Der milde Mut zur Besserung

Kanzler Schröders "Agenda 2010" für blühende Unternehmen, mehr Jobs und mehr gesellschaftliche Eigenverantwortung

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Kanzlerreden und -versprechungen haben wir eigentlich genug gehört (Bundeskanzler Schröder erklärt uns die Zukunft). Besser noch es wäre etwas passiert. Zwei Drittel der Deutschen trauen diesem Kanzler keinen Aufschwung mehr zu, nicht zuletzt weil zwischen Rhetorik und Agenda, die nun fast epochal "Agenda 2010" heißen, Welten zu liegen scheinen. Die Zahl der Arbeitslosen klettert kontinuierlich auf die Fünf-Millionen-Marke zu, die zugleich zur Messlatte des Kanzlers und seiner Regierung geworden ist.

Der Kanzler muss mehr als "Blut, Mühe, Tränen und Schweiß" (Winston S. Churchill am 13. Mai 1940) anbieten, um der torkelnden Wirtschaft jenen Optimismus einzuflößen, der zu neuen Joboffensiven an der brisantesten Front der Gesellschaft führt. Die Leitmotive der "Symphonie mit Paukenschlag" (Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck) sollten nun präzisieren, wo es an das Eingemachte geht und sich die bisherige Konstruktion des Leistungs- und Sozialstaats grundlegend verändern wird.

Verhaltener Maßnahmekatalog

Eine euphorische Aufbruchstimmung wollte angesichts von Schröders "Ruck-Rede", die weit weniger umwälzend erschien als ihre Ankündigung, nicht recht aufkommen. Insofern haben die eilfertigen Kritiker wie Angela Merkel nicht Unrecht, dass der ganz große Wurf ausblieb. Aber gibt es den in diesem politischen Betriebssystem überhaupt? Im Wesentlichen zielte Schröders relativ verhaltener Maßnahmekatalog auf konjunktur- und arbeitsmarktpolitische Initiativen sowie mehr Eigenverantwortung des Bürgers.

Konjunkturell soll ein 15-Milliarden-Programm für Städte und Gemeinden sowie Betriebe und Privathaushalte zinsverbilligte Kredite gewähren. 800 Millionen Euro Entlastung soll den Gemeinden die Befreiung von der Mitfinanzierung des Flutopferfonds bringen. Überdies werden die Kommunen ab Anfang 2004 von den Sozialhilfezahlungen in Milliardenhöhe an Arbeitsfähige entbunden. Arbeitsmarkpolitisch zentral ist, dass die hohen Lohnnebenkosten, die maßgeblich die Schwarzarbeit blühen lassen, nun reduziert werden sollen. Kleinbetriebe mit bis zu fünf Beschäftigten können künftig unbegrenzt Arbeitskräfte mit befristeten Arbeitsverträgen einstellen, ohne dadurch dem Kündigungsschutz zu unterliegen. Die Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen soll so umstrukturiert werden, dass "die Leistungsträger unter den Beschäftigten" dem Unternehmen erhalten bleiben. Die Revolution des Kündigungsschutzrechts, die der Wirtschaft schon länger angelegen ist, ist damit freilich ausgeblieben.

Mit der Kürzung der Bezugszeit des Arbeitslosengeldes für unter 55-jährige auf zwölf und für über 55-jährige auf 18 Monate sollen neben der Budgetentlastung wohl die Voraussetzungen geschaffen werden, Arbeitslose zu motivieren, schleunigst in den Arbeitsmarkt zurückzumarschieren. Doch das setzt eben Arbeitsplätze voraus. Der Kanzler, der ja bereits in der ersten Legislaturperiode das Recht auf Faulheit nicht länger alimentieren wollte (Vom Menschenrecht auf Faulheit), will nun die sanktionieren, die zumutbare Arbeit ablehnen. Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden nach Schröders Vorstellungen ab 2004 auf der kärglichen "Höhe, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entspricht", zusammengelegt werden.

Für Betriebe und Mittelstand wird der Abbau von diversen Belastungen angekündigt. Kleinbetriebe werden sich zukünftig weniger mit lästiger Steuerbürokratie und Buchführungspflichten herumschlagen müssen und ihre steuerliche Belastung soll zudem erheblich reduziert werden. Existenzgründer im Handwerk werden nach des Kanzlers Worten nicht mehr vom Meisterbrief abhängig sein, sondern bei Einzelunternehmern soll es ausreichen, wenn ein Meister angestellt ist. Gesellen erhalten nach zehnjähriger Berufspraxis einen Anspruch auf Selbstständigkeit.

Das Vertragsmonopol der kassenärztlichen Vereinigungen will der Kanzler durchbrechen. Krankenkassen erhalten danach die Option, Einzelverträge mit Ärzten abzuschließen. Die Zahl der Krankenkassen soll schrumpfen und die Leistungskataloge reduziert werden. Auch in der Gesundheitsreform will der Kanzler auf mehr Selbstverantwortung der Versicherten bauen.

