenschirm mit fünf Paneelen, hergestellt aus der von der Brust eines Mannes abgezogenen Haut. Ein befreiter Häftling, ein holländischer Ingenieur, habe ihr von tätowierten Gefangenen erzählt, die sich mit nacktem Oberkörper vor der Frau des Kommandanten aufstellen mussten. Die Kommandeuse habe sich dann ein Motiv ausgesucht, das ihr gut gefiel, und der betreffende Häftling sei hingerichtet worden, um aus seiner Haut einen Dekorationsgegenstand machen zu können.

Bekanntlich hängen Antworten nicht zuletzt davon ab, wer welche Fragen stellt. Oft ist zu lesen, dass die Grausamkeit der Kommandeuse allgemeines Lagerwissen gewesen sei. Viele Autoren geben sich damit zufrieden, dass etwas so gewesen ist, weil mehrere Leute es erzählt haben. Das ist verständlich. Man bewegt sich da in einem Spannungsfeld zwischen nachprüfbaren Fakten und mündlicher Überlieferung, zwischen der Zumutung an die Zeugen, sich Jahre später an Details erinnern zu sollen und dem Verdacht, dass den Opfern der NS-Verbrechen die Erinnerung im Fall der Ilse Koch einen Streich gespielt haben könnte. Wer würde nicht gern einen großen Bogen um das moralische Dilemma machen, mit dem man da konfrontiert ist? Trotzdem bleibt die Tatsache, dass der US-Nachrichtendienst schon vor der Befreiung des Lagers von einer SS-Ehefrau mit einer Vorliebe für tätowierte Menschenhaut und sexuelle Perversionen zu wissen glaubte und mit der Präsentation des Buchenwald-Tisches eine Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die sich zunehmend verselbständigte.

Ich frage mich, wie sich ein Häftling fühlte, der dauernd von Ilse Koch erzählen sollte, weil das viel interessanter (oder leichter konsumierbar) war als das Martyrium, das die Überlebenden erduldet hatten, weil sie ein verbrecherisches System entrechtet und der Willkür der SS-Wachmannschaften ausgeliefert hatte. Wie ging es einem ehemaligen Häftling im Nachkriegsdeutschland, wenn die Mitbürger hellhörig wurden, sobald von der Kommandeuse von Buchenwald die Rede war, sonst aber von Konzentrationslagern nichts wissen wollten, weil das beim Verdrängen störte? Hätten die Buchenwald-Überlebenden, die über Ilse Koch Zeugnis ablegten (bezogen auf 21.000 befreite Gefangene eine sehr kleine Gruppe), genauso - oder überhaupt - von ihr gesprochen, wenn man sie nicht permanent nach den Lampenschirmen eines Sexmonsters gefragt hätte? Bei dieser Ausgangslage wird es sehr schwierig, zwischen einer objektiven und einer subjektiven Wahrheit zu unterscheiden.

Am Umgang mit dem Bericht von Fleck und Tenenbaum ist abzulesen, dass Hitler-Deutschland noch gar nicht kapituliert hatte, als bereits der Kalte Krieg Fahrt aufnahm. Alfred Toombs, Chief of Intelligence der Publicity & Psychological Warfare Division, sorgte für die "besondere Verteilung" des zunächst als vertraulich eingestuften Dokuments. "Der Bericht schildert", so Toombs in einer Vorbemerkung, "wie die Häftlinge selbst einen tödlichen Terror innerhalb des Nazi-Terrors organisierten" und lasse deutlich werden, "dass wir bei unserer Suche nach den anständigen demokratischen Elementen, denen wir in Deutschland vertrauen können, nicht nur auf das Äußere hin ALL die Menschen akzeptieren können, die sich den Nazis und dem Faschismus widersetzt haben und dafür inhaftiert wurden." Gemeint sind die roten Kapos. Weil Toombs möglichst viele Leute vor den Kommunisten warnen wollte, fand also ein Dokument größere Verbreitung, dessen spektakulärste Eröffnungen der Frau des toten Kommandanten galten. Wer es bisher noch nicht gewusst hatte, erfuhr nun aus offiziellen Kanälen, dass Ilse Koch, die perverse Nymphomanin, Häftlinge töten und häuten ließ, wenn ihr eine Tätowierung gefiel.

