Der lange Abschied von der freien Meinung: Sind wir noch Charlie?
Der Anschlag auf Charlie Hebdo schockierte vor zehn Jahren die Welt. Millionen demonstrierten für die Meinungsfreiheit. Heute zeigt sich eine andere Realität.
Am 7. Januar 2015, heute vor zehn Jahren, war die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die immer wieder Politik und Religion aufs Korn genommen hatte, Ziel eines Anschlages, bei dem elf Menschen ermordet wurden.
Die weltweiten Reaktionen waren deutlich. Deutschland ordnete eine dreitägige Trauerbeflaggung als Zeichen der Solidarität an und in Frankreich gingen wenige Tage später 3,7 Millionen Menschen für die Meinungsfreiheit auf die Straße. Allein in Paris beteiligten sich bis zu 1,6 Millionen Menschen an einem Trauermarsch.
Darunter, neben der französischen Regierung, 44 Staats- und Regierungschefs aus dem Ausland. Die allgegenwärtigen Plakate zeigten das Motto: "Je suis Charlie" (Deutsch: Ich bin Charlie).
Staatschefs betonen Meinungsfreiheit
In seltener Einigkeit zeigten sich die Regierungen zahlreicher Länder weltweit: Der Anschlag war ein Anschlag auf die Meinungsfreiheit, und diese galt es unbedingt zu schützen.
In diesem Sinn sprachen beispielsweise der damalige US-Präsident Barack Obama, der damalige britische Premierminister David Cameron, der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der damalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der damalige deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel.
Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte:
Millionen Menschen aus aller Welt spüren, dass es in der Auseinandersetzung mit den Terroristen um eine unserer Grundfreiheiten geht: um die Freiheit der Presse, die Freiheit, zu schreiben, zu filmen, zu veröffentlichen – ohne Zensur.
Es ist der Artikel fünf unseres Grundgesetzes, der diese Freiheit garantiert. Er gehört für mich neben dem Artikel eins zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen, dem Artikel zwei zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, dem Artikel drei zur Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und dem Artikel vier zur Freiheit des Glaubens zu den größten Schätzen unserer Gesellschaft.
Die Pressefreiheit ist nicht zu trennen von der Meinungsfreiheit des einzelnen Bürgers. Ja, Bürger sein und nicht Untertan, das ist doch nur möglich, wenn es eine freie Presse gibt, wenn wir ungehindert an die Informationen kommen können, die uns eine eigene Meinung, ein eigenes Urteil erlauben.
Vermisste Freiheit
Unzweifelhaft ist die Meinungsfreiheit ein extrem wertvolles Gut. 92 Prozent der Deutschen sind der Ansicht, dass die Meinungsfreiheit zu den Grundbestandteilen einer offenen Gesellschaft gehört.
Betrachtet man jedoch die Umfragen daraufhin, wie stark das Gefühl verbreitet ist, dass Meinungsfreiheit in Deutschland existiert, so sind die Zahlen alarmierend:
2023 waren 40 Prozent der Befragten der Meinung, dass man in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann. Das ist der niedrigste Wert seit 1990, als dieser Aussage noch 78 Prozent zustimmten. 44 Prozent waren im Jahr 2023 hingegen der Meinung, dass es besser ist, vorsichtig zu sein, wenn es um die Äußerung der politischen Meinung geht.
Presseerklärung des Statistischen Bundesamtes
Warum ist das Vertrauen ein Jahrzehnt nach all den vollmundigen Versprechungen von "Je suis Charlie" auf historisch niedrigem Niveau?
Polarisierte Gesellschaft
Ein wichtiger Grund für das erschreckend geringe Maß an empfundener Meinungsfreiheit dürfte in der vorherrschenden Polarisierung der Gesellschaft liegen. Eine aktuelle Untersuchung offenbart das Ausmaß.
41 Prozent der Befragten sind überzeugt, Menschen stünden sich in der heutigen Gesellschaft unversöhnlich gegenüber. Weitere 38 Prozent stimmen der Aussage "Teils-teils" zu. Nur jeder fünfte Deutsche sieht eher keine oder überhaupt keine Polarisierung.
Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist ebenfalls in einem bedrohten Zustand. Im Jahr 2019 waren zwei Drittel der Deutschen der Ansicht, es gäbe wenig oder keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft.
