Des Führers Arzt trifft des Satans nackte Sklavin

Seite 3: Das Cabinet des Dr. Abel

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Es war wohl so wie oft bei schnell und billig hergestellten Genrefilmen: Die Produktionsfirma verlangte einen reißerischen Titel, etwas Sex und Gewalt, und wenn der Regisseur dann noch das Mini-Budget einhielt, konnte er darüber hinaus machen, was er wollte. Wenn unter solchen Umständen ein paar gute Leute zusammenkamen, entstanden Filme, die viel lebendiger geblieben sind als das meiste von dem, was damals bejubelt wurde, weil es gefällig war und nichts riskierte. Trivas und Hartwig hatten eine glückliche Hand.

Georg Krause war einer der besten Kameramänner, die man damals in Deutschland engagieren konnte. Er hatte vorher Robert Siodmaks Nachts, wenn der Teufel kam und Stanley Kubricks Paths of Glory photographiert, war vielseitig und lieferte Trivas Bilder, die mal vom Expressionismus beeinflusst sind, mal vom Bauhaus oder der Neuen Sachlichkeit. Die Mischung verschiedener Stilrichtungen ist nicht etwa künstlerisches Unvermögen, sondern Trivas’ Markenzeichen. Als zwischen mehreren Kulturen stehender Emigrant macht er so eine aus den Fugen geratene Welt spürbar. Das deutsche Unterhaltungskino der 1950er steht inhaltlich wie ästhetisch in der Tradition des angeblich unpolitischen Teils des NS-Films. Des Satans nackte Sklavin demonstriert (wie vorher schon Der Verlorene), wie man dazu auf Distanz bleibt.

Willy Mattes, Vater von Eva Mattes und sonst eher durch Kompositionen für Vico Torriani auffällig ("Tausend Mandolinen"), schrieb eine jazzige, in den gelungensten Momenten mit akustischen Verzerrungen arbeitende Musik. Für das Szenenbild verantwortlich waren Bruno Monden (Die Mörder sind unter uns) und Hermann Warm, der schon mit Murnau (Phantom, Schloss Vogelöd) und Lang (Die Spinnen, Der müde Tod) zusammengearbeitet hatte und einer der Schöpfer von Das Cabinet des Dr. Caligari war. Da kaum Geld zur Verfügung stand, konzentrierten sich Warm, Monden und Trivas auf einige visuelle Ausrufezeichen, die besonders gut zur Geltung kommen, weil der Rest der Ausstattung extrem karg und auf das Nötigste reduziert ist. So oder so ähnlich hätte es wahrscheinlich auch Edgar G. Ulmer gemacht, der Experte für Geld durch Inspiration ersetzende No-Budget-Produktionen.

Des Satans nackte Sklavin beginnt mit mehreren Zitaten. Auf das Namensschild von Prof. Dr. Abel fällt der Schatten eines Mannes mit Hut wie der des Kindsmörders in Fritz Langs M auf die Litfasssäule. Diesmal ist es nicht der Schatten von Peter Lorre, sondern der von Horst Frank, der hier eine seiner gruseligsten Schurkenrollen spielt. Durch den Park um Abels Haus kommt eine buckelige Krankenschwester des Wegs, als wären wir in einem Universal-Horrorfilm der 1940er gelandet, in House of Frankenstein oder House of Dracula. Der Mann mit Hut und bleichem Gesicht hat sich hinter einem Strauch ohne Blätter postiert, und wenn nun ein Kameraschwenk die beiden Herren auf der Parkbank zeigen würde, von denen der eine dem anderen erzählt, was er mit Dr. Caligari und Cesare dem Somnambulen erlebt hat, würde man sich nicht wundern.

