Der lange Abschied von der freien Meinung: Sind wir noch Charlie?

Seite 2: Konsequenzen für Demokratie und Zusammenleben

Die besorgniserregenden Phänomene des mangelnden Zusammenlebens haben verheerende Folgen für die Demokratie.

Die US-amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hatte schon im US-Wahlkampf 2016 vor einem Sieg von Donald Trump gewarnt. Eine zentrale Erkenntnis auf ihrer Recherchereise:

Weil wir uns nicht mehr kennen, ist es so einfach, sich in Abscheu und Verachtung einzurichten.

Der Journalist Bastian Berbner ergänzt pointiert in seinem Buch "180 GRAD":

Weil wir uns in Abscheu und Verachtung einrichten, lernen wir uns nicht mehr kennen.

Die Folge: Es kommt kaum noch zum Austausch mit Andersdenkenden. Dieser Austausch ist aber für die Demokratie lebenswichtig. Es ist kein Zufall, dass der zentrale Platz im antiken Athen, die Agora, so eine bedeutende Rolle der Polis für die griechische Demokratei gespielt hat.

Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun betonen daher, "das Miteinander-Reden und Miteinander-Streiten ohne falsche Harmonieerwartung ist in einer Demokratie tatsächlich alternativlos."

Seit Jahren erleben wir aber einen Empöralismus (Michael Schmidt-Salomon) und eine Gesprächsverweigerung. Die Abwertung der "Gegengruppe" in "Cofaschisten" bzw. "Covididioten" oder "Kriegstreiber" und "Putinversteher" gehört längst zum gepflegten Umgangston.

Auf dem Weg bleibt Berbners Frage:

"Wann haben Sie zuletzt mit jemandem gesprochen, der ganz anders war als Sie oder wenigstens ganz anderer Meinung?"

Notwendigkeit der Debatte

Der Meinungsaustausch und der faire Streit um einen Konsens sind das Herzstück der Demokratie. Entsprechend ist ein Meinungsaustausch, der nicht mehr stattfindet, weil entweder ein größerer Teil der Gesellschaft Angst hat seine Meinung zu äußern oder eine Begegnung zwischen den unterschiedlichen Ansichten schlicht nicht mehr gelebt wird, für das Funktionieren einer Demokratie extrem gefährlich.

Der Philosoph Leander Scholz formuliert hierzu in der Welt einige sehr wichtige Gedanken, die es verdienen, ausführlich zitiert zu werden:

Auf allen Seiten geben die Eiferer den Ton an. Es geht auch um viel. Denn im Kern dreht sich die Auseinandersetzung darum, was es eigentlich heißt, sich zu streiten. Es ist eine Meta-Auseinandersetzung darüber, was man sagen darf und was nicht, wer reden darf und wer nicht und wer wir überhaupt sind als Bürger dieser Republik.

Wer als Vermittler auftritt, muss dem Verdacht ausgesetzt werden, gar keine wahre Überzeugung zu haben, bloß Opportunist und Karrierist zu sein, sich drücken zu wollen vor dem Moment der Wahrheit. Die Mitte muss leblos und langweilig erscheinen, ihre Vertreter zum Gespött werden, bis ihnen niemand mehr zuhört.

In einer demokratischen Auseinandersetzung ist es entscheidend, nicht die Person, sondern die Meinung anzugreifen. In einem Bürgerkrieg ist das Gegenteil der Fall. Der politische Gegner wird pathologisiert, moralisch herabgesetzt, zur Unperson erklärt und so aus dem öffentlichen Diskurs hinausgedrängt. Nicht der Austausch von Meinungen ist das Ziel, sondern die Vernichtung einer Wahrheit, die unerträglich erscheint.

Das gute Gewissen, damit das politisch Richtige zu tun, beruht auf einem Gefühl der Notwehr. Die einen sehen einen neuen Faschismus heraufziehen, die anderen glauben, dass das Land dem baldigen Untergang geweiht ist, wenn sie nicht rettend einschreiten.

Vor diesem Hintergrund erscheint es den Lagern gerechtfertigt, die Prinzipien des Liberalismus außer Kraft zu setzen. Im Notfall muss man handeln, die Ausnahmesituation zwingt dazu, bei der Wahl der Mittel nicht zimperlich zu sein. Kennzeichnend für einen Bürgerkrieg ist, dass sich alle Parteien in einem absoluten Recht wähnen.