In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von April 2024 kommt diese zum Schluss, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in den letzten Jahren noch deutlich gesunken ist. Zweifelsohne ist eine stark polarisierte Gesellschaft und fehlender Zusammenhalt alles andere als ein guter Nährboden für die Meinungsfreiheit.
Cancel Culture
Ein weiterer Grund für den angeschlagenen Zustand der Meinungsfreiheit ist vermutlich durch die Exzesse der Cancel Culture begründet. Nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo hat die Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowski von der Freien Universität Berlin eine Ringvorlesung zum Thema "Die Freiheit der Kunst" organisiert. Im Vorwort zur Vorlesungsreihe heißt es:
Die Bereitschaft zur Tilgung anstößiger Vokabeln aus literarischen Texten, die Überprüfung von Unterrichtsplänen auf religiöse und politische Unbedenklichkeit (…) deuten die allmähliche Erosion des Freiheitsrechts der Kunst an.
Und bereits im Jahr 2020 warnte der Deutsche Hochschulverband DHV, eine Interessenvertretung von mehr als 30.000 Wissenschaftlern, vor "Einschränkungen der Meinungsfreiheit an Universitäten".
Auch jenseits der Universität, die eigentlich die Hochburg der geistigen Freiheit sein sollte, zeigt sich ein massiver Einfluss der Cancel Culture. Nur einige Beispiele, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben:
• Der Ravensburg Verlag entschied sich aufgrund zahlreicher negativer Rückmeldungen, die Winnetou-Bücher aus dem Programm zu nehmen, weil diese "die Gefühle anderer verletzt haben".
• "Fridays for Future Hannover" sagte den geplanten Konzertauftritt von Ronja Maltzahn ab, weil sie Dreadlocks trage und damit kulturelle Aneignung betreibe. Sie könne aber auftreten, wenn sie sich die Haare abschneiden lasse.
• Um Richard Wagners Oper "Lohengrin" entbrannte ein Disput, weil in der Partitur das Wort "Führer" steht. Es soll durch ein anderes ersetzt werden.
• Udo Lindenbergs Hit "Sonderzug nach Pankow" enthält das Wort "Oberindianer", das ersetzt werden soll.
• Eine ganze Reihe von Philosophen und Journalisten haben sich in den letzten beiden Jahren diesem Thema in ihren Büchern gewidmet: beispielsweise Susan Neiman, Omri Boehm, Julian Nida-Rümelin und René Pfister.
Debattenverhinderung
Der Philosoph Slavoj Zizek, der selbst nach seiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse 2023 kritisiert wurde, die Meinungsfreiheit mehr als überstrapaziert zu haben, kommentiert die aktuelle Entwicklung in seinem Artikel "Was ich in Frankfurt eigentlich sagen wollte":
Die sogenannte "Cancel Culture" wird von einer "Null-Debatten-Haltung" durchdrungen: Es wird nicht einfach eine Person oder Position ausgeschlossen, was ausgeschlossen wird, ist vielmehr die Debatte selbst, die Gegenüberstellung von Argumenten für oder gegen diesen Ausschluss. (…) Jemand spricht sich für Vielfalt und Inklusion aus, schließt aber dabei alle aus, die seine eigene Definition von Vielfalt und Inklusion nicht vollständig teilen.
Auf diese Weise schafft das Bemühen um Inklusion und Vielfalt eine stasiähnliche Atmosphäre aus Misstrauen und Denunziation, in der man nie weiß, wann eine private Äußerung dazu führen wird, dass man aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen wird.
Rowan Atkinson, Schauspieler des legendären Mr. Bean, hielt eine beeindruckende Rede auf das hohe Gut der Meinungsfreiheit:
Man könnte es die neue Intoleranz nennen. Ein neuer, aber intensiver Wunsch, unbequeme, abweichende Stimmen mundtot zu machen. Ich bin nicht intolerant, sagen viele Menschen, sagen viele sanftmütige, hochgebildete, liberal gesinnte Menschen. Ich bin nur intolerant gegenüber Intoleranz.
Und die Leute nicken weise und sagen: Oh ja, weise Worte, weise Worte. Doch wenn man länger als fünf Sekunden über diese vermeintlich unumstößliche Aussage nachdenkt, stellt man fest, dass sie lediglich dafür plädiert, eine Art von Intoleranz durch eine andere zu ersetzen, was für mich überhaupt keinen Fortschritt darstellt.
