Der musikalische Sell-Out bei Wal-Mart

In den USA wird unangepasste Musik von einer rechtskonservativ-rassistischen Koalition aus selbsternannten Zensurbehörden massiv bekämpft

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Nicht die Plattenmultis sind der größte Feind unabhängiger Musik in Amerika jenseits von Britney Spears oder den Eagles. Eine Viererbande, die unter dem Banner weißer christlicher Moral antritt, versucht die Kontrolle über den Output ihr unliebsamer Künstler zu erlangen. Dazu zählt neben der PMRC von Tipper Gore auch die einflussreiche Supermarktkette Wal-Mart, die dem reichsten Mann der Welt gehört.

Als George W. Bush bei seinem Amtsantritt im Januar sein Büro im Oval Office bezog, fand er unter der Schreibtischplatte einen "Parental Advisory-Explicit Lyrics"-Sticker, den Tipper Gore während der Amtszeit Bill Clintons heimlich dort angebracht hatte. Nette Anekdote, nicht wahr? Leider trifft sie nicht zu, aber gut vorstellbar, dass die alerte Ehefrau des ehemaligen Vizepräsidenten auch dazu fähig wäre. Sie macht schließlich im alltäglichen Leben schon genug Schabernack. Als eifernde Aktivistin des "Parents Music Resource Center" PMRC, das von ihr 1984 mitgegründet wurde, hat sie den berühmt-berüchtigten "Parental Advisory"-Sticker als alternatives Gütesiegel auf Coverhüllen von Tonträgern durchgesetzt. Im immerwährenden Kampf gegen musikalischen Schmutz und Schund wird die PMRC von der Christian Coalition des Ultrarechten Pat Robertson, der Federal Trade Commission und nicht zuletzt auch von der Großmarktkette Wal-Mart unterstützt. Bei Wal-Mart werden etwa 10 Prozent vom gesamten CD-Umsatz in den Vereinigten Staaten verkauft. Zusammen üben die Pietistischen Vier einen nicht geringen Einfluss auf die Musikszene in den Staaten aus. Mögen manche Artisten die Brandmarkung als jugendgefährdend sogar als Herausforderung und glamouröse Auszeichnung betrachten, für viele Gruppen und Interpreten kann die puritanische Zensur eine existenzielle Bedrohung werden.

Politische Zensur in rassistischer oder sexistischer Ausprägung hat in der populären Musik immer schon eine bedeutende Rolle gespielt. Bevor Elvis auf der Bildfläche erschien, nannte man den Rhythm `nŽ Blues der Schwarzen einfach "Race Music". Angefangen wiederum mit dem Hüftschwung Presleys bekamen im Lauf der neueren Musikgeschichte immer wieder Artisten eins mit dem moralischen Hammer übergebraten. Sogar die sauberen Beatles blieben nicht immer verschont, als z.B. 1966 das legendäre und gesuchte "Butcher"-Cover der LP Yesterday and Today durch ein harmloses Gruppenbild ersetzt wurde. 1975 wurde gegen das Lied "The Pill" der Country-Sängerin Loretta Lynn ein landesweiter Radioboykott verhängt, weil sich der Text mit Geburtenkontrolle befasste. Unvergessen bleibt auch die 2 Live Crew. Die gnadenlos witzige HipHop-Gruppe aus Miami geriet 1990 wegen ihres Songs "Me So Horny" ins Fadenkreuz der Spießer. Infolgedessen kam das Album "As Nasty As They Wanna Be" in sechs Bundesstaaten wegen angeblich obszöner Inhalte auf den Index.

Bei Verkäufen trotz Verbots mussten Händler mit saftigen Geldbußen rechnen. Namhafte Künstler aus allen möglichen musikalischen Sparten protestierten damals gegen den Bann. Schon toll, aber eher ein Beispiel dafür, dass Zensur manchmal auch Sinn machen kann. Stumpfe Kasperlköpfe wie die Miami-Bass-Grunzer braucht die Welt nicht unbedingt. Übrigens auch nicht Scheiß-Proleten wie diesen "Playboy 51" aus Reinickendorf. Einmal in einer Talkshow den Affen gemacht und damit bei Raab, schon darf er für RTL2 (klar!) ein Rap-Video mit aus der Nachbarschaft zusamengekauften Schlampen aufnehmen. Buckshot, please!

