Der nackte Kaiser

Bild (2017): Kreml/CC BY 4.0

Ukraine-Krieg: Von den Gefahren des "malignen Narzissmus"

Gegen die düster dreinblickenden Priester, die sich im Marxismus eingeigelt haben wie in einer kalten Burg, berief ich mich darauf, dass nur jener Kommunist sein sollte, der die Menschen liebt.

Milan Kundera

I hope the Russians love their children too.

Sting

In den letzten Tagen breitet sich eine Stimmung im Lande aus, die ich unangenehm und gefährlich finde. Der Pazifismus von gestern schlägt um in eine nahezu bedingungslose Unterstützung der "guten" Seite im Ukraine-Krieg und der Nato. Jeder, der Kritik an der geplanten massiven Aufrüstung der Bundeswehr übt und am Primat der zivilen Moderation von Konflikten festhält, wird zum Freund des russischen Staatschefs erklärt und aus der Gemeinschaft der Kriegs- und Aufrüstungswilligen ausgegrenzt.

Die frisch Bekehrten versetzen sich in den Zustand eines permanenten Fronturlaubs und verschaffen sich auf diese Weise das wohlige Erlebnis einer Gemeinsamkeit, das diese Gesellschaft in Friedenszeiten nur selten bereithält. Individuen und Gesellschaft verschmelzen zu einem einzigen großen Kollektiv, das keinen anderen Gedanken als den seiner Verteidigung mehr kennt. Schwarzseher, Bedenkenträger und Pessimisten werden nicht länger geduldet. Der Krieg bedeutet auch das Ende der Ambivalenz.

Ein kurzlebiges "Wir" entsteht über den Klassen, über Arm und Reich, Herr und Knecht. Er kenne jetzt nur noch Deutsche und keine Parteien mehr, sagte der deutsche Kaiser 1914, und viele glaubten ihm, weil sie sich danach sehnten. Für den Narzissmus vieler kleiner Leute war das eine bekömmliche, weil aufwertende Sache. Statt Stigmatisierung, Kälte und Vereinzelung erlebten sie nun die Wonnen der Verschmelzung und Gemeinschaft.

Wer eine Ahnung von den Gefühlen bekommen will, die der Beginn des Ersten Weltkriegs freisetzte, lese den Roman Jahrgang 1902 von Ernst Glaeser, der unter anderem wegen dieser Schilderungen auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennungen der Nazis landete. Wir sollten die Sehnsüchte, die sich auf den Krieg richteten und richten, nicht verurteilen oder geringschätzen, sondern den Krieg im Namen der Energien verurteilen, welche er freizusetzen behauptet, letzten Endes aber betrügt.

Der Eifer der Konvertiten, die jetzt mit blau-gelben Fähnchen und Halstüchern herumlaufen, ist mir jedenfalls suspekt. Sogar eine Wahnsinnsveranstaltung wie der deutsche Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2022 war in blau-gelb getaucht und machte in Frieden. Fehlt nur noch, dass jemand FFP2- Masken in den ukrainischen Farben anbietet. Hab gerade mal geschaut und festgestellt, dass es sie längst gibt.

Die Universität Mailand hatte letzte Woche ein Seminar des Schriftstellers Paolo Nori "verschoben", in dem es um den russischen Dichter Dostojewski gehen sollte. Man wolle "in diesen Zeiten" unnötige Spannungen vermeiden, hieß es. Nachdem der ehemalige Ministerpräsident Renzi interveniert hat, revidierte die Universität ihre Entscheidung.

Wissen, wofür man kämpft

Was mir aus der Ferne auffällt, ist ein offenbar wiederkehrendes Schema in solchen Kriegen. Die Eindringlinge gehen mehr oder weniger routiniert ihrer Arbeit als Soldaten oder bezahlte Söldner nach. Im Fall der russischen Okkupation der Ukraine scheint es sogar so zu sein, dass die Soldaten gar nicht wissen, was sie tun und wo sie sich befinden. Sie sind buchstäblich im falschen Film und wähnen sich noch immer im Manöver, in das man sie ursprünglich geschickt hat.