Grundlegende Vorurteile, Ungerechtigkeiten oder Ressentiments werden nicht durch die Verhaftung von Menschen beseitigt. Sie werden dadurch angegangen, dass man die Probleme anspricht, argumentiert und sie behandelt werden, vorzugsweise außerhalb des juristischen Prozesses. Für mich ist der beste Weg, den Widerstand der Gesellschaft gegen beleidigende oder anstößige Äußerungen zu erhöhen ist, viel mehr davon zuzulassen.
Im letzten Jahr unterzeichneten 137 Vertreter aus Wissenschaft, Kultur und Medien die sogenannte "Westminister Declaration":
Wir schreiben als Journalisten, Künstler, Autoren, Aktivisten, Technologen und Wissenschaftler, um vor der zunehmenden internationalen Zensur zu warnen, die jahrhundertealte demokratische Normen zu untergraben droht.
Wir kommen von links, rechts und aus der Mitte und sind uns einig in unserem Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten und zum Recht auf freie Meinungsäußerung, und wir sind alle zutiefst besorgt über die Versuche, geschützte Meinungsäußerungen als "Fehlinformation", "Desinformation" und mit anderen schlecht definierten Begriffen zu kennzeichnen.
Staatliche Eingriffe und Übergriffe
Nicht nur Teile der Gesellschaft gefährden die Meinungsfreiheit, auch vonseiten des Staates wurden in den letzten Jahren eine Reihe Erklärungen abgegeben und Maßnahmen unter dem Wunsch einer wehrhaften Demokratie auf den Weg gebracht, die durchaus eine Gefahr für die Meinungsfreiheit darstellen können.
Einige Beispiele seien hier stellvertretend genannt.
Vor knapp drei Jahren hat die Regierung das neu eingeführten Phänomen der "verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" definiert.
Hierunter fällt die "systematische Verunglimpfung und Verächtlichmachung des auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung basierenden Staates und seiner Institutionen bzw. Repräsentanten."
Innenministerin Nancy Faeser (SPD) drohte:
Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen.
Kritiker sind ob der juristischen Grauzone besorgt, die die Meinungsfreiheit einschränken könnte. Die Innenministerin stellte im Mai letzten Jahren die Strategie der Bundesregierung vor: "Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus" Untertitel: "Präventive und repressive Maßnahmen zum Schutz der offenen, vielfältigen Gesellschaft und der Demokratie."
Auch hier fragen Kritiker nach den Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit. Der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang (CDU), warnt:
Wir dürfen nicht den Fehler machen, im Rechtsextremismus nur auf Gewaltbereitschaft zu achten, denn es geht auch um verbale und mentale Grenzverschiebungen. Wir müssen aufpassen, dass sich Denk- und Sprachmuster nicht in unsere Sprache einnisten.
Und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) wollte "dem Umstand Rechnung tragen, dass Hass im Netz auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vorkommt".
Aber wie kann man das tun, ohne die Meinungsfreiheit zu beschränken?
Ausdruck finden die Eingriffe des Staates auch in konkreten Fällen, beispielsweise, wenn geprüft wird, ob die Fördermittel für Berliner Hochschullehrer, die sich gegen die polizeiliche Räumung der kurzzeitigen Besetzung an der Freien Universität Berlin durch propalästinensische Aktivisten ausgesprochen hatten, gestrichen werden sollen.
Oder die Verwirrung, ob der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis nach Deutschland einreisen darf und er einem politischen Betätigungsverbot unterliegt.
Kritik am Verhalten des Staates
Kritik bleibt nicht aus. Unter der Überschrift "Die Regierung geht autoritär gegen Kritiker vor" kommentiert Jochen Buchsteiner in der FAZ:
Außenministerin Baerbock (stellte) Strafantrag gegen einen bayerischen Unternehmer, weil dieser in seinem Garten satirische Plakate über die Grünen aufgestellt hatte. Er wurde freigesprochen, von einem Amtsgericht, das nicht nur dessen Recht auf freie Meinungsäußerung hervorhob, sondern festhielt, dass Politiker mehr hinnehmen müssten als Normalbürger.