Des Satans nackte Sklavin

Schwester Irene klingelt an der Tür und betritt dann ein Haus, dessen Innenarchitektur man angesichts der durchschnittlich wirkenden Fassade so nicht erwartet hätte. Hier könnte jederzeit der Satanist Hjalmar Poelzig (Boris Karloff) um die Ecke kommen, der in Ulmers The Black Cat (1934) ein über den Ruinen einer im Ersten Weltkrieg zerstörten Festung errichtetes Gebäude im Bauhausstil bewohnt und dort tote Frauen in Vitrinen aufbewahrt. Trivas macht hier deutlich, in welcher ästhetischen Tradition er seinen Film gesehen haben will (Ulmers Satanist ist nach dem Architekten Hans Poelzig benannt, einem Vertreter des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, von dem auch die Bauten in Der Golem, wie er in die Welt kam stammen), und zugleich transportiert das Zitat einen seiner ironischen Selbstverweise.

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In The Black Cat will sich Vitus Werdegast (Bela Lugosi) an Poelzig dafür rächen, dass er seine Frau verloren hat und viele Jahre in russischer Gefangenschaft verbringen musste. Ich habe viele Jahre im amerikanischen Exil zugebracht, sagt der in Russland geborene Victor Trivas mit diesem Anfang seines Films, aber jetzt bin ich wieder da, und ich bin keineswegs ein Fremder, auch wenn das Heimkehrern wie mir gern unterstellt wird und inzwischen vieles anders aussieht als früher. Sein Pech war nur, dass er so wie Peter Lorre ein Publikum gebraucht hätte, das es in Deutschland kaum mehr gab. Dem Genre des phantastischen Films, in dem er arbeitete und dem das deutsche Kino einige seiner Meisterwerke verdankt, hatten die Nazis den Garaus gemacht, weil es ihnen zu subversiv gewesen war.

Zwischen Kopf und Drüse

Schwester Irene ist mit Dr. Walter Burke verwandt, einem Multitalent wie Victor Trivas. Burke hat Professor Abels Haus umgebaut, assistiert ihm als Chirurg bei seinen Experimenten und ist verzweifelt, weil diese "gewisse Grenzen überschreiten". Irene dagegen hofft, dass der Professor sie von ihrem Buckel befreien wird. Im Hintergrund belauscht der bleiche Mann die Szene durch ein Fenster, als sei er wirklich Cesare der Somnambule. Als Irene gegangen ist, stellt er sich Professor Abel als der von Professor Hartmann empfohlene Dr. Ood vor. Ist das der Namensgeber des Hartmannbundes, oder vielleicht Paul Hartmann, der Darsteller des Stoffwechselforschers und Euthanasiearztes in Ich klage an? Und gibt es überhaupt einen Grund, an die Nazis zu denken, wenn sich Dr. Ood dem Forscherteam um Professor Abel anschließt?

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Ja doch, gibt es. Abel, gespielt von der französischen Kinolegende Michel Simon, interessiert sich vor allem für "die Verpflanzung gesunder Organe als ein Ersatz für kranke". Die Konservierung ist da natürlich ein Problem. "Wir bauen unsere ganzen Versuche im Wesentlichen auf der Unterkühlung der Temperatur des Lebewesens auf", berichtet Dr. Burke. Da sind sie wieder, die Unterkühlungsexperimente aus dem KZ. Von ihnen konnte damals jeder wissen, der es wissen wollte, weil sie im Nürnberger Ärzteprozess zur Sprache gekommen waren. In Fachkreisen gibt es bis heute eine periodisch wiederkehrende Debatte darüber, ob die Protokolle der NS-Ärzte wissenschaftlichen Anforderungen genügen und ob es ethisch vertretbar wäre, sie auszuwerten, wenn dadurch Menschenleben zu retten wären. Interessanterweise redet der durch andere Experimente sehr erschreckte Dr. Burke so, als seien Unterkühlungsversuche das Normalste von der Welt. Was dieser Herr wohl im Krieg gemacht hat?

