Der neue Traum von der "Wiedergeburt der Atomenergie"

EPR in Olkiluoto, Finnland (photomontage). Bild: Teollisuuden Voima Oy (Copyright-Inhaber). Mit freundlicher Genehmigung von Framatome ANP/Lizenz CC BY-SA 3.0

Der Vertrag zum Bau des britischen Subventionskraftwerks Hinkley Point wurde unterzeichnet, während Atomkraftgegner in Frankreich gegen den Neubau in Flamanville demonstrierten

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In Großbritannien und Frankreich träumt die Atomlobby wieder einmal von einer Renaissance der Atomkraft. Den Traum hatte in Frankreich schon vor acht Jahren die konservative Sarkozy-Regierung (Proteste gegen Sarkozys Atom-Renaissance in Paris), aber auch die Sozialisten träumen ihn weiter. Die hängen nun die Rettung ihrer Pleite-Atomindustrie am Projekt im britischen Hinkley Point auf, das die französische EDF umsetzen soll.

Die Projekte aber, mit denen Sarkozy einst ein neues Atomzeitalter einläuten wollte, drohen trotz Kostenexplosion und massiven Verzögerungen im finnischen Olkiluoto und im französischen Flamanville teure Bauruinen zu werden. Am Samstag demonstrierten mehr als 5.000 Atomkraftgegner in Flamanville.

Die französische Atomlobby durchlebt wahrhaft schwere Tage. Ihre Probleme werden nicht weniger und kleiner, sondern immer größer und zahlreicher. Da klingt es wie das berühmte Pfeifen im Walde, wenn nun wieder einmal die "Wiedergeburt" der Atomkraft beschworen wird. Die sieht zum Beispiel der Chef von NuGeneration vor sich, nachdem am vergangenen Donnerstag feierlich in London der Vertrag zum Bau von zwei neuen Atommeilern in Hinkley Point unterzeichnet worden ist.

Anwesend waren dabei nicht nur die Vertreter der französischen EDF und des chinesischen Staatsunternehmens CGN, das zu einem Drittel beteiligt ist, sondern auch Minister aus Frankreich, Großbritannien und China.

Beweis für die "Durchführbarkeit von neuen Atominvestitionen"

Der Chef von NuGen sprach angesichts der Vertragsunterzeichnung davon, dass das beschlossene Projekt die "Durchführbarkeit von neuen Atominvestitionen beweise". Tom Samson hofft darauf, auch seine Firma könne ein Atomkraftwerk in Großbritannien auf einem Gelände bei der britischen Wideraufbereitungsanlage in Sellafield bauen.

Dieses Projekt soll ähnliche Ausmaße wie das AKW in Hinkley Point haben. NuGen sieht ebenfalls die Chance, massiv Subventionen abzugreifen, während die französische Atomindustrie in Großbritannien insgesamt einen Rettungsplan für den Pleite-Sektor vor Augen hat.

Für die Verbraucher wird der jedenfalls sehr teuer, weshalb man durchaus von einem "ökonomischen Wahnsinn" sprechen kann, wie es diverse Beobachter tun. Hinkley Point ist ein Paradebeispiel dafür, dass solche Neubauten tatsächlich nur über massive Staatshilfe errichtet werden können.

Staatliche Garantien: enorme Subventionierung

Die Regierung sichert über eine Kreditgarantie nicht nur die geplanten Baukosten von mehr als 21 Milliarden Euro für das teuerste Kraftwerk weltweit ab, die schon bisher veranschlagt werden. Die EU-Kommission rechnet ohnehin schon jetzt mit 29 Milliarden. Vermutlich wird es auch dabei bei weitem nicht bleiben, schaut man sich die Erfahrungen an anderen Atom-Baustellen an.

Dazu kommt, dass London zudem einen mit der Inflation steigenden Preis zur Abnahme des Stroms von anfänglich 92.50 Pfund (fast 109 Euro) pro Megawattstunde garantiert. Das ist etwa das Doppelte des heutigen Marktpreises! Dieser steigende Preis wird auch noch über einen Zeitraum von 35 Jahren garantiert. Das staatliche National Audit Office (NAO) rechnete vor, dass bei den Betriebskosten über die Laufzeit mit Zuzahlungen von etwa 35 Milliarden Euro nötig sind.