Etwas ernster zu nehmen ist da die Tatsache, dass es in den USA statistisch nachweisbare rassistische Motive für die gezielte Einflussnahme auf weitaus bessere Musik gibt. Der 34-jährige Journalist und Programmdirektor einer College-Radiostation Eric Nuzum hat sich als Vorkämpfer gegen musikalische Zensur seit langem mit dem Phänomen beschäftigt und jetzt das Buch "Parental Advisory: Music Censorship in America" veröffentlicht. Nuzum belegt, dass sich mit dem Aufstieg von Rap Ende der 80er Jahre das Augenmerk der rechten Moralhüter von Punkrock und Heavy Metal auf HipHop verlagerte. Gerade Gangsta-Rap mit seinen vordergründig Gewalt und Drogen verherrlichenden und sexistischen Texten konnte man wunderbar zur Brandmarkung einer ganzen musikalischen Richtung als Ausdruck moralischer Dekadenz gebrauchen. Dass die in den Texten geschilderten sozialen Alltagsgeschichten und Schwachsinnsfantasien Farbiger und lateinamerikanischer Migranten auf den politisch-rassistischen Strukturen der amerikanischen Gesellschaft fußen, passt Tipper und Kollegen weniger ins Bild. Lieber macht man Opfer (auch wenn einige MC`s nur zu gern Klischees bedienen, um an Kohle zu kommen) zu Tätern.

Im Ergebnis führt die Hatz auf Rapper dazu, dass nach Nuzum durchschnittlich etwa 60 Prozent aller Rap-Alben den Parental Advisory-Sticker bekommen, im Vergleich dazu aber nur 20 Prozent der Rock-CDs. Eine bisher wenig bekannte Rolle bei der Struktur von Zensurmethoden spielt der Wal-Mart-Konzern, dessen Inhaber Sam Robson Walton Microsoft-Mogul Bill Gates in diesem Jahr als Besitzer des weltweit größten Privatvermögens abgelöst hat. Wal-Mart verkauft Tonträger, die mit der Warnung vor jugendgefährdenden Inhalten versehen sind, grundsätzlich gar nicht! Nicht einmal dann, wenn die Aufkleber versehentlich angebracht wurden, wie im Fall des Rappers Bizzy Bone , der fälschlicherweise der Anstiftung zu Gewalt an Schulen beschuldigt worden war. Die Moralapostel hatten den guten Bizzy schlichtweg missverstanden, weil er halt ziemlich schnell reimt.

Wer als Künstler oder Plattenfirma seine Produkte bei großen Handelsketten wie Wal-Mart in die Regale bringen möchte, muss also damit rechnen, sich mit Selbstzensur in bestimmten Formen andienen zu müssen. Der Songtitel "Rape me" (wie sinnig!) auf dem Cover des Nirvana-Albums "In Utero" musste für Wal-Mart zu "Waif me" verfremdet werden. Aber wer kauft schon seine CDs im Supermarkt, wird sich jetzt mancher coole Leser denken. Im weiten Amerika kann es jedoch durchaus ein Problem sein, an unkommerzielle Lieblingsmusik zu kommen, wenn man auf dem Lande oder in Suburbia wohnt und keinen gutsortierten Laden in Reichweite hat. Und Napstern ist ja heute nicht mehr so einfach, wie es mal war.

Wal Mart ist aber auch wirklich ein Hort des Anstands. Durch die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich , die undercover bei Wal-Mart jobbte, wissen wir jetzt, wie ehrenhaft es bei der Kaufhauskette wirklich zugeht. In ihrem unter dem Titel "Nickel and Dimed - On (Not) Getting By in America" erschienenen Buch, das in Deutschland "Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft" heißen wird, beschreibt Ehrenreich unter anderem ihre Erfahrungen als Verkäuferin in einer Filiale in Minneapolis. Schon für niederste Tätigkeiten wird bei der Einstellung ein Drogentest verlangt. Gespräche zwischen Angestellten werden als "Zeitdiebstahl" verfolgt. Das Einnehmen von Getränken oder der Gang zur Toilette sind während der Arbeitszeiten vom Management untersagt. So kann man allerdings lächerlich niedrige Preise für seinen Ramsch verlangen und trotzdem einen Bill Gates überholen, Respekt.

Und was macht Tipper jetzt? Nach dem endgültigen Ende der Nachzählungen in Florida, die für ihren Ehemann die Niederlage beim Rennen ums Weiße Haus bedeuteten, gab es eine Party. Al Gore soll mit Freunden als Band eine musikalische Session hingelegt haben, um als gefrusteter unglücklicher Verlierer mal so richtig die Sau rauszulassen. Da aber Tipper vorsichtshalber am Schlagzeug mitgewirkt hat, hat es Al also höchstwahrscheinlich nicht einmal bei dieser Gelegenheit mal geschafft, wirklich explizite Protest-Lyrics abzulassen. Poor Gore.