"Deutsche Abhängigkeit von den USA hat sich offenbar vergrößert"

Seite 2: "Denke, dass das alte Links-Rechts-Schema durchbrochen ist"

Während der Corona-Krise haben sie 2020 das "Manifest der offenen Gesellschaft" in Welt und Freitag unterzeichnet, im Juni 2021 haben Sie sich um eine "Corona-Aussöhnung" bemüht – und wurden dafür beargwöhnt.

Wo sich die Spaltung doch zunehmend entlang der politischen Pole vollzieht – wie ist es denn um die Versöhnung des sozialistischen und konservativen Lagers bestellt?

Ulrike Guérot: Ich denke, dass das alte Links-Rechts-Schema durchbrochen ist – und das zu sagen, ist wahrlich nicht originell. Die Lagerbildung, die Sie beobachten, findet derzeit ganz woanders statt. Insofern wäre die Frage, was oder wer sich hier mit wem versöhnen muss: eine veröffentlichte Meinung mit einer Mehrheitsmeinung? Die "Straße" oder "das Volk" mit zunehmend meritokratischen Eliten? Vernunftbegabte Bürger mit unvernünftigen Politikern?

Pseudo-oppositionelle Klimakleber mit sozial Vernachlässigten? Leitmedien mit alternativen Medien? Hysterische Vertreter von NGOs mit Durchschnittsbürgern? Politik-Ideologen mit Absolutheitsanspruch, mit der bürgerlichen Mitte?

"Coronisten" mit Maßnahmen-Gegnern? Waffenlieferer mit "Lumpenpazifisten"? Was soll an den wahrnehmbaren Brüchen der heutigen Gesellschaft und Diskurslandschaft noch links, sozialistisch oder konservativ sein? Es ist zum Beispiel weder links noch rechts, für Frieden oder Freiheit zu sein…

War Ihnen nicht bewusst, dass Sie möglicherweise an einer Agenda mitarbeiten oder haben Sie innerhalb dessen Gutes tun wollen – und ist nicht beides naiv?

Ulrike Guérot: Ich bin als junge Frau nach dem Studium und zu Beginn meiner Berufstätigkeit in den 1990er Jahren in eine europäische Erzählung hinein sozialisiert worden, die damals absolut mehrheitsfähig und parteiübergreifend war und die lautete: Ein geeintes Europa ist wichtig und richtig.

Dazu kamen noch viele persönliche Erfahrungen, nicht zuletzt die Liebe, die mich nach Frankreich führte. Ich hätte damals nicht gedacht, dass die politische Entwicklung der EU, aber auch das soziale Europa in diesem Ausmaß scheitern und die technokratischen Strukturen der EU dreißig Jahre später zu einer politischen Krake werden, in der die Bürgerbeteiligung so unter die Räder kommt und sich die populistischen Strömungen in ganz Europa als Reaktion gegen diese europäische Technostruktur aufbauen.

Wer hätte das 1992 absehen können? Die Intention stimmte jedenfalls bei den Akteuren, für die ich gearbeitet hatte, zum Beispiel bei Jacques Delors, der definitiv kein "globalistischer Agent" war, sondern der wirklich ein politisch geeintes, demokratisches, soziales Europa wollte, und zwar ein Europa, das im Gegenteil die europäischen Bürger vor der Globalisierung schützt.

Une Europe, qui protège, hat er immer gesagt, ein Europa, das schützt. Die meisten, die diese Entwicklung von heute aus beurteilen, übersehen das, weil sie die heutige EU vor Augen haben und zu Recht enttäuscht sind.

Sie haben also nichts zu bereuen.

Ulrike Guérot: Vielleicht würde ich rückblickend sagen, dass ich in einigen Aspekten mit Blick auf die europäischen Entwicklungen damals zu gutgläubig war und bestimmte Risiken oder den Missbrauch politischer Prozesse nicht gesehen habe, zum Beispiel, was die Debatte über die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei anbelangt, um nur ein Beispiel zu nennen.

Aber ich war jung. Und wer will nicht an eine gute Entwicklung glauben? Immerhin war 2003 eine europäische Verfassung geplant, die die EU demokratisieren sollte. In den Thinktanks, in denen ich gearbeitet habe, ging es genau darum, nämlich die Demokratisierung und Emanzipation Europas zu begleiten und zu kommentieren, vor allem beim ECFR.

Diese Vorstellungen von "politischen Agenden" oder auch der Einfluss dieser Thinktanks wird allgemein überbewertet, würde ich sagen, vor allem von heute aus gesehen.

Es muss aber wohl einen Zeitpunkt gegeben haben, an dem Sie misstrauisch wurden.

Ulrike Guérot: Gekippt ist die Stimmung ca. 2005, als die europäische Verfassung scheiterte und die EU-Osterweiterung zugleich die Spannungen innerhalb der EU erhöhte. Gleichzeitig wird der Euro eingeführt und neoliberalisiert die EU, ohne dass ein soziales Europa verwirklicht wurde.

Das war alles anders geplant, als es gekommen ist. Während der Bankenkrise um 2010 hat die EU für diese Fehlkonstruktion auch einen hohen politischen Preis bezahlt: Der Zuspruch zur EU ist in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts fast konstant gesunken, der Populismus hat indes zugenommen.

Genau das beschreibe ich in meinem Buch "Endspiel Europa". Nach der Bankenkrise wurde mir 2013 beim European Council on Foreign Relations, dessen Berliner Büro ich 2007 bis 2013 geleitet hatte, gekündigt.

Warum?

Ulrike Guérot: De facto damals schon, weil ich sehr kritisch war und in mehreren Publikationen vor allem die deutsche Dominanz in der Euro-Governance kritisiert hatte. Dass ich danach noch für ein Jahr mit den Open Society Foundations assoziiert war, war eher ein Zugeständnis, damit ich nicht von heute auf morgen arbeitslos bin.

Die Realität ist meist nüchterner oder profaner als die Legende, die erzählt wird. Auch ich habe einfach ein Leben, mit allen ups and downs, und nicht immer nur "Absichten", das gilt für meine beruflichen Stationen ebenso wie für die Plagiatsaffäre.

George Soros wiederum ist eine schillernde Persönlichkeit mit vielen Positionen zu den unterschiedlichsten politischen Themen, und ihm in seinen Positionen bezüglich der Eurokrise zuzustimmen, heißt nicht, andere Positionen – zum Beispiel zur Ukraine – zu teilen. Auch hier fehlt die Differenzierung. Der eindimensionale Zugang auf einen Sachverhalt regiert heute die Öffentlichkeit. Alles ist immer "wenn, dann …" Aber nichts ist monokausal.

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