Probleme im Diskurszirkus der Demokratie

Bereits im Vorfeld wurden die größtenteils bereits durchgesickerten Vorschläge Schröders in den demokratischen Windkanal geschickt, der sich seit längerem als untauglich erwiesen hat, ein schnittiges Zukunftsgefährt, in dem alle fahren möchten, zu Wege zu bringen. Schröders Dilemma und nicht anders erginge es der Opposition, hängt nicht zum wenigstens unmittelbar mit dem unübersichtlichen, von heterogenen Interessen dominierten Diskurszirkus der Demokratie zusammen. In diesem Interessendickicht von profilierungsabhängigen Parteien, egoistischen Verbandsvertretern, sperrigen Gewerkschaften und mehr oder minder verängstigten bis verärgerten Bürgern will eigentlich niemand etwas abgeben, während er den Gürtel der anderen bereitwillig etwas enger schnallt. Immerhin kündigte der Kanzler als kleine Good-will-Aktion eine Nullrunde für Bundesminister und Staatssekretäre an, die indes erheblich besser zu verschmerzen sein dürfte als die angekündigten Kürzungen für Arbeitslose.

Lässt sich in solchen krisengeschüttelten Gesellschaften überhaupt ein Konsens über unabdingbare Notfallmaßnahmen finden? Und wenn nicht: Was vermögen des Kanzlers weiterhin um gesellschaftliche Akzeptanz ringenden Machtworte ohne autokratische Macht in der erweiterten Kampfzone von Interessenvertretern aller Sorten? Der Kanzler "will nicht länger hinnehmen, dass Lösungen an Einzelinteressen scheitern".

Die Schrumpfkur des Sozialtstaats steht an, aber auch die Opposition hat keine schlüssigen Konzepte

Ein typischer Schröder-Satz, der die Ortlosigkeit seines Voluntarismus nicht verhehlen kann. Bereits die völlig kontroversen Reaktionen auf seine Rede - von "Katastrophe" (CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer) bis "klarer Punktsieger" (Otto Schily) - demonstrieren mal wieder das Dilemma der parteilich vorinstallierten Uneinigkeit, die sich in der Vergangenheit oft genug gegen die gemeinsame Verwirklichung notwendiger Maßnahmen gesperrt hat.

Schon kursiert gegen des Kanzlers neueste Rezepturen das Wort vom "Sozialhilfestaat", der den Sozialstaat nicht ersetzen darf. Klingt griffig. Doch was sind hehre Staatszielbestimmungen wie das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG noch wert, wenn ihnen das Budget ausgeht? Die SPD-Linke setzt dem Kanzler zu. Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Michael Müller will keine "plumpen Sparmaßnahmen akzeptieren". Doch auch ohne die geplanten Maßnahmen der Regierung dürfte sich die Schrumpfkur des Sozialstaats vollziehen, wenn die Verhältnisse so plump wie das Geld knapp bleiben. Gerade die Angst vor dem Sozialabbau gefährdet langfristig Arbeitsplätze, weil immer mehr Jobs schließlich überhaupt nicht mehr finanzierbar sind.

Auch die CDU/CSU zwischen Merkel und Stoiber bietet ein wenig geschlossenes Bild, wie nun das Arbeitslosengeld behandelt werden soll. Von echten Rezepten keine Spur - stattdessen nur der konditionierte Reflex der üblichen Profilierungsinszenierungen. Ohnehin hat inzwischen jeder andere Rezepte, um dem kränkelnden Deutschland auf die Sprünge zu helfen. Frank Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft "ver.di" fordert pro domo Impulse für mehr Arbeitsplätze und Vorkehrungen, nicht das Armutsrisiko der Arbeitslosen zu erhöhen. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, hält dagegen die Gewerkschaften für Reformblockierer: "Man müsste Lagerfeuer machen und erst mal die ganzen Flächentarifverträge verbrennen und das Betriebsverfassungsgesetz dazu und dann das ganze schlank neu gestalten".

Kaum ein Ruck und schwere Balance

"Geschichtslose Unverschämtheit" gegenüber den Gewerkschaften nennt der Kanzler die Angriffe der Opposition auf die Arbeitnehmervertreter. Aber solche wohlfeilen Streicheleinheiten für die Gewerkschaften dürften kaum ausreichen, die notwendigen Flexibilitäten zwischen Tarifvertragsparteien zu erhöhen. Schröder droht nun im Fall des Scheiterns betrieblicher Bündnisse mit gesetzlichen Regelungen, ohne diese Ankündigung indes zu konkretisieren.

So wird dem geprügelten Kanzler von vielen Meisterköchen, die alle im trüben Brei mitrühren wollen, ein Gesamtkonzept abverlangt, das nun zumindest rhetorisch in der neuen "Balance zwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen und steuerlicher Entlastung" liegen soll. Doch diese fragile Balance wird zudem noch auf den mitunter steinigen Weg des Gesetzgebungsverfahrens geschickt werden, das in diversen Fällen erst im Bundesrat erweist, wie weit die Einigkeit der Demokraten wirklich reicht.

Neue Schulden will die Koalition jedenfalls nicht machen. Doch halt, da wäre noch der Irak-Krieg, der Müntefering zufolge konjunkturstützende Maßnahmen notwendig machen könnte. "Deshalb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des Friedens beharrt haben, statt in eine Logik des Krieges einzusteigen", erklärte der Kanzler. Jetzt braucht es also nur noch die Handlungslogik einer prosperierenden Gesellschaft, ihre Rhetorik kennen wir ja bereits.