Der Rechnungshof kommt zu dem Urteil, dass die Realisierung teurer wird als der Ausbau erneuerbarer Energien, wobei ja ohnehin damit zu rechnen ist, dass die Baukosten weit über den Planungen liegen werden. Man hat es also mit einer enormen Subventionierung der EDF und der CGN zu tun, die (vielleicht) die Durchführung von Atomprojekten ermöglicht.

Gegen diese enorme Subventionierung hatte schon die atomfreundliche EU-Kommission nichts einzuwenden. Gegen sie hatten deutsche und österreichische Stromversorger vor dem Gericht der Europäischen Union geklagt. Das dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) nachgeordnete Gericht wies die Klage aber Ende vergangener Woche als unzulässig ab.

Greenpeace will dagegen aber Rechtsmittel einlegen, denn das Projekt sei eine Blaupause für weitere AKW-Projekte in ganz Europa. "Das Gericht verkennt aus unserer Sicht die Tragweite der Entscheidung, wenn es nun unsere Bedenken gegen die exorbitanten britischen Atomsubventionen abweist", erklärte Sönke Tangermann von Greenpeace Energy.

Wettbewerbsnachteile für andere

Geplante Subventionen summierten sich laut einer Studie des deutschen Analyseinstituts Energy Brainpool auf insgesamt 108 Milliarden Euro, wozu auch noch die Garantien für die Bausumme kommen. Greenpeace Energy, die oekostrom AG aus Österreich und diverse deutsche Stadtwerke hatten deshalb geklagt, weil sie Einbußen und Wettbewerbsnachteile befürchten. Sie hatten mit einer Studie belegt, dass das AKW die Börsenstrompreise auch in Deutschland messbar beeinflusst werden.

Sie würden benachteiligt, da es die hohen Subventionen den Betreibern ermöglichten, unabhängig vom Marktpreis Strom zu erzeugen und zu verkaufen. Von der Hand zu weisen ist das nicht, denn genau das macht die EDF in Frankreich. Deshalb wurde sie dort schon verurteilt. 28 Millionen Kunden müssen nachzahlen, zudem muss die EDF die Preise anheben.

Bei so viel Subventionsgeldern will auch "NuGen" nicht nachstehen und neue Meiler bauen. Entweder sollen zwei Modelle des neuen "European Pressurized Reactor" (EPR) mit einer Leistung von jeweils 1,650 MW von der französischen Pleite-Firma Areva oder drei Reaktoren von Westinghouse mit einer Leistung von jeweils 1,100 MW gebaut werden. Auch hier hofft also die französische Atomindustrie auf neue Aufträge.

Atomkraftwerke: "Ein wichtiger Schritt zur künftigen Energieversorgung"

Neue Atomkraftwerke seien ein wesentlicher Baustein der britischen Energiepolitik und des angestrebten Energiemixes, meint der NuGen-Chef. Samson sprach wie der britische Energieminister Greg Clark davon, dass Atomkraftwerke ein wichtiger Schritt zur künftigen Energieversorgung mit geringer CO2Belastung seien, die Großbritanniens "Versorgungssicherheit" stärkten. Behauptet wird auch, sie würden helfen, die "internationalen Verpflichtungen für eine kohlenstoffarme Wirtschaft" zu erfüllen.

Andere Atomkraftwerksbetreiber halten dagegen die Atomkraft längst für ein Auslaufmodell, auch weil sie "wirtschaftlich nicht tragbar" ist, hat der Iberdrola-Chef unmissverständlich erklärt ("Atomkraftwerke sind wirtschaftlich nicht tragbar"). Der große spanische Versorger war früher an NuGen beteiligt. Konsequent zogen sich die Basken Ende 2013 aus dem Konsortium zurück, da man auch mit ScottishPower ganz auf erneuerbare Energien setzt. Billiger, ungefährlicher und sauberer Windstrom wird demnächst auch aus Schottland nach England fließen.

Hinter NuGen steht nun nur noch die französische Engie (früher GDF Suez) und Toshiba. Die Japaner machen sich eben auch Hoffnungen darauf, an Großbritannien Meiler nach dem dreifachen Super-Gau in Fukushima verkaufen zu können. Denn Toshiba kaufte 2006 teuer die Atomsparte des US-Konzerns Westinghouse.

