"Deutsche Abhängigkeit von den USA hat sich offenbar vergrößert"

Ulrike Guérot. Bild: World Economic Forum, CC BY-NC-SA 2.0

Ulrike Guérot über eine Europäische Republik als erster Schritt zur Weltgemeinschaft, falsche Tweets am späten Abend und die fehlende Unabhängigkeit Europas.

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, geboren 1964 als Ulrike Hammelstein, hat einen dramatischen Wandel vom Presse-Liebling zur Persona non grata vollzogen.

Das ehemalige CDU- und spätere Grünen-Mitglied tritt seit den Neunzigerjahren für einen post-nationalen, föderalen europäischen Bundesstaat ein, der sich im Wesentlichen mit den Forderungen des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors deckt, für den sie von 1996 bis 1998 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war.

Als Verfechterin jener "europäischen Idee" und "radikale" politische Kommentatorin war die 58-Jährige ein Liebling der sogenannten Leitmedien. In der Coronakrise geriet Guérot durch ihre Maßnahmen-kritischen Äußerungen im Mainstream allerdings zunehmend in Misskredit.

Lesen Sie hier Teil 1 des Interviews mit Ulrike Guérot: "Der Versuch, Unrecht aufzudecken, wird vereitelt".

Im ersten Teil dieses Telepolis-Interviews ging es um die europäische Idee und das jüngste Buch "Das Phänomen Guérot – Demokratie im Treibsand", die Abschrift eines Gesprächs, das Guérot am 20. Juni 2022 mit dem Bildungsphilosophen Matthias Burchardt in Kiel geführt hat.

Frau Guérot, im Jahr 2016 haben Sie dafür geworben, dass Flüchtlinge in Europa ihre eigenen Städte aufbauen sollen ("Neu-Aleppo", "Neu-Kundus"). 2019 haben Sie den Brexit indirekt mit der Machtergreifung von 1933 verglichen.

Ulrike Guérot: Ja, der Vorschlag "Städte für Flüchtlinge" hat 2016 Aufsehen erregt und eine veritable Debatte ausgelöst, die in Le Monde Diplomatique begann und im ZDF endete. Das ist doch eigentlich gut? Bei mir haben sich damals viele Architekten gemeldet, die das gar nicht lächerlich fanden.

In der Geschichte fand Migration übrigens oft durch eigene Städte für Neuankömmlinge statt, ich wollte das einfach mal thematisieren und den Debattenraum mit einer kreativen Idee öffnen. Und diese Idee habe ich mit allen diskutiert, die wollten, auch mit denen, die widersprochen haben.

Und der Brexit-Tweet?

Ulrike Guérot: Den habe ich spätabends an einem Freitag nach einem Abendessen in Wien abgesetzt und damit auf die temporäre Suspendierung der Parlamentssitzungen durch Boris Johnson reagiert. Der Tweet war in dieser Form sicherlich ein Fehler. Es zeigt aber fast exemplarisch, wie sehr man sich heute an einem einzigen Tweet von vor sieben Jahren festkrampft, um jemanden zu denunzieren.

Früher konnte man sagen "Du weißt doch, dass ich das nicht so gemeint habe". Das geht in Zeiