Der rechtsextreme Alltag der Deutschen
Wenn der Wohlstand bröckelt, steigen antidemokratische Traditionen
Von der Friedrich-Ebert-Stiftung wurde eine Studie zu rechtsextremen Tendenzen im Alltag in Auftrag gegeben, die kürzlich unter dem Titel Ein Blick in die Mitte veröffentlicht wurde. Zu den Ergebnissen der von Oliver Decker und Elmar Brähler an der Universität Leipzig geleiteten Studie gehört, dass rechtsextreme Einstellungen und Geringschätzung der Demokratie in der Bevölkerung noch weiter verbreitet sind, als bisher angenommen wurde. Die Soziologin Marliese Weißmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Weltsichten in prekären Lebenslagen“ am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig, war bei Datenerhebung und Durchführung der Untersuchung, sowie als Koautorin an der Studie beteiligt.
Die 2006 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführte Studie Vom Rand zur Mitte zeigte fremdenfeindliche Tendenzen in großen Teilen der Bevölkerung. In der vorigen Studie befragten Sie 5000 Deutsche zu ihren Einstellungen. Wie unterscheidet sich die aktuelle Untersuchung „Ein Blick in die Mitte“ von der vorangehenden?
Marliese Weißmann: Diesmal handelt es sich im Unterschied zur ersten Studie um eine nicht-repräsentative qualitative Untersuchung. Standen in der ersten Studie „Vom Rand zur Mitte“ Häufigkeiten und statistische Überprüfungen von Einflussfaktoren einer rechtsextremen Einstellung im Vordergrund, wurde nun das Augenmerk auf die Vertiefung einzelner Zusammenhänge wie der Sozialisation sowie der Bedeutung der intergenerationalen Weitergabe zur Entstehung politischer und rechtsextremer Einstellungen gelegt. Auch Ausländerfeindlichkeit, in der ersten Studie als „Einstiegsdroge“ bezeichnet, sollte näher untersucht werden.
Zu welchen Ergebnissen ist die Studie gekommen?
Marliese Weißmann: Ein bedeutsames Ergebnis dieser Studie war, dass Ausländerfeindlichkeit mit standardisierten Methoden eher unterschätzt wird. So konnten wir bei einigen Probanden starke Diskrepanzen zwischen der Selbstpositionierung im Einzelinterview und der Gruppendiskussion feststellen. Auch hinter so genannten Teils-Teils-Positionen, das heißt Positionen einer teilweisen Zustimmung bzw. Ablehnung, verbergen sich ebenso oftmals negative Einstellungen. Wir vermuten hier einen hohen Einfluss sozialer Erwünschtheit, der im Einzelinterview stärker wirkt. Auch wurde in den Gruppendiskussionen sichtbar, dass negative Einstellungen gegenüber Ausländern argumentativ kulturalistisch unterlegt werden. Insbesondere Türken und Russlanddeutsche scheinen „kulturell fern“ und werden zur Zielscheibe von Vorurteilen, wohingegen Italiener oder Griechen eher positiv wahrgenommen werden. Auch der religiöse Glaube spielt dabei eine Rolle.
Wie zeigen sich rechtsextreme Tendenzen im Alltag?
Marliese Weißmann: Rechtsextreme Tendenzen im Alltag zeigen sich zum Beispiel daran, dass fremd scheinende Menschen oder Arbeitlose als ungleichwertig betrachtet werden. Stigmatisierung allgemein kann jedoch jeden treffen. Im schlimmsten Fall schlägt diese in Gewalt um. In einer Gruppendiskussion mit einer rechtsextremen Jugendclique konnten wir beispielsweise Aggression und Stigmatisierung sowohl inhaltlich als auch in der Interaktion selbst, das heißt, dem Verhalten der Gruppenmitglieder untereinander beobachten.
Die narzisstische Plombe der Deutschen
Welche Tendenzen können Sie für die Zukunft absehen?
Marliese Weißmann: Rechtsextreme Einstellungen sind, so wie wir es bereits 2006 in unserer Repräsentativbefragung festgestellt haben, weit in der Gesellschaft verbreitet. So stimmen auch Gewerkschaftsmitglieder, CDU- oder SPD-Wähler zum Beispiel Aussagen – wie „Deutschland ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ - zu. Rechtsextremismus ist ein Phänomen der Mitte, nicht nur vom extremen Rand, wie der Begriff es suggeriert. Von daher ist es bedeutsam, die Demokratisierung von Institutionen, gerade von Schulen, weiter voranzutreiben.
Die weite Verbreitung und Akzeptanz von fremdenfeindlichen Einstellungen in den Gruppendiskussionen verweist auch auf die Bedeutung von integrationspolitischen Maßnahmen, die eine entscheidende Rolle in der Zukunft haben werden. Dies betrifft zum Beispiel den Umgang mit Muslimen - Stichwort Moscheenbau - in Deutschland. Wichtig ist, unserer Einschätzung nach, den politischen Dialog aktiv zu suchen und sich miteinander zu verständigen, um Angst in der Bevölkerung und bedrohlich wahrgenommene, scheinbar unüberwindbare kulturelle Ferne abzubauen.