Vorwürfe gegen EDF-Chef

Bei der EDF-Führung frohlockt man, dass der Deal zu Hinkley Point doch noch zustande gekommen ist. EDF-Chef Jean-Bernard Lévy sprach bei der Vertragsunterzeichnung, auch mit Blick auf die NuGen-Pläne, von einer strategischen Bedeutung für die EDF-Gruppe und die Atomindustrie. Mit Blick auf die Kritik, die auch massiv aus den eigenen Reihen kommt, versicherte Lévy, die Beschäftigten des Konzerns könnten weltweit "dem eingeschlagenen Weg vertrauen".

Doch dem eingeschlagenen Weg - und ihrem Chef - trauen im Konzern aber viele nicht. Sie gehen davon aus, dass Lévy lügt. Sogar die französische Börsen-Aufsicht AMF untersucht, ob der EDF-Vorstand die Aktionäre korrekt über die Kosten in Hinkley Point informiert hat. Lévy soll zudem den Verwaltungsrat in die Irre geführt haben, als der Ende Juli grünes Licht für das Projekt gab.

Hinkley Point: Flucht nach vorne

Die große kommunistische Gewerkschaft CGT sieht in Hinkley Point eine Flucht nach vorne. Nach der Verwaltungsratsentscheidung sprach die größte Gewerkschaft des Landes von einer "politischen Entscheidung", da es aus anderen Gründen nie eine Zustimmung erhalten hätte.

Zu behaupten, dass Hinkley Point die Nuklearbranche retten wird, ist intellektueller Betrug und ein politischer Fehler.

CGT

Sie fordert zudem Einsicht in die Verträge, weil auch sie befürchtet, dass das Projekt die Finanzen der EDF in Gefahr bringt. Einige Beschäftigte klagen auch gegen die Investition, weshalb sich ein Gericht ebenfalls noch mit der Frage befassen muss.

Und wahrlich steht die CGT mit ihrer Einschätzung nicht alleine. Denn wegen der Planungen traten auch diverse EDF-Führungsmitglieder ab, wie zuletzt im Juli, vor der entscheidenden Sitzung des Verwaltungsrats, dessen Mitglied Gérard Magnin. In einer schriftlichen Begründung, hatte er erklärt, er könne den Kurs nicht weiter unterstützen. Noch deutlicher wurde zuvor der ehemalige EDF-Finanzchef Thomas Piquemal bei seinem Rücktritt zuvor.

Enorme Kosten der Atomindustrie werden vollständig auf den Steuerzahler abgewälzt

Er warnte vor dem finanziellen Abenteuer, das die EDF in "eine ähnliche Situation wie Areva" bringen könnte. Das heißt, der Mann, der die Kostenplanungen für Hinkley Point genau kennt, vermutet, es könnte auch die EDF in die Pleite treiben. Ohnehin hat die EDF im Rahmen der Zerschlagung des staatlichen Kraftwerkbauers Areva einen guten Teil von dessen Probleme auch noch aufgeladen bekommen.

Angesichts dieser Lage war eigentlich auch der neuen britischen Regierung das Projekt nicht geheuer. Teresa May trat deshalb zunächst auf die Bremse und verärgerte damit die EDF. Dass May auf Kosten der Verbraucher, gegen deren Interessen und gegen deren Sicherheit letztlich doch noch grünes Licht gab, ist vor allem den kommenden Brexit-Verhandlungen geschuldet. Von Frankreich, das dabei besonders hart mit den Briten umspringen wollte, wurde nun Entgegenkommen erkauft.

Die Konsumenten müssen über hohe Strompreise für den angeblich so billigen Atomstrom allerdings tief in die Tasche greifen. Zudem hatte China enormen Druck aufgebaut. Mit dem Reich der Mitte wollen die Briten nach dem Brexit verstärkte Handelsbeziehungen führen. So hatte der chinesische Botschafter in London von einem "kritischen historischen Augenblick" gesprochen und mit Konsequenzen gedroht, sollte das Aus für Hinkley Point kommen.

Die Regierung hat noch einige wenige "Verbesserungen" durchgesetzt, um die Öffentlichkeit etwas zu beruhigen. Die EDF musste vor allem akzeptieren, dass der Konzern seine Kontrollbeteiligung an dem Atomkraftwerk vor der Fertigstellung nicht ohne Zustimmung der Londoner Regierung verkaufen kann. Auch nach Betriebsaufnahme, sollte es jemals dazu kommen, soll London im Falle eines Verkaufs des EDF-Anteils eingreifen können.