Eine weitere Lektion – diesmal aus Karlsruhe – erhielt jetzt Entwicklungshilfeministerin Schulze, die einem Journalisten Kritik an ihrem Haus verbieten wollte. Der Schutz des Staates vor verbalen Angriffen dürfe nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen Kritik – unter Umständen auch in scharfer Form – abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll, urteilten die Richter.
Der letzte Fall lohnt einen genaueren Blick, denn viel fehlte nicht, und das SPD-geführte Ministerium hätte eine bisher übliche demokratische Praxis außer Kraft gesetzt: dass auf zugespitzte Regierungskritik mit öffentlicher Zurückweisung (oder souveränem Schweigen) des betroffenen Ministers reagiert wird und nicht mit einer gerichtlichen Klage.
Christoph Degenhart mahnt in der FAZ:
Zum 75-jährigen Bestehen des Grundgesetzes gibt es nicht nur Grund zum Jubel. Die Freiheiten aus Artikel 5 sind gefährdet.
Dazu trägt die Bundesregierung das Ihre bei. Fünfundsiebzig Jahre Grundgesetz" – ohne die Feststimmung trüben zu wollen, sollte das Jubiläum zum Anlass genommen werden, neben der Würdigung des Erreichten auch Defizite zu benennen und auf aktuelle Gefährdungen hinzuweisen, auf Gefährdungen grundrechtlicher Freiheiten wie sie Artikel 5 Grundgesetz benennt – der freien Meinungsäußerung.
Dazu tragen Veränderungen des gesellschaftlichen Meinungsklimas bei, teils medial, teils staatlicherseits befördert, aber auch unmittelbar staatliche Einwirkungen. Der Staat sagt, was wir nicht sagen dürfen, er sagt uns aber zusehends auch, was wir sagen sollen.
Eines der vornehmsten Menschenrechte
Angesichts der zahlreichen Aktivitäten der Regierung, die zwar dem Schutz der Demokratie dienen sollen, aber in deren Zug die Meinungsfreiheit zunehmend in Gefahr gerät, lohnt ein Blick auf die Gesetzeslage. Die Meinungsfreiheit wird in Deutschland durch das Grundgesetz gewährleistet.
Im Artikel 5 ist festgelegt:
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (…) Eine Zensur findet nicht statt.
Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Grundrecht insbesondere in seinem Urteil aus dem Jahr 1958 unterstrichen:
Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend.
In seiner Begründung erklärt das Gericht unmissverständlich:
"Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat."
14 Jahre später betonte das Bundesverfassungsgericht einen entscheidenden Punkt der Meinungsfreiheit:
Es soll jede Meinung erfassen. Eine Differenzierung nach der sittlichen Qualität der Meinungen würde diesen umfassenden Schutz weitgehend relativieren. Abgesehen davon, dass die Abgrenzung von "wertvollen" und "wertlosen" Meinungen schwierig, ja oftmals unmöglich wäre, ist in einem pluralistisch strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden Staatsgefüge jede Meinung, auch die von etwa herrschenden Vorstellungen abweichende, schutzwürdig.
Im Jahr 1976 entschied zudem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte:
Vorbehaltlich der Bestimmung des Art. 10 Abs. 2 gilt (das Recht auf freie Meinungsäußerung – A. W.) nicht nur für die günstig aufgenommenen oder als unschädlich oder unwichtig angesehenen 'Informationen' oder 'Ideen', sondern auch für die, welche den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen. So wollen es Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es eine 'demokratische Gesellschaft' nicht gibt.
Das Bundesverfassungsgericht traf im letzten Jahr eine weitere wichtige Entscheidung über die Bedeutung der Meinungsfreiheit. Im Fall des Journalisten Julian Reichelt, der eine Verfassungsbeschwerde eingereicht hatte, heißt es in der Pressemitteilung:
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG. (…)
Dem Staat kommt kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zu. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Zwar dürfen grundsätzlich auch staatliche Einrichtungen vor verbalen Angriffen geschützt werden, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen.
Ihr Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik – unter Umständen auch in scharfer Form – abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll, und der zudem das Recht des Staates gegenübersteht, fehlerhafte Sachdarstellungen oder diskriminierende Werturteile klar und unmissverständlich zurückzuweisen.