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Dr. Ood sagt, er selbst sei als Säugling auf einem Rettungsboot im Mittelmeer gefunden und nach dem untergegangenen Schiff benannt worden, er wisse nichts von seiner Herkunft. Später wird sich herausstellen, dass er eine Gesichtsoperation hinter sich hat und früher Brandt hieß. Damit könnte Günther Brandt gemeint sein, nach dem Ersten Weltkrieg Mitglied der rechtsextremen Marine-Brigade Ehrhardt, im Dritten Reich Abteilungsleiter im Rassenpolitischen Amt der NSDAP und zum SS-Obersturmbannführer aufgestiegen wie Dr. Stein in Arzt ohne Gewissen. Nach 1945 verdiente er sein Geld als Facharzt für Innere Medizin. Oder sollte Karl Brandt, Hitlers "Begleitarzt", NS-Euthanasiebeauftragter und beim Ärzteprozess in Nürnberg zum Tode verurteilt, dem Henker entkommen sein wie Peter Cushing in The Revenge of Frankenstein (Cushing nennt sich übrigens "Dr. Stein", als er unter falscher Identität ein Krankenhaus eröffnet)?

Vom ominösen Professor Hartmann werden wir noch erfahren, dass er Brandt alias Ood eine Drüsenbehandlung zuteil werden ließ und seinen Schüler dadurch, dessen Überzeugung nach, zum genialen Übermenschen gemacht hat. An Professor Sauerbruch und die Nebenschilddrüse von Heidemarie Hatheyer wollen wir hier nicht denken. Angespielt wird auf die Drüsenexperimente von Nazi-Ärzten wie Dr. Horst Schuhmann, der bei seinen Sterilisationsversuchen in Auschwitz die Keimdrüsen jüdischer Männer 15 Minuten lang mit Röntgenstrahlen behandelte und einige Wochen später eine unbekannte Zahl von Opfern kastrierte, um die Wirkung unter dem Mikroskop studieren zu können. Dr. Schuhmann hätte wahrscheinlich bis zu seiner Pensionierung als Knappschaftsarzt im Ruhrgebiet gearbeitet, wenn er nicht 1951 einen Jagdschein und das dafür notwendige polizeiliche Führungszeugnis beantragt hätte. Dabei kam heraus, dass er von der Staatsanwaltschaft Tübingen gesucht wurde. Schuhmann floh ins Ausland und arbeitete vorübergehend auch als Schiffsarzt (womöglich auf der Ood?).

Der Däne Carl Værnet, SS-Obersturmbannführer im KZ Buchenwald, stellte im Auftrag der Deutschen Heilmittel GmbH (eine Firma der SS) eine künstliche männliche Sexualdrüse her und implantierte sie schwulen KZ-Häftlingen, um zu beweisen, dass die Homosexualität "heilbar" sei. Auch das konnte jeder wissen, der es wissen wollte (zum Beispiel durch die Lektüre von Eugen Kogons Der SS-Staat, wo auch Dr. Schuhmann erwähnt wird). Das und vieles mehr ist wirklich so passiert und entstammt nicht der überhitzten Phantasie eines Drehbuchschreibers. Das sollte man berücksichtigen, bevor man über Die Nackte und der Satan die Nase rümpft.

Wie in einem Film von Victor Trivas nicht anders zu erwarten, gibt es auch eine Verbindung zu den Russen. Professor Abel hat einem Hund den Kopf abgeschnitten und diesen vier Monate lang am Leben erhalten. Das hätten die Russen vor ihm auch schon geschafft, meint er und denkt da wohl an Sergei Brukhonenko und Sergei Tchetchulin, die den Kopf ihres Versuchshundes in einem Moskauer Labor mit einer primitiven, von ihnen entwickelten Herz-Lungen-Maschine verbanden und noch Wochen später so etwas wie Leben feststellen konnten. Zu diesen Experimenten gibt es einen Film. Ebenfalls in Moskau tätig war der Chirurg Wladimir Petrowitsch Demichow, ein Pionier der Transplantationsmedizin, dem Christian Barnaard viel verdankte. Seine Spezialität war das Verpflanzen von Tierköpfen. Im Januar 1959 trat er in Leipzig und in der Charité in Ostberlin auf und demonstrierte, wie man den Kopf und die Vorderpfoten eines jungen Hundes auf den Körper eines größeren Artgenossen verpflanzt. Horrorfilme sind oft dokumentarischer, als man so denkt.