Die Kommandeuse badet in Madeirawein

Diese oder eine ähnliche Information hatte vermutlich auch der in Göttingen geborene und 1938 in die USA emigrierte Albert G. Rosenberg, als er am 16. April im befreiten KZ Buchenwald eintraf, also am ersten von sechs Tagen, an denen der Tisch mit "Ilse Kochs Lampenschirm" präsentiert wurde. Rosenberg leitete ein fünfköpfiges Team der PsyWar Division. Der Auftrag: Verfassen eines analytischen Berichts über das KZ-System. Unterstützt wurden die Männer von der Abteilung für psychologische Kriegsführung durch zehn befreite Häftlinge unterschiedlicher Nationalität, denen in Weimar ein Arbeitsraum in der früheren Villa von Reichsjugendführer Baldur von Schirach zur Verfügung gestellt wurde. Leiter der Häftlingsgruppe und federführend bei der Abfassung des Berichts war der katholisch geprägte Nazigegner, Soziologe und Publizist Eugen Kogon. 1939 nach Buchenwald verschleppt, war Kogon mit einigen Unterbrechungen bis zum April 1945 dort inhaftiert gewesen und hatte ab 1943 als Arztschreiber und Privatsekretär für Dr. Ding gearbeitet, den Leiter der Fleckfieber-, Phosphor- und sonstigen Humanversuche.

Inwieweit die Präsentation des weltweit für Aufsehen sorgenden Buchenwald-Tisches diejenigen der rund 120 befragten Personen beeinflusste, die Angaben zu Karl Otto Koch und seiner Frau Ilse machten, ist schwer zu sagen. Im Lager herrschte ein dauerndes Kommen und Gehen. Viel Phantasie gehört nicht dazu, um sich ein Szenario vorzustellen, in dem ein Wettbewerb um die beste Ilse-Koch-Geschichte entsteht, weil die Überlebenden permanent mit Leuten konfrontiert sind, die nach den Lampenschirmen der leicht bekleidet durch das Lager reitenden Kommandeuse fragen. Ich war nicht dabei und weiß nicht, wie es wirklich war. Die idealen Voraussetzungen für möglichst objektive Erkenntnisse stelle ich mir jedenfalls anders vor. Einige der am häufigsten kolportierten Details gegen auf den Klatsch in der Kantine für die Wachmannschaften zurück. Als Kellner arbeitende Häftlinge wollten gehört haben, wie sich SS-Männer über einen Kameraden unterhielten, der es sich bestimmt gerade von der Gattin des Kommandanten besorgen ließ. Kogon sagt ausdrücklich, dass die Geschichte von der Lastwagenladung voller Zitronen, die Koch abzweigte, damit sich seine Frau die zarte Haut mit ihnen einreiben konnte, frei erfunden ist. Von ihm abschreibende Buchenwald-Kenner hat das nicht gehindert, die Anekdote als die Wahrheit auszugeben - gern in Verbindung mit Ilse Kochs regelmäßigem Bad in Madeirawein.

Der am 11. Mai fertiggestellte Bericht verschwand in den Archiven. Rosenberg behielt eine Abschrift und übergab sie Jahrzehnte später dem Historiker David A. Hackett, der den Buchenwald-Report in den 1990ern als Buch herausgab. Im Mai 1945 scheint ein Exemplar beim späteren Labour-Abgeordneten und Minister Richard Crossman gelandet zu sein, damals bei der Abteilung für psychologische Kriegsführung tätig und Co-Autor des Skripts für eine unvollendet gebliebene Dokumentation über die Gräueltaten in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, an der auch Alfred Hitchcock mitarbeitete (mehr dazu in André Singers Night Will Fall). Crossman regte an, dass Kogon auf Grundlage des Berichts ein Buch in deutscher Sprache schreiben solle. Der SS-Staat, 1946 erstmals erschienen, ist zurecht ein Standardwerk geworden. Kogon zeichnet ein eindrucksvolles Gesamtbild vom KZ-System, auch wenn die Details nicht immer stimmen. Allerdings müssen Teile des Buchs neu gelesen werden, seit Hackett den Buchenwald-Report herausgegeben hat.