Das Gewicht des für die freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierenden Grundrechts der Meinungsfreiheit ist dann besonders hoch zu veranschlagen, da es gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet.
Kampf gegen Desinformation
Ein besonderer Fokus zeigt die Bundesregierung im Hinblick auf die nicht zu leugnende Gefahr von Desinformation und hat eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen.
Innenministerin Nancy Faeser erklärt:
Der Kampf gegen Desinformation ist eine zentrale Herausforderung zum Schutz unserer Verfassung – deshalb dürfen wir diesen Schutz nicht nur als behördliche Aufgabe des BfV verstehen. Verfassungsschutz ist eine umfassende Aufgabe von Staat und Gesellschaft.
Einmal mehr liegt der Teufel im Detail. Wie genau ist die Grenze zwischen Desinformation und Meinungsfreiheit zu bestimmen? Die Frage stellt sich beispielsweise, wenn die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic äußert (bei Minute 06:25) :
Desinformation (hat) durchaus nicht nur mit Fake-News zu tun, sondern (es können) durchaus auch wahre Begebenheiten sein, die so in die Öffentlichkeit gebracht werden, dass sie desinformierende und auch destabilisierende Wirkung haben können.
Die Frage stellt sich ebenfalls, wenn in Großbritannien ein Desinformationsskandal des Staates enthüllt wird. Constanze Kurz schreibt in der FAZ:
Unter dem Deckmantel des propagandistischen Abwehrkampfes gegen Russland hat eine von der Regierung finanzierte Social-Media-Einheit eine Kampagne betrieben – auch gegen die Labour-Opposition im britischen Parlament. Es geht also nicht um Russen oder Chinesen, sondern um die eigenen Leute, die hintenrum inländische politische Gegner diskreditierten.
Die Frage stellt sich ebenso, wenn eine Bertelsmann-Studie in Deutschland zu dem Schluss kommt, dass jeder Dritte davon überzeugt ist, die Regierung verbreitet selbst Desinformation.
Wie also die Frage beantworten, was eine Meinung, was eine Tatsache, was eine fehlerhafte Information und was eine Desinformation ist?
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin gibt zu bedenken:
Wir erleben derzeit eine radikale kulturelle Wende, die vielen nicht bewusst ist. Sie zeigt sich darin, dass auch prominente Journalisten mit Nachdruck fordern, wir müssen eindeutig zwischen Meinungen und Fakten unterscheiden.
Wenn das so leicht wäre, bräuchte es keine Erkenntnistheorie. Die fragt nämlich: "Wie finden wir heraus, was ein Fakt ist?" Der Journalist antwortet: "Die Wissenschaft weiß das." Aber so einfach ist es nicht.
Der Jurist Volker Kitz schlägt daher in seinem Buch "Meinungsfreiheit" vor:
Alles fängt mit dem ersten, wichtigsten Schritt an: Zu erkennen, wo es die Wahrheit überhaupt geben kann – und wo nicht. Welche Aussagen wir dem Wahrheitstest unterziehen dürfen und welche nicht.
Nur Aussagen über Tatsachen sind entweder richtig oder falsch, nur hier kann man die Wahrheit suchen, finden und verteidigen. Es ist wichtig, das zu tun. Genauso wichtig ist es aber, die Wahrheit an der falschen Stelle nicht zu verteidigen.
Denn es gibt auch Äußerungen, die weder richtig noch falsch sein können, bei denen es töricht ist, die Wahrheit zu suchen, und schädlich, sie zu verteidigen. Das sind Meinungen.
Filterblasen und Dialogverweigerung
Nur noch ein gutes Drittel der Deutschen möchte mit Menschen diskutieren, die eine andere Meinung vertreten. Kaum vier von zehn Deutschen liegt noch daran, zu wissen, was Bürger anderer Überzeugung bewegt.
Der Weigerung zum Austausch steht die Angst vor der eigenen Meinungsäußerung fast spiegelbildlich gegenüber. Eine aktuelle Studie zeigt auf, dass in Deutschland eine konstruktive Gesprächskultur und die Bereitschaft, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, auf der Strecke bleibt.
Das führt zu massiven Problemen für eine gesunde Demokratie, die keine Maßnahme zur Schaffung einer "wehrhaften Demokratie" zu lindern vermag.