Burgfräulein im Tam-Tam

Selbstverständlich hat Professor Abel auch ein Serum erfunden, das "Serum Z": eine Art Fruchtwasser, in dem er die Organe für seine Experimente lebendig hält. Herzkrank ist diesmal keine schöne Sängerin, sondern der Professor selbst. Als Spender wurde bereits ein unrettbar verlorenes Unfallopfer angeliefert, das aber zu früh stirbt. In dieser Notlage zeigt sich, dass Dr. Ood ein Mann der Tat ist. Weil er für Abels Körper nichts mehr tun kann, schneidet er kurzerhand den Kopf ab. Vorher muss er noch Dr. Burke erschlagen, der das Experiment verhindern will. Über Schläuche mit Apparaten und Serum Z verbunden, ist Abel jetzt ganz Kopfmensch, die Personifizierung von Kants kategorischem Imperativ. Selbst zum hilflosen Versuchstier geworden, steckt der Professor - oder das, was noch von ihm übrig ist - in der Halterung, die er für den abgeschnittenen Hundekopf gebaut hat. Da kann er über seine Experimente und das Berufsethos des Arztes nachdenken, während Dr. Ood weiter forscht und operiert. Trivas nennt irgendeinen Grund, warum der Kopf am Leben erhalten werden muss, doch eigentlich interessiert das nicht. Die Moral von der Geschicht’: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Des Satans nackte Sklavin

Die Drüsenexperimente der Nazi-Ärzte hatten eine starke sexuelle Komponente. Das scheint auch auf das zuzutreffen, was Professor Hartmann mit den Drüsen von Dr. Ood gemacht hat, denn der ist regelmäßiger Gast in der Striptease-Bar "Tam-Tam". Da ist die von Hartwig entdeckte und mit der Rapid-Produktion Ein Toter hing im Netz nun bald zum "Busenstar" des deutschen Films aufsteigende Barbara Valentin als Animierdame tätig, und Christiane Maybach legt die Kleider ab. Maybach, die später bei Fassbinder spielte wie Barbara Valentin, wurde als "deutsche Marilyn Monroe" gehandelt und war im Jahr davor in einer Bühnenversion von Das verflixte siebte Jahr an der Seite von Heinz Rühmann aufgetreten. Trivas machte gern Gebrauch von solchen Möglichkeiten, an das anzuknüpfen, was als gediegene Unterhaltung galt. Umso entschlossener erklärten die Kritiker seinen Vergangenheitsbewältigungs-Arzt-Horror-Sexfilm zum indiskutablen Schund.

Des Satans nackte Sklavin

Heinz Rühmanns Traumfrau ist in der Bar "Tam-Tam" als Burgfräulein zu bewundern, und weil sie ihr Kostüm nicht ganz ausziehen durfte, stellt der Titel der Nummer klar, dass sie nichts anhat: "Die Nackte und der Satan". Der Satan steckt in einer Ritterrüstung, die das Burgfräulein durch ihren Tanz zum Leben erweckt. Gar nicht begeistert ist ihr Freund Paul Lerner (Dieter Eppler, in Harald Reinls Remake der Nibelungen bald selbst ein Ritter). Paul, ein verkrachter Jurastudent und der Sohn von Stadtrat Lerner, will lieber Bildhauer als Jurist sein. Seine Freundin ist auch sein Aktmodell, und er mag es gar nicht, wenn diese sich auch vor anderen Männern auszieht. Das ist eine Anspielung auf die Karriere des Produzenten Hartwig, der nach dem Abitur Jura studierte und zugleich die Erinnerung daran, wie eng die bürgerliche Wohlanständigkeit und die Verderbtheit beieinander liegen.

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Lilly (Karin Kernke), die "Super Sex Attraction" des Tam-Tam, hieß früher Stella, musste nach einem Giftmord untertauchen und erhielt von Ood ein neues Gesicht, als er noch Dr. Brandt war. Trotzdem ist Ood mit dem, was er geschaffen hat, nicht zufrieden. Er begehrt Lillys Körper, aber den Kopf der buckeligen Krankenschwester Irene findet er besser als den der Stripperin. Also bastelt er sich die ideale Frau, und das immerhin sieben Jahre, bevor Peter Cushing in Frankenstein Created Woman das Playmate Susan Denberg zusammensetzt. Die neue Irene gefällt auch Paul dem Bildhauer, der mit geschultem Auge alsbald den Körper von Lilly wiedererkennt.