Man erzählt ihnen, dass sie die Ukraine von der Herrschaft einer Nazi-Clique befreien und einen Genozid an der russischen Minderheit in der Ukraine verhindern sollen. Was, wenn sie im Laufe der Zeit merken, dass die Dinge anders liegen und dass man ihnen einen Bären aufgebunden hat? Auf der anderen Seite stehen Soldaten und mehr und mehr auch Zivilisten, die genau wissen, wofür sie kämpfen und was sie zu verteidigen haben.

Dieser Enthusiasmus ist etwas, was Söldnern und Soldaten, die einem fremden Kommando unterstehen und "ihren Job machen", vollkommen fremd ist. Er kann eine waffentechnische und zahlenmäßige Unterlegenheit manchmal kompensieren. Denken wir an den Krieg in Vietnam. Er endete mit dem Sieg der vermeintlich Schwächeren, weil sie wussten, wofür sie kämpften.

Nun ist die Ukraine ein kapitalistisches Land. Von 2014 bis 2019 wurde es von dem Oligarchen Poroschenko regiert, der dann von Wolodymyr Selenskyj abgelöst wurde. In einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft hat jede Gemeinschaftlichkeit so lange etwas Trügerisches, wie sie nicht auch die Grundstruktur der Gesellschaft, also die Eigentumsverhältnisse, erfasst.

Wahre Demokratie dürfte vor der Eigentumsfrage nicht haltmachen und hätte die Produktion in eine genossenschaftlich-gesellschaftliche zu überführen, was etwas anderes ist als der Staatskapitalismus, der bis 1990 den Ostblock beherrschte. Erst dann wäre Demokratie vollendet - und nicht halbiert, das heißt auf die politische Sphäre beschränkt. In marxistischen Termini formuliert: Demokratie ist in der westlichen Welt etwas für den politischen Überbau, die ökonomische Basis unterliegt ganz anderen Gesetzmäßigkeiten.

Sprecher der westdeutschen Industrie hatten in der Anfangszeit der Bundesrepublik immer wieder darauf bestanden, es gebe gesellschaftliche Bereiche, die ließen "sich nun mal nicht demokratisieren" (Götz Briefs). Anders gesagt: An den Werkstoren ist Schluss mit Demokratie.

In Schönwetterperioden findet sich der Kapitalismus mit der Demokratie ab oder freundet sich gar mit ihr an, weil er entdeckt, dass sie eigentlich die der Geldmacherei günstigste Regierungsform ist, wenn's krisenhaft wird, das heißt die Profite schrumpfen, neigt er dazu sie einzuschränken oder gar zugunsten autoritärer oder faschistischer Formen der Herrschaft zu beseitigen.

Wenn seine Herrschaft durch Krisen oder revolutionäre Bestrebungen gefährdet ist, setzt sich der Kapitalismus die Maske des Faschismus auf, mit der er die Arbeiter täuscht, die Herausgefallenen und Abgehängten fasziniert und das Kleinbürgertum einlullt. Die parlamentarisch verfasste Demokratie verspricht Widersprüche zu Kompromissen zu bändigen und potenziell oppositionelle Kräfte zu befrieden und ins System einzubinden. Deswegen sagte ich, die so ideal imaginierte Demokratie sei die dem Geldverdienen günstigste Staatsform.

Diese Lektion werden die Oppositionsbewegungen im ehemaligen Ostblock noch lernen müssen. Die hegen häufig Illusionen über die Marktgesellschaften des Westens und laufen deswegen Gefahr, dass ihre Forderungen nach Freiheit auf die Freiheit des Marktes und die Spielregeln der bürgerlich-liberalen Demokratie reduziert werden.