Konsequenzen für Demokratie und Zusammenleben
Die besorgniserregenden Phänomene des mangelnden Zusammenlebens haben verheerende Folgen für die Demokratie.
Die US-amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hatte schon im US-Wahlkampf 2016 vor einem Sieg von Donald Trump gewarnt. Eine zentrale Erkenntnis auf ihrer Recherchereise:
Weil wir uns nicht mehr kennen, ist es so einfach, sich in Abscheu und Verachtung einzurichten.
Der Journalist Bastian Berbner ergänzt pointiert in seinem Buch "180 GRAD":
Weil wir uns in Abscheu und Verachtung einrichten, lernen wir uns nicht mehr kennen.
Die Folge: Es kommt kaum noch zum Austausch mit Andersdenkenden. Dieser Austausch ist aber für die Demokratie lebenswichtig. Es ist kein Zufall, dass der zentrale Platz im antiken Athen, die Agora, so eine bedeutende Rolle der Polis für die griechische Demokratei gespielt hat.
Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun betonen daher, "das Miteinander-Reden und Miteinander-Streiten ohne falsche Harmonieerwartung ist in einer Demokratie tatsächlich alternativlos."
Seit Jahren erleben wir aber einen Empöralismus (Michael Schmidt-Salomon) und eine Gesprächsverweigerung. Die Abwertung der "Gegengruppe" in "Cofaschisten" bzw. "Covididioten" oder "Kriegstreiber" und "Putinversteher" gehört längst zum gepflegten Umgangston.
Auf dem Weg bleibt Berbners Frage:
"Wann haben Sie zuletzt mit jemandem gesprochen, der ganz anders war als Sie oder wenigstens ganz anderer Meinung?"
Notwendigkeit der Debatte
Der Meinungsaustausch und der faire Streit um einen Konsens sind das Herzstück der Demokratie. Entsprechend ist ein Meinungsaustausch, der nicht mehr stattfindet, weil entweder ein größerer Teil der Gesellschaft Angst hat seine Meinung zu äußern oder eine Begegnung zwischen den unterschiedlichen Ansichten schlicht nicht mehr gelebt wird, für das Funktionieren einer Demokratie extrem gefährlich.
Der Philosoph Leander Scholz formuliert hierzu in der Welt einige sehr wichtige Gedanken, die es verdienen, ausführlich zitiert zu werden:
Auf allen Seiten geben die Eiferer den Ton an. Es geht auch um viel. Denn im Kern dreht sich die Auseinandersetzung darum, was es eigentlich heißt, sich zu streiten. Es ist eine Meta-Auseinandersetzung darüber, was man sagen darf und was nicht, wer reden darf und wer nicht und wer wir überhaupt sind als Bürger dieser Republik.
Wer als Vermittler auftritt, muss dem Verdacht ausgesetzt werden, gar keine wahre Überzeugung zu haben, bloß Opportunist und Karrierist zu sein, sich drücken zu wollen vor dem Moment der Wahrheit. Die Mitte muss leblos und langweilig erscheinen, ihre Vertreter zum Gespött werden, bis ihnen niemand mehr zuhört.
In einer demokratischen Auseinandersetzung ist es entscheidend, nicht die Person, sondern die Meinung anzugreifen. In einem Bürgerkrieg ist das Gegenteil der Fall. Der politische Gegner wird pathologisiert, moralisch herabgesetzt, zur Unperson erklärt und so aus dem öffentlichen Diskurs hinausgedrängt. Nicht der Austausch von Meinungen ist das Ziel, sondern die Vernichtung einer Wahrheit, die unerträglich erscheint.
Das gute Gewissen, damit das politisch Richtige zu tun, beruht auf einem Gefühl der Notwehr. Die einen sehen einen neuen Faschismus heraufziehen, die anderen glauben, dass das Land dem baldigen Untergang geweiht ist, wenn sie nicht rettend einschreiten.
Vor diesem Hintergrund erscheint es den Lagern gerechtfertigt, die Prinzipien des Liberalismus außer Kraft zu setzen. Im Notfall muss man handeln, die Ausnahmesituation zwingt dazu, bei der Wahl der Mittel nicht zimperlich zu sein. Kennzeichnend für einen Bürgerkrieg ist, dass sich alle Parteien in einem absoluten Recht wähnen.
Ein weiteres Opfer
Im August 2022 wurde der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie Opfer eines Messerangriffes, bei dem er nur denkbar knapp dem Tode entkam. Seit 1989 war er durch eine Fatwa, die der damalige Oberste Führer des Iran, Ruhollah Khomeini, verhängt hatte, zum Tod verurteilt. Anlass hierfür war sein Werk "Die satanischen Verse".
Die Reaktionen auf die Tat waren – wie nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo – eindeutig. Der Angriff wurde massiv verurteilt und betont, welch außergewöhnliche Bedeutung die Meinungsfreiheit, dessen mutiger Vorkämpfer Rushdie war und ist, für die offene und demokratische Gesellschaft hat.
So beispielsweise der damalige US-Präsident Joe Biden und der damalige britische Premierminister Boris Johnson.
Bundeskanzler Olaf Scholz teilte dem Schriftsteller über X mit:
Die Welt braucht Menschen wie Sie, die sich vom Hass nicht einschüchtern lassen und furchtlos für die Meinungsfreiheit eintreten.
Das Opfer spricht für sich
2023 erhielt Rushdie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede geht er, der jahrzehntelang sein Leben für die Meinungsfreiheit riskiert hat, auf die Gefahren ein, die er wahrnimmt:
In einer Zeit, in der die Freiheit, insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe, auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird.
Das Publikum zeigte mit einem langanhaltenden Applaus seine Zustimmung. Dann fährt Rushdie – ganz im Sinne des Bundesverfassungsgerichts – fort:
Eine Zeit, in der sich Bildungseinrichtungen und Bibliotheken Zensur und Feindseligkeit ausgesetzt sehen. In der extremistische Religionen und Bigotte-Ideologien beginnen, in Lebensbereiche vorzudringen, in denen sie nichts zu suchen haben.
Und es gibt sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Art von Bien-Pensant-Zensur aussprechen. Eine Zensur, die sich den Anschein der Tugendhaftigkeit gibt und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend halten. Von links wie rechts gerät die Freiheit also unter Druck, von den Jungen wie den Alten.
Nun gibt es deutlich weniger Zustimmung.
Das Wesen der Meinungsfreiheit
Rushdie hat auch einen Lösungsvorschlag:
Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan das tun, was wir schon immer tun mussten, schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann.
Hier setzt wieder ein starker Applaus ein. Rushdie ergänzt:
Wir müssen sie erbittert verteidigen und sie so umfassend wie möglich definieren, was natürlich heißt, dass wir die freie Rede auch dann verteidigen, wenn sie uns beleidigt, da wir die Meinungsfreiheit sonst überhaupt nicht verteidigen würden.
Der Applaus fällt hier deutlich schwächer aus.
Bei Rushdies Gedanken muss man unwillkürlich an ein Zitat denken, das vermutlich fälschlicherweise Voltaire zugeschrieben wird, und das die Bundeswehr in einer abgewandelten Form auch für eine Werbekampagne benutzt:
"Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen."
Oder, wie angesichts des Anschlages auf Charlie Hebdo vor zehn Jahren der britische Journalist Eliot Higgins schreibt: "Ich verteidige Dein Recht, dummen Scheiß zu sagen, aber es bleibt dummer Scheiß."
Es stellt sich zehn Jahre nach den Anschlägen auf Charlie Hebo, der elf Menschen das Leben gekostet hat, die Frage: Was ist aus dem Versprechen zahlreicher Politiker geworden, das hohe Gut der Meinungsfreiheit zu schützen?
Und nicht zuletzt: Sind wir, wir alle, zehn Jahre später eigentlich wirklich noch Charlie?
Literatur:
Berbner, Bastian: 180 GRAD.
Boehm, Omri: Radikaler Universalismus
Hochschild, Arlie Russell: Fremd in ihrem Land
Kitz, Volker: Meinungsfreiheit
Neiman, Susan: Links ist nicht woke
Nida-Rümelin, Julian: "Cancel Culture"
Pfister, René: Ein falsches Wort
Pörksen, Bernhard und Schulz von Thun, Friedemann: Die Kunst des Miteinander-Redens
Schmidt-Salomon, Michael: Die Grenzen der Toleranz
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