Des Satans nackte Sklavin

Und weil das Böse am Schluss bestraft werden muss, wird an dieser Stelle Kriminalkommissar Sturm ins Spiel gebracht - in der Gestalt von Paul Dahlke, den man vorher als Lehrer Justus in Das fliegende Klassenzimmer gesehen hatte. Dass sich ein renommierter Darsteller wie er für so etwas hergab, sorgte für Empörung. Es wurde als Beleg für die korrumpierende Wirkung solcher Schundfilme genommen. Ob den Herren Kritikern, die sich damals erregten, noch bewusst war, dass Goebbels Dahlke 1937 den Ehrentitel eines "Staatsschauspielers" verliehen hatte, für seine Verdienste um die Kunst (= Propaganda)? Oder hatten sie das schon verdrängt? Bei Trivas klärt der NS-Staatsschauspieler Verbrechen auf, deren Anfänge in der NS-Zeit liegen. Das ist eine der vielen Ironien in diesem Film.

Im Dämmerschlaf

Eine der unheimlichsten Szenen ist die, in der Dr. Ood mit seiner von ihm geschaffenen Geliebten ins Bett geht. Zuerst denkt man, dass er sie gleich vergewaltigen wird, aber dann gibt sie sich ihm hin, und das ist noch schlimmer. Für mich ist das der Versuch, die Beziehung der Deutschen zum Nationalsozialismus zu zeigen. Oder ist das überinterpretiert? Kann, darf man einen Film wie Des Satans nackte Sklavin als Parabel auf die NS-Zeit und deren Nachwirken in der BRD deuten? Warum nicht? Der Horrorfilm (siehe Das Cabinet des Dr. Caligari) war schon immer das Genre, das wegen des (scheinbar) fehlenden Realitätsbezugs Themen aufgreifen konnte, die für die besser gelittenen Bereiche der Kinematographie ein Tabu waren. Und wie tabuisiert das Thema Nationalsozialismus war, hatte Hartwig mit Bis 5 nach 12 erfahren.

Des Satans nackte Sklavin

Die Ausnahme waren Beruhigungspillen wie Canaris oder Des Teufels General (beide 1955). Mit Admiral Canaris und dem Fliegerhelden Ernst Udet alias General Harras griff man sich zwei Männer heraus, deren Biographien mit relativ geringem Aufwand zu bereinigen waren, stellvertretend für viele andere. Die Dinge am besten auf den Punkt bringt wieder, polemisch zugespitzt, der schmerzlich vermisste Joe Hembus. Es herrschte, schreibt er in Der deutsche Film kann gar nicht besser sein (erschienen 1961 und weiterhin sehr lesenswert)

die grenzenlose Bereitwilligkeit, dem Publikum etwas Gutes anzutun. Der Zuschauer, der erwachsene, lehnt sich im Kinosessel zurück. Er erkennt aufatmend, daß hier sein eigener Freispruch zelebriert wird: er war damals ein ohnmächtiges Werkzeug, ein Opfer, ein getretenes Frontschwein. Er sieht, daß es auch aufrechte Kerle gab, die ihren Mann standen, schmucke Helden, die schon wußten, was gespielt wird, und gar manchen Widerstandskämpfer.

Vorgemacht hatten es die Amerikaner mit dem Film The Desert Fox (1951), der bei uns als Rommel, der Wüstenfuchs lief. Da wird sogar schon Graf Stauffenberg aufgeboten (gespielt von Eduard Franz, der sonst gern als Russe, Araber oder Indianerhäuptling besetzt wurde), um die Wandlung des von James Mason verkörperten Generalfeldmarschalls zum Hitler-Gegner zu zelebrieren. Die sehr positive Sicht auf den "Wüstenfuchs" ist nicht zuletzt dem Kalten Krieg geschuldet, der es politisch opportun erscheinen ließ, die ehemaligen Gegner von der Wehrmacht im Schnellverfahren zu rehabilitieren, weil die Westdeutschen zur Abwehr der kommunistischen Gefahr gebraucht wurden. Wie lange so etwas nachwirkt, kann man an dem heftigen Streit sehen, der schon jetzt, ein Jahr vor der Ausstrahlung, um den neuen Rommel-Film der ARD tobt. Nicht bei jedem der Kombattanten, die derzeit die "historische Wahrheit" einfordern, bin ich mir sicher, ob damit Erwin Rommel gemeint ist oder doch James Mason.

