Der nackte Kaiser

Seite 2: Realitätsverlust

Putin scheint den Bezug zur Realität mehr und mehr einzubüßen. Er lebt in einer hermetisch abgeschotteten Welt, in die nur gefilterte Nachrichten eindringen.

Er ist wohl davon ausgegangen, dass die russischen Truppen in der Ukraine mit offenen Armen und Beifallsstürmen empfangen werden, weil sie die geknutete Bevölkerung vom imaginierten Faschismus befreien. Putin hat sich mit Claqueuren umgeben, die es nicht wagen, dem Kaiser zu sagen, dass er in Wahrheit nackt ist und seine Idee, ein großrussisches Reich wiederherzustellen verrückt ist.

Ergebenheit und Angst hindern seine Umgebung daran, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren. Der riesige Tisch, an dem Putin seine Gäste und Lakaien empfängt, dient nicht nur dem Schutz vor Viren und Ansteckung, sondern bringt auch die Kluft zum Ausdruck, die ihn von seinem Hofstaat trennt. Ich habe gerade ein Foto gesehen, auf dem Putin an dem einen Ende eines sicher zehn Meter langen Tisches sitzt und am anderen eine ganze Gruppe von Wirtschaftsvertretern.

Die ganze Szenerie ist dazu angetan, mundtot zu machen und einzuschüchtern und den Chef vor Kritik abzuschirmen. Wer mag schon über eine Distanz von mehreren Metern kritische Bemerkungen herüberbrüllen?

Da sitzt man verschüchtert und nickt ab, was von oben zu einem dringt. Ich fühlte mich an Diederich Heßlings Besuch beim Regierungspräsidenten von Wulckow erinnert, den Heinrich Mann in seinem Roman Der Untertan schildert. Nachdem er ihn eine Weile hat warten lassen, lässt er seine riesige Dogge los, die drohend knurrt und ihm ihre riesige Schnauze zwischen die Schenkel drückt. Bei einem Besuch Merkels im Kreml hat Putin diese Szene mit seinem schwarzen Labrador quasi nachgespielt. Schauderhafte Machtspiele.

Kaiser Putin scheint in einer Welt zu leben, die ihn vor Realitätseinbrüchen bewahrt. Er schmort, wie man so sagt, im eigenen Saft. Er hat die Leute in seiner Umgebung solange zur Sau gemacht, dass sie ihm nur noch seine eigene Weltsicht spiegeln. Erinnert sei daran, wie er vor laufenden Kameras seinen Geheimdienstchef Naryschkin als dummen Jungen vorgeführt hat, als dieser Putins Absichten vorzeitig ausplaudern wollte, sich Gebiete in der Ostukraine aneignen zu wollen.

Im Klima autoritär geführter Höfe gedeiht wie in einem Treibhaus die jesuitische Tugend des vorauseilenden Gehorsams. Die Hofschranzen überbieten sich darin, dem Meister nach dem Munde zu reden und ihm seine Großartigkeit zu spiegeln. Putin spinnt sich in einen Kokon aus Größenphantasien ein, die einer Relativierung und Korrektur durch Kritik von außen entzogen sind. Kritik ist das, was Herrscher dieses Typs, die meist pathologische Narzissten sind, am wenigsten aushalten.

Sie fühlen sich beim geringsten Zweifel an ihrer Großartigkeit sofort komplett in Frage gestellt und reagieren entsprechend unwirsch und aggressiv. Der kritisch-beurteilende Blick des anderen ist für den narzisstisch Gestörten, was für den Vampir das Tageslicht ist. Er könnte das innere Idealbild vernichten.

Gegen die Gefahr des Kollapses des grandiosen Selbstbildes ist Kampf mit beinahe allen Mitteln geboten. Irgendwann wagt es niemand mehr, dem Chef mit einer gegenläufigen Meinung entgegenzutreten. In einer Echowelt schlägt diesem immer nur seine eigene Stimme entgegen.

Wenn die wahnhaften Züge in der eigenen Weltsicht überhandnehmen, drohen immense Gefahren, vor allem dann, wenn der Zusammenbruch droht. Dann treten die "malignen", also bösartigen, Varianten des Narzissmus in Erscheinung, auf die der Psychoanalytiker Otto Kernberg hingewiesen hat. Wenn ihr Stern zu sinken droht, weisen Despoten vom narzisstischen Typus eine Neigung auf, ihren eigenen Untergang mit dem Untergang der Welt verknüpfen zu wollen.

"Statt darauf zu warten", heißt es in Lothar Baiers letztem Buch Keine Zeit, "dass die Welt das eigene Leben verschlingt, soll die Welt in der Selbstvernichtung verschlungen werden, damit auf diese Weise Weltzeit mit Lebenszeit zusammenfällt".

In der tödlichen und Tod bringenden Kongruenz von Lebenszeit und Weltzeit erweisen sich ein letztes Mal die eigene Grandiosität und Allmacht. Auch Hitler teilte die Obsession, die eigene Lebensgeschichte mit der Weltgeschichte zur Deckung bringen zu wollen. Dem Luftwaffenadjudanten Nicolaus von Below hatte Hitler nach dem Scheitern der Ardennenoffensive mitgeteilt: "Wir kapitulieren nicht, niemals. Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen."

Hans Blumenberg, dessen Buch Lebenszeit und Weltzeit dieses Zitat entstammt, bezeichnet die Haltung, aus der Verfehlung des eigenen Lebensziels den Schluss zu ziehen, die ganze Welt habe ihren Sinn verfehlt und nun keine Existenzberechtigung mehr, in Anlehnung an Freud als "absoluten Narzissmus".

Falls die Russen sich ihres grandiosen Präsidenten Putin als nicht würdig erweisen, die Kritik an seiner Amtsführung zunimmt und sich ein Scheitern seiner hochfliegenden Pläne abzeichnet, besteht die Gefahr, dass er den Versuch unternimmt, seinen nahenden Untergang in ein planetarisches Feuerwerk zu verwandeln und die Welt in seinen Untergang mitzureißen. Jedes Leben soll erlöschen mit dem seinen, die ganze Welt soll mitgerissen werden in den Untergang der eigenen. Über die Mittel dazu verfügt Putin leider.

Man kann nur hoffen, dass es internen Kräften gelingt, ihn vorher zu stoppen. In der tellurischen Katastrophe, mit der der scheiternde Despot spielt, ginge ja auch der Kapitalismus zu Grunde. Irgendwo endet die Interessengemeinschaft zwischen Kapital und einem selbstmörderischen Tyrannen - es sei denn, irgendein Oligarch hielte die Aktienmehrheit an der Apokalypse.