Zudem hat der Guardian gerade berichtet, dass erstmals auch Atomkraftwerksbetreiber am Rückbau einer Anlage beteiligt werden sollen. Bis zu 7,2 Milliarden Pfund sollen dafür ab 2083 ausgegeben werden, um angeblich die vollen Kosten für den Rückbau zu tragen.

Ob das reicht, darf bezweifelt werden. Insgesamt dürfte das auch als Beruhigungspille gedacht sein. Doch auch die wirft erneut ein Schlaglicht darauf, wie enorme Kosten der Atomindustrie bisher vollständig auf den Steuerzahler abgewälzt werden.

Dass es trotz der Vorzugsbehandlung enorme Risiken in dem Projekt gibt, kann an den bisherigen EPR-Baustellen beobachtet werden. Versorgungssicherheit sieht man hier jedenfalls seit vielen Jahren nicht, von der die Atomlobby gerne fabuliert. Die Meiler, die nun auch in Hinkley Point gebaut werden sollen, geben bisher ein verdammt mieses Bild ab.

Olkiluoto und Flamanville

In Finnland hinkt man in Olkiluoto schon fast zehn Jahre hinter dem Zeitplan her. Derweil haben sich die geplanten Kosten von 3,3 Milliarden Euro auf nun geschätzte 10,5 Milliarden schon mehr als verdreifacht. Es ist angesichts der Zerschlagung der Areva inzwischen sogar fraglich, ob das Projekt jemals fertiggestellt wird. Und es sagt viel aus, dass die EDF dieses Problem nicht übernehmen wollte.

Auch im eigenen Land sieht es im französischen Flamanville nicht viel besser aus. Dort sollte der EPR schon seit Jahren Strom liefern. Das Projekt ist gestoppt und die ohnehin längst explodierten Baukosten könnten noch so richtig durch die Decke schießen. Denn in Flamanville muss möglicherweise sogar der Reaktorbehälter ausgetauscht werden, weil er vermutlich nicht den Sicherheitsanforderungen entspricht.

Die Atomaufsicht (ASN) ist über diese "ernsthafte Anomalie" auf einen riesigen Skandal gefälschter Sicherheitszertifikate gestoßen. (Flamanville: "Anomalien" beim Reaktordruckbehälter) In Flamanville ist Stahl für den Reaktordruckbehälter benutzt worden, der wohl den Sicherheitsansprüchen nicht entspricht. Ein Austausch wäre extrem teuer, weshalb sogar das Handelsblatt schon über ein mögliches Aus des Projektes berichtet hat.

Fessenheim

Aber der französischen Atomindustrie bereiten nicht nur die teuren Baustellen in Finnland und der Normandie massive Bauchschmerzen. Da ist zum Beispiel auch das Problem Fessenheim, in dem die französische Atomaufsicht (ASN) schon die Abschaltung einer der beiden Reaktoren verfügt hat, da die Fälschungen von Sicherheitszertifikaten in der Schmiede Creusot Forge, die zum staatlichen Kraftwerksbauer Areva gehört, auch Fessenheim betreffen. So verfügt ein Dampfgenerator über kein Prüfzertifikat. Ob der Meiler jemals wieder angefahren wird, darf bezweifelt werden.

Vor März 2017 ist das ohnehin unmöglich, wurde schon berichtet. Ob dieser Termin eingehalten werden kann, bezweifelt auch die Atomaufsicht. Die schließt einen kompletten Austausch des teuren Dampferzeugers nicht aus. Dazu kommt, dass das älteste Atomkraftwerk definitiv wegen vieler Mängel abgeschaltet werden soll, die es sogar schon außer Kontrolle geraten ließen.

Dass sogar schon eher überschaubare Wassermengen in Schaltschränke eindringen konnten, ist ein fatales Problem, das auch in anderen Meilern besteht und sehr teuer für die EDF behoben werden muss.

