Der nackte Kaiser

Seite 3: Putin und die Linke im Westen

Es gibt innerhalb der Linken Leute, bei denen Putin noch immer hoch im Kurs steht und die ihm die Stange halten. Wie kann man sich das erklären? Weil er zu den Reichsverwesern der glorreichen Sowjetunion gehört?

Mir hat noch nie eingeleuchtet, was an der Sowjetunion glorreich oder auch nur sozialistisch gewesen sein soll. Der Leninismus kam im Stalinismus zu sich selbst, und auch Trotzki war, wie der Rätekommunist Willy Huhn bemerkt hat, nur ein "gescheiterter Stalin". Leichen pflastern ihre Wege.

Der Anarchosyndikalist Victor Serge porträtiert in seinem Buch Beruf: Revolutionär seitenlang Menschen, denen er während seines Aufenthaltes in der Sowjetunion begegnet ist. Am Schluss des Portraits steht jeweils: wurde 1936 oder 1937 erschossen. Und jeder dieser Erschossenen war ein Mensch. Serge schildert sie, weil er dankbar dafür war, dass sie gelebt haben und er sie kennenlernen durfte:

Der Mensch, wer auch immer er sei, und wäre er der letzte der Menschen, "Klassenfeind", Sohn oder Enkel von Bürgern, darauf pfeife ich; man darf nie vergessen, dass ein Mensch ein Mensch ist. Hier unter meinen Augen, überall, wird das jeden Tag vergessen, das ist das Empörendste, das Antisozialistischste, das es gibt.

Victor Serge

Die Sowjetunion war letztlich eine Modernisierungsdiktatur, die unter der betrügerisch gehissten Fahne des Sozialismus/Kommunismus segelnd mehr oder weniger terroristisch die Industrialisierung eines Schwellenlandes durchgesetzt hat. Sie frönte einem "Fetischismus der Produktion" (Jean-Paul Sartre), dem alles geopfert wurde, was ihm im Weg stand. Viele sind auf diesen Etikettenschwindel hereingefallen und haben die Sowjetunion – oft wider besseres Wissen – allzu lang gegen Kritik in Schutz genommen.

Die Bolschewiki hatten in den Wirren des Ersten Weltkrieges die Macht erobert und sie dann unter großen Schwierigkeiten drei Jahre lang gegen mächtige Widerstände und viele Feinde verteidigt. Aber sie hatten dabei innerhalb von drei Jahren auch die Revolution erdrosselt.

Über das, was davon noch übrig war, rollte die Walze des Stalinismus hinweg. Erinnert sei gerade in diesen Tagen an die Bewegung des ukrainischen Anarchisten Nestor Machno, die zu ihrer Blütezeit rund 50.000 Kämpfer umfasste, denen es gelang, die Weiße Armee des Generals Denikin zu besiegen.

Nachdem die Machnowschtschina die revolutionären Kastanien aus dem Feuer geholt hatte, begannen Lenin und Trotzki umgehend mit ihrer Verfolgung und Vernichtung. Machno gelang die Flucht und er schlug sich als Arbeiter in Paris durch, wo er 1934 gestorben ist.

Die alte Goethesche Frage, warum aus liebenswürdigen Kindern später so häufig unausstehliche Erwachsene werden, müssen wir uns auch angesichts von Revolutionen stellen: Warum gehen aus vielversprechenden und lebendigen Anfängen derart sklerotische Gebilde und grausame Diktaturen hervor?

Der nach den Stalinschen Schauprozessen aus der Kommunistischen Partei ausgetretene italienische Sozialist Ignazio Silone lässt in seinem Roman "Wein und Brot" eine seiner Figuren sagen:

"Lange hat mich die Frage gequält, warum alle Revolutionen, alle, ohne eine einzige Ausnahme, als Freiheitsbewegung begonnen und als Tyrannei geendet haben. Warum ist keine Revolution diesem Verhängnis entgangen?"

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint regelmäßig bei der GEW Ansbach.