Ein weiteres Opfer

Im August 2022 wurde der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie Opfer eines Messerangriffes, bei dem er nur denkbar knapp dem Tode entkam. Seit 1989 war er durch eine Fatwa, die der damalige Oberste Führer des Iran, Ruhollah Khomeini, verhängt hatte, zum Tod verurteilt. Anlass hierfür war sein Werk "Die satanischen Verse".

Die Reaktionen auf die Tat waren – wie nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo – eindeutig. Der Angriff wurde massiv verurteilt und betont, welch außergewöhnliche Bedeutung die Meinungsfreiheit, dessen mutiger Vorkämpfer Rushdie war und ist, für die offene und demokratische Gesellschaft hat.

So beispielsweise der damalige US-Präsident Joe Biden und der damalige britische Premierminister Boris Johnson.

Bundeskanzler Olaf Scholz teilte dem Schriftsteller über X mit:

Die Welt braucht Menschen wie Sie, die sich vom Hass nicht einschüchtern lassen und furchtlos für die Meinungsfreiheit eintreten.

Das Opfer spricht für sich

2023 erhielt Rushdie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede geht er, der jahrzehntelang sein Leben für die Meinungsfreiheit riskiert hat, auf die Gefahren ein, die er wahrnimmt:

In einer Zeit, in der die Freiheit, insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe, auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird.

Das Publikum zeigte mit einem langanhaltenden Applaus seine Zustimmung. Dann fährt Rushdie – ganz im Sinne des Bundesverfassungsgerichts – fort:

Eine Zeit, in der sich Bildungseinrichtungen und Bibliotheken Zensur und Feindseligkeit ausgesetzt sehen. In der extremistische Religionen und Bigotte-Ideologien beginnen, in Lebensbereiche vorzudringen, in denen sie nichts zu suchen haben.

Und es gibt sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Art von Bien-Pensant-Zensur aussprechen. Eine Zensur, die sich den Anschein der Tugendhaftigkeit gibt und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend halten. Von links wie rechts gerät die Freiheit also unter Druck, von den Jungen wie den Alten.

Nun gibt es deutlich weniger Zustimmung.

Das Wesen der Meinungsfreiheit

Rushdie hat auch einen Lösungsvorschlag:

Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan das tun, was wir schon immer tun mussten, schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann.

Hier setzt wieder ein starker Applaus ein. Rushdie ergänzt:

Wir müssen sie erbittert verteidigen und sie so umfassend wie möglich definieren, was natürlich heißt, dass wir die freie Rede auch dann verteidigen, wenn sie uns beleidigt, da wir die Meinungsfreiheit sonst überhaupt nicht verteidigen würden.

Der Applaus fällt hier deutlich schwächer aus.

Bei Rushdies Gedanken muss man unwillkürlich an ein Zitat denken, das vermutlich fälschlicherweise Voltaire zugeschrieben wird, und das die Bundeswehr in einer abgewandelten Form auch für eine Werbekampagne benutzt:

"Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen."

Oder, wie angesichts des Anschlages auf Charlie Hebdo vor zehn Jahren der britische Journalist Eliot Higgins schreibt: "Ich verteidige Dein Recht, dummen Scheiß zu sagen, aber es bleibt dummer Scheiß."

Es stellt sich zehn Jahre nach den Anschlägen auf Charlie Hebo, der elf Menschen das Leben gekostet hat, die Frage: Was ist aus dem Versprechen zahlreicher Politiker geworden, das hohe Gut der Meinungsfreiheit zu schützen?

Und nicht zuletzt: Sind wir, wir alle, zehn Jahre später eigentlich wirklich noch Charlie?

Literatur:
Berbner, Bastian: 180 GRAD.
Boehm, Omri: Radikaler Universalismus
Hochschild, Arlie Russell: Fremd in ihrem Land
Kitz, Volker: Meinungsfreiheit
Neiman, Susan: Links ist nicht woke
Nida-Rümelin, Julian: "Cancel Culture"
Pfister, René: Ein falsches Wort
Pörksen, Bernhard und Schulz von Thun, Friedemann: Die Kunst des Miteinander-Redens
Schmidt-Salomon, Michael: Die Grenzen der Toleranz

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