Für diese Vorgänge müssen sich die EDF und der ehemalige Leiter des Atomkraftwerks am kommenden Mittwoch um 14 Uhr 30 vor dem Amtsgericht im elsässischen Guebwiller verantworten. Es geht auch darum, dass die EDF der Aufsichtsbehörde und der Bevölkerung das reale Ausmaß der Probleme verschwiegen habe. Für die Atomkraftgegner, die Anzeige erstattet haben, zeigt auch der Vorgang auf, wie unverantwortlich in den hochgefährlichen Anlagen agiert wird. Dies legen sie in einer Erklärung dar, die auch in deutscher Sprache vorliegt.

Der Ausfall von Fessenheim 2 über mindestens neun Monaten erhöht auch nicht gerade die Rentabilität eines Atomkraftwerks, die ohnehin stets stark bezweifelt wird. Auch deshalb ist nicht unwahrscheinlich, dass die Betreiberfirma EDF tatsächlich im Dezember einen Antrag auf Schließung des Atomkraftwerks stellt.

Das hat der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach einem Treffen mit der französischen Umweltministerin Segolène Royal am vergangenen Donnerstag in Paris erklärt. Allerdings, so berichtet die Badische Zeitung, stehe damit "ein Abschalttermin des umstrittenen Reaktors" weiterhin nicht fest. Es könne sogar 2018 werden, habe Kretschmann erklärt, der aber nun sicher sei, dass die Schließung komme.

In Frankreich scheint man einen Mittelweg durch einen Wald der Atomprobleme zu suchen, in dem sich die verschiedensten Regierungen aber längst verlaufen haben, beziehungsweise tief in eine Sackgasse geraten sind. Zwar hat Royal nicht erneut eine Verkettung mit dem Anfahren des EPR-Neubaus in Flamanville hergestellt, doch ganz offensichtlich will man an dem Schrottreaktor am Oberrhein noch eine Weile als Reserve festhalten. Das drängen die Sachzwänge den Verantwortlichen in Paris praktisch auf, wo man seit Jahrzehnten an einer völlig verfehlten Energiepolitik festhält.

Kaskadenartiger Ausfall von AKWs

Denn die Fälschungen von Sicherheitszertifikaten betreffen ja nicht nur Fessenheim und Flamanville, sondern etliche französische Atomkraftwerke. Von denen stehen sechs aktuell ohnehin schon auf unbestimmte Zeit still. Wie der Canard Enchaîné gerade getitelt hat, könnten Atomkraftwerke "kaskadenartig" ausfallen.

Neun Reaktoren könnten hinzukommen, womit mehr als ein Viertel der atomaren Stromkapazität in einem Land ausfallen würde, das 80% seines Bedarfs über Atomkraftwerke deckt. Und das, so schreibt Hervé Liffran, habe es bisher noch nicht gegeben. So wird an Fessenheim auch im Hinblick auf einen möglichen Blackout in den beiden kommenden Wintern festgehalten werden. Im kalten Februar 2014 kam es sogar fast schon zum Blackout in Frankreich, obwohl 55 der 58 Meiler in Betrieb waren. (Warten auf den Blackout in Frankreich)

Liffran weist in seinem Artikel auch darauf hin, dass nicht nur in der Areva-Schmiede in Creusot zu Fehlern in der Fabrikation von sicherheitsrelevanten Bauteilen kam, sondern dass die Atomaufsicht gerade festgestellt hat, dass man beim japanischen Stahlhersteller JCFC, von der Stahl bezogen wurde, "wie im Schweinestall" produziert habe. So mache die "ASN" insgesamt 18 Reaktoren in Frankreich aus, in den vermutlich minderwertige sicherheitsrelevante Bauteile im Einsatz sind.

Bestätigt wurde diese Einschätzung gerade auch durch eine aktuelle Untersuchung des Londoner Ingenieursbüros John Large und Associates, die im Auftrag von Greenpeace durchgeführt wurde. Demnach drohe in 18 französischen Atomkraftwerken ein massiver Störfall durch diese fehlerhaften Bauteile aus Creusot. Darunter fänden sich auch Reaktoren in Cattenom, die ebenfalls direkt an der Grenze zu Deutschland stehen.

Die Mängel im verarbeiteten Stahl könnten zum plötzlichen Bersten des Materials führen. "Die französische Atomaufsicht muss sofort handeln und den Weiterbetrieb dieser Kraftwerke verbieten", sagt Greenpeace-Atomexperte Roger Spautz. "Dieses akute Risiko für Millionen Menschen in Europa darf nicht billigend in Kauf genommen werden." Das geschieht vermutlich aber nur deshalb nicht, weil man sonst das gesamte Land abschalten müsste.