Man kann jetzt besser nachvollziehen, wie Kogon den von ihm maßgeblich verfassten Bericht vom Frühjahr 1945 für Der SS-Staat umgearbeitet hat. Man erkennt, dass man die "ruhige Sachlichkeit", um die er sich laut Vorwort bemüht hat, nicht in allen Fällen mit Objektivität verwechseln darf. Einzelne Passagen wirken gleich viel subjektiver, wenn man sie mit den Einzelberichten im Buchenwald-Report vergleicht und feststellt, wie viel davon er paraphrasiert oder direkt zitiert. Auch Kogon scheint in die Ilse-Koch-Verwertungsmühle geraten zu sein. In Der SS-Staat erfährt man Folgendes: An einem Sonntag im Februar 1939 kam sie "mit vier anderen Weibern von SS-Führern" an den Drahtzaun um das Häftlingslager, um sich "am Anblick der nackten Gestalten" zu "weiden", die drei Stunden lang unbekleidet auf dem Appellplatz stehen mussten. Im Buchenwald-Report kann man die Aussage des Häftlings Fritz Männchen finden, der das im April/Mai 1945 erzählt hat. Kogon hat die "Weiber" übernommen, das "sich aufgeilen" in der Originalquelle aber durch "sich weiden" ersetzt.

Beim Buchenwaldprozess von 1947 wurde daraus eine Szene, die in der TV-Dokumentation Die Hexe von Buchenwald nachgestellt wird. Die Häftlinge, sagt der Fernseh-Kogon, wurden durchsucht und mussten nackt auf dem Appellplatz stehen. Ilse Koch stand am Zaun und schaute zu. Er habe sie selbst gesehen. Der echte Kogon sagte es auch. War er also mit dabei? Oder war die Erinnerung von Fritz Männchen zu seiner eigenen geworden? Im Report ist es der Februar 1938, nicht 1939 wie in Der SS-Staat. Liegt ein Tipp- bzw. Druckfehler vor? War es womöglich erst im Februar 1940, als Ilse Koch am Zaun stand? Dann könnte Kogon sie selbst gesehen haben, vorher aber nicht. Im September 1939 wurde er nach Buchenwald deportiert. Beim Augsburger Prozess von 1950/51 bat er, ihn als Zeugen zu entschuldigen. Er habe Ilse Koch nur ein einziges Mal selbst gesehen. Beim Filzen der Häftlinge habe sie am Zaun gestanden. Ansonsten könne er nur vom Hörensagen berichten.

Eugen Kogons Honorigkeit steht für mich außer Frage. Aber die Wahrnehmung ist subjektiv, oft sieht man, was nicht da ist, und die Erinnerung ist ebenso flüchtig wie wandlungsfähig. Aussagen von Augenzeugen sind immer problematisch. Ich bezweifle, dass sich daran etwas ändert, wenn viele Zeugen ähnliche Sachen sagen, die vorher schon in der Zeitung zu lesen waren. Häftlinge wurden durchsucht (um sie auszurauben), mussten sich nackt ausziehen und stundenlang in Reih und Glied stehen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, das anzuzweifeln. Aber wenn Ilse Koch auftaucht, wird es kompliziert. Je genauer man hinschaut, desto diffuser wird das Bild. Beim Lesen der Einzelberichte und der Memoiren einiger Buchenwald-Überlebender ist mir aufgefallen, dass es einander ähnliche Schilderungen von Gräueltaten gibt, die einmal der Kommandeuse und ein andermal einem SS-Mann zugeschrieben werden. Kann es sein, dass manche der zweifellos traumatisierten Häftlinge die tägliche Willkür, Gewalt und Erniedrigung, die sie durch die SS-Wachmannschaften erfahren hatten, an Ilse Koch festmachten, weil die "Hexe von Buchenwald" schon sehr früh zur Verkörperung der in den Lagern begangenen Verbrechen geworden war?

Ich traue mir nicht zu, das zu beurteilen. Ich weiß auch nicht, was Ilse Koch getan oder angeordnet hat, als sie die Gattin des Kommandanten von Buchenwald war. Sympathisch ist sie mir nicht. Angesichts der gegen sie vorgebrachten Beweise aber hätte es für einen geschickten Strafverteidiger eigentlich möglich sein müssen, einen Freispruch zu erwirken. Im dritten und letzten Teil werden wir uns der Frage widmen, wie es dazu kam, dass man die "Hexe von Buchenwald" innerhalb von vier Jahren zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte, kurz freiließ, wieder zu lebenslanger Haft verurteilte und dann den Schlüssel wegwarf, während sich allerlei NS-Kriegsverbrecher über eine dem Kalten Krieg geschuldete Amnestie freuen durften.

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