Außerdem stützen mediale Diskurse, wie das öffentliche Vorführen von „Florida-Rolf“ in der BILD, die Hervorbringung eines gewaltvollen gesellschaftlichen Klimas, in dem der Einzelne jederzeit Opfer von Stigmatisierung werden kann und dem Zwangsmaßnahmen bei jeder Abweichung drohen. Diese Diskurse – weg vom „armen Lebenskünstler“ hin zum „unnützen Sozialschmarotzer“ - sind gefährlich für die Demokratie.
Inwiefern gefährdet gerade der Rechtsextremismus eine demokratische Gesellschaft?
Marliese Weißmann: Rechtsextremismus und Demokratie schließen sich aus. Rechtsextreme wollen keine Demokratie, das heißt, sie wollen diese abschaffen. In einigen Gruppendiskussionen konnten wir den Wunsch nach Härte, einer starken Hand, die Ordnung herstellt und endlich „aufräumt“, gepaart mit einer Wut auf Schwächere, vorfinden. Wenn der Wohlstand bröckelt, steigen antidemokratische Traditionen auf. Dies haben wir mit dem Bild der „narzisstischen Plombe“ dargestellt.
Könnten Sie dieses Bild weiter erläutern?
Marliese Weißmann: „Narzisstische Plombe“ bezieht sich auf unsere Ergebnisse zum Verhältnis von Wohlstand und der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Gemeinhin ist in der Forschung bekannt, dass wirtschaftliche Deprivation einen entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung rechtsextremer Einstellungen hat. In den Gruppendiskussionen fiel uns auf, dass die Teilnehmenden einerseits die aktuelle ökonomische, individuelle oder gesamtgesellschaftliche Wirtschaftslage als negativ empfanden. Andererseits wurde gleichzeitig der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg betont.
Diese Betonung des Wirtschaftswunders, einer großen Aufbauleistung der Deutschen, kann in Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit verstanden werden. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges fiel die in der Figur des „Führers“ verdichtete Größenphantasie weg. Der wirtschaftliche Aufschwung deckelte diese narzisstische Kränkung, was mit dem Bild der „narzisstischen Plombe“ abgebildet werden kann. Sobald diese „Plombe“ herausfällt, das heißt Wohlstandsverlust wahrgenommen wird bzw. droht, kommen antidemokratische Einstellungen hervor, die sich zum Beispiel in Ressentiments gegenüber Arbeitslosen oder Ausländern äußern können.
Für die Studie „Mitte der Gesellschaft“ wurden Probanden befragt, die schon an der vorigen Studie teilgenommen haben. Von diesen sind, wie der Studie zu entnehmen ist, für die alten Bundesländer „Einkommen ab 2000 € überrepräsentiert, wohingegen diese für die neuen Bundesländer unterrepräsentiert sind“. Besteht bei diesen Grundbedingungen nicht die Gefahr, dass ein falsches Bild von der „Mitte der Gesellschaft“ gezeichnet wird?
Marliese Weißmann: Ich würde nicht von Kategorien „richtig“ oder „falsch“ sprechen wollen. Vielmehr ging es um einen vertiefenden Blick auf die Mitte der Gesellschaft, in der wir nicht alle sozialen Gruppen gleichermaßen berücksichtigen konnten. Repräsentativität, so haben wir es auch in unserem Buch herausgestellt, war nicht Ziel der neuen Studie. Die Arbeit mit qualitativen Methoden kann generell nicht anhand des Kriteriums der Repräsentativität gemessen werden. Für die Validität dieser Daten ist vielmehr zentral, dass Inhalte in ihrem Kontext dargestellt werden. So haben wir uns bemüht, ganze Textauszüge der Gruppendiskussionen in den einzelnen Kapiteln original zu zitieren. Diese geben durchaus einen Einblick in unsere Gesellschaft, nämlich verschiedene Lebenswelten und Sinn- bzw. Deutungsmuster der Menschen.
Beide Studien sind von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung im Rahmen des Projektes „Gegen Rechtsextremismus“ aufgegeben worden. Sind die Ergebnisse der Studie durch das politische Engagement nicht schon an einen „linken“ Horizont gebunden?
Marliese Weißmann: Drittmittelprojekte sind leider an Universitäten heutzutage zur lebensnotwendigen Normalität geworden, dies gilt insbesondere für den Bereich der Sozialwissenschaften. Trotz dieser Finanzierung werden solche Studien von Wissenschaftlern/Innen sowohl geleitet als auch durchgeführt, und die Qualität dieser Arbeiten unterliegt wissenschaftlichen Gütekriterien.
Welche Handlungsmöglichkeiten, gegen rechtsextreme Tendenzen in der Gesellschaft anzuarbeiten, sehen Sie vor dem Hintergrund der Studie?
Marliese Weißmann: Vor dem Hintergrund unserer Studie lässt sich folgern, dass Diskurse, die eine Ungleichwertigkeit von Menschen behaupten, zu unterbinden und auch gesellschaftlich zu ahnden sind. Denn eine Legitimierung dieser Diskurse fördert eine rechtsextreme Einstellung. Auch eine stärkere Verpflichtung der öffentlich-rechtlichen Medien scheint ratsam, um den Menschen Mitwirkungsmöglichkeiten in der Demokratie – neben dem Wahlrecht - zu vermitteln. Gerade in Bildungsinstitutionen wie der Schule wäre auch an eine Ausweitung der Partizipation von Schülern und Schülerinnen, zum Beispiel ein Einfluss auf Lehrpläne, denkbar. So könnten bereits junge Menschen Selbstwirksamkeit im Zuge politischen Handelns erfahren.