Flamanville: Klare Absage an die Atomkraft

Zurück zu Flamanville, wo sich am Samstag heute zahlreiche Atomkraftgegner an der Baustelle-Bauruine versammelt haben. Etwa 5.000 Menschen demonstrierten friedlich gegen die Gefahren und die enormen Kosten, die durch die Atomindustrie entstehen. Sie erteilten der Atomkraft erneut eine klare Absage.

Das Netzwerk für den Ausstieg aus der Atomindustrie hat im Aufruf daran erinnert, dass drei Viertel aller französischen Atomkraftwerke ohnehin schon "das Ende ihrer vorgesehenen Laufzeit erreicht" haben, weshalb das "Risiko eine Katastrophe akut und hoch(!) ist"

Ein sofortiges Umsteuern wird gefordert. Die geschätzten 60 Milliarden Euro, die mit einer "Flickschusterei an alten Reaktoren" angesichts der massiven Probleme in altersschwache Meiler fließen sollen, sollten in alternative Energien wie Sonnen- und Photovoltaikkraftwerke, Biomasse, Wind- und Wasserkraft und Gezeitenkraftwerke investiert werden.

In Flamanville machten sie auch darauf aufmerksam, dass die Baugenehmigung für den EPR im kommenden April abläuft, danach diese Baustelle illegal ist. Dort, so weisen auch sie hin, gäbe es fatale Probleme, sprechen sie insbesondere den fehlerhaften Reaktordruckbehälter an, das zentrale Sicherheitselement eines Atomkraftwerks.

Dazu, so berichtet auch Le Monde mit Hinweis auf die Atomaufsicht heute, seien 20 neue "Anomalien" am Reaktor aufgetaucht. So wird immer fraglicher, ob das Projekt jemals fertiggestellt wird und das gilt auch für Olkiluoto. Auch deshalb braucht die französische Atomindustrie das Projekt in Hinkley Point, um dem EPR, der noch nirgends umgesetzt werden konnte, nicht schon jetzt die Sterbeurkunde auszustellen.

Der größte Anti-Atom-Protest seit Fukushima 2011

Die Demonstration - der größte Anti-Atom-Protest seit den fatalen Vorgängen in Fukushima 2011 - zeigt, dass auch im Atomstromland Frankreich die gefährliche und teure Technik immer stärker hinterfragt wird. Ohnehin ist klar, dass es weiterhin kein Endlager für den über zehntausende Jahre strahlenden hochradioaktiven Müll gibt. Auch dabei schießen sogar die geplanten Kosten längst durch die Decke, obwohl noch nicht einmal mit dem Bau ernsthaft begonnen wurde.

Wurden einst als Endlagerkosten 18 Milliarden Euro veranschlagt, werden nun allein für das Cigeo-Projekt in Lothringen schon 41 Milliarden Euro veranschlagt. Dort soll ein Tunnelsystem in einer Lehm-Ton-Schicht in einer Tiefe von 500 Metern geschaffen werden, um dort nach einer neuen Entscheidung des Parlaments etwa 80.000 Kubikmeter Atommüll zunächst für 100 Jahre angeblich "rückholbar" zu lagern.

Doch auch im fast menschenleeren Lothringen ist gegen die Erwartungen der Atomindustrie der Widerstand stark, wie sich gerade in diesem Sommer wieder deutlich gezeigt hat. So konnte das Baugelände wieder besetzt und eine Mauer abgerissen werden. Zuvor hatte auf Klagen der Atomkraftgegner ein Gericht schon einen Baustopp verhängt, da die Betreiber des Projekts nicht einmal über die notwendigen Genehmigungen verfügen.

Das war nur einer der vielen Tricks, mit denen gegen alle gesetzlichen Vorgaben und mit allen Mitteln versucht wird (vgl. Frankreich treibt Endlagerpläne gegen allen Widerstand voran), irgendwie ein Endlager als Voraussetzung für eine weitere Legitimation der gefährlichen Atomenergie zu schaffen. Dafür werden auch die gesetzlichen Vorgaben missachtet, wonach eigentlich drei verschiedene Standorte und Lagermedien hätten untersucht werden sollten, was nie geschehen ist.