Victor Trivas hatte mit einer Entnazifizierung nichts im Sinn, und schon deshalb musste es ein Horrorfilm sein. Zwischen dem Kopf von Professor Abel und Dr. Ood gibt es einen interessanten Dialog. "Ich habe Sie eine zeitlang im Dämmerschlaf gehalten", sagt der Doktor. "Schon wieder Sie, Ood?" erwidert ein langsam zu sich kommender Abel. "Es war also kein Traum." Darauf Dr. Ood: "Schildern Sie die Empfindungen Ihrer neuen Lebensform. Ich will sie wissenschaftlich auswerten." So stelle ich mir Leute wie die NS-Drüsenforscher Schuhmann und Værnet vor, oder Dr. Sigmund Rascher, der in Dachau Unterkühlungsexperimente machte und sich zum Herrn über Tod und Leben aufschwang. "Das Experiment ist beendet, Sie können jetzt sterben", sagt Dr. Ood einmal. Das könnte auch von Dr. Rascher sein.

Mit dem "Dämmerschlaf" ist nicht das Zwölfjährige Reich gemeint (Hypnose verführter und wehrloser Menschen durch den Propagandaapparat des Dr. Goebbels), sondern die Nachkriegszeit, bei der man höchstens von einer kollektiven Selbsthypnose mit dem Ziel des rascheren Vergessens sprechen kann. Statt sich klar abzugrenzen, führt der sich als Humanist gebende Professor Abel auf den Versuchen der KZ-Ärzte aufbauende Experimente durch. Dann wacht er auf, stellt fest, dass ihm der Kopf abgeschnitten wurde und sieht sich einem Überlebenden des Dritten Reichs gegenüber - einem, der sein Aussehen verändert hat, aber noch genauso denkt wie früher. Das, sagt der Film, ist eine realistische Zustandsbeschreibung - kein Traum und keine Horrorvision. Die phantastischen Paraphernalien sind nur das Vehikel, mit dem die Botschaft transportiert wird.

Ein ganz eigenartiges Gefühl

"Ich habe ein ganz eigenartiges Gefühl", meint Inge, als sie nach der Operation aus einer langen Narkose erwacht, "… als … als ob mein Körper nicht mir gehört … als ob er mir gar nicht mehr richtig gehorchen würde." Dr. Oods Antwort kann nicht wirklich beruhigen: "Sie haben eine große Verwandlung durchgemacht. Ihre Drüsen sind regeneriert worden. 117 Tage waren Sie im Zustand eines Dämmerschlafs." Und jetzt? Wie geht es weiter, nachdem Inge aus der Narkose erwacht ist wie vor ihr Professor Abel? Beide wissen nach dem Dämmerschlaf, dass Ood alias Dr. Brandt ein Mörder ist. Einen starken Todestrieb hat er auch. Als er erkennen muss, dass sein Projekt gescheitert ist, zündet er das Haus an, in dem er es verwirklichen wollte. Das kommt einem irgendwie bekannt vor.

Des Satans nackte Sklavin

Zurück bleibt die neue Irene, Dr. Oods Geschöpf. In einem anderen Film würde sie mit ihm sterben, hier aber nicht, weil das zu einfach wäre. Irene, das aus zwei Frauen zusammengesetzte Wesen, hat mit einer Persönlichkeitsspaltung zu kämpfen. "Was ist überhaupt meine Vergangenheit", fragt sie, "die meines Körpers oder die meines Kopfes?" Damit steht sie sinnbildlich für die Deutschen der ausgehenden Adenauer-Zeit. Als sie im Labor erwacht, zündet ihr Dr. Ood eine Zigarette an. Für den Kopf der Krankenschwester ist es die erste Zigarette ihres Lebens; für den Körper der Striptease-Tänzerin Lilly ist es eine von vielen. Später, daheim in ihrem Zimmer, bewundern die Augen der einst buckeligen Frau das Spiegelbild ihres neuen Körpers. Irene hat jetzt schöne Beine und kleine Füße, für die die alten, klobigen Schuhe viel zu groß sind.

Des Satans nackte Sklavin

Aber ist das möglich? Kann man ein gänzlich neuer Mensch werden, die Vergangenheit abschütteln, als ob es sie nie gegeben hätte, wie das viele Deutsche in den 1950ern mit der Nazi-Vergangenheit versuchten? Die Antwort des Films ist eindeutig: Wer heute und morgen leben will, ohne das Gestern zu wiederholen, kann das nur tun, wenn er weiß, was damals war und sich dem stellt. Als im Tam-Tam plötzlich Dr. Ood vor ihr steht, hat Lilly nicht umsonst das Gefühl, dass die Vergangenheit lebendig geworden ist, auch wenn der Mann jetzt anders aussieht als früher, als er noch Dr. Brandt war.

Einmal sagt Ood, der Wiedergänger aus dem Dritten Reich, dass Irenes Kopf ihm noch widerstehe. Er sei neugierig, ob der Leib am Ende nicht doch ihre Seele beeinflussen werde. Um dem zu begegnen, verordnet ihr der Film eine starke Dosis Wahrheit über ihre Vergangenheit. Des Satans nackte Sklavin, dieser vom Unzuchts-Impressario Rolf C. Hartwig produzierte Schundfilm mit halbnackten Frauen, spricht sich ironischerweise dafür aus, auf den Kopf zu vertrauen. So endet Des Satans nackte Sklavin mit einer Botschaft, die überraschend moralisch ist. Es kommt darauf an, zu erzählen, was passiert ist, weil es sonst - mit anderem Gesicht - weitergehen wird. Und wenn man es nur mit verrückten Wissenschaftlern, abgeschnittenen Köpfen und Stripperinnen erzählen kann, muss es eben so sein.

Dankenswerterweise sind Der Verlorene, Arzt ohne Gewissen und Des Satans nackte Sklavin (als Die Nackte und der Satan) auf DVD erschienen. Zum Verlorenen gibt es eine Bonus-Disc mit einem Making of von Robert Fischer und Harun Farockis Doku Peter Lorre - Das doppelte Gesicht. So etwas hätte man sich auch für Arzt ohne Gewissen und die (arg flau ausgefallene) Sklavin gewünscht. Keine Informationen sind allerdings immer noch besser als das, was einem auf der Sauerbruch-DVD angeboten wird (der Geheimrat fand Hitler zwar irgendwann mal gut, aber eigentlich war er ein Widerstandskämpfer, und dazu singt ein Knabenchor). Die Romanfassung von Der Verlorene ist 1996 im Verlag belleville erschienen und dort noch vorrätig. Wer gerne mal Nachtwache, Dr. Holl oder Das letzte Rezept sehen würde und nicht noch ein altes Video besitzt, hat Pech gehabt wie so oft. Deshalb hier mein Neujahrswunsch an die Murnau-Stiftung: Die Rechteinhaber kontaktieren und Wolfgang Liebeneiners Euthanasie-Film Ich klage an in einer DVD-Box mit deutschen Arzt-Melos der 1940er und 1950er veröffentlichen. Da würde man eine Menge über das Dritte Reich lernen und darüber, wie es danach weiterging. Warum dadurch jemand zum Nazi werden sollte, ist mir ein Rätsel. Aber vielleicht bin ich zu dumm. Diese Möglichkeit muss man immer berücksichtigen. Andererseits: Vielleicht sind wir, das Publikum, fast 70 Jahre nach Hitlers Untergang doch klüger, als es die Verwalter unserer braunen Film-Vergangenheit erlauben wollen.

Im Filmmuseum München findet vom 16. bis zum 18. März 2012 in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und dem Bundesarchiv das Link auf ./36115_1.pdf "Vom Umgang mit NS-Filmen" statt. Bei der Diskussion am Samstagabend spricht auch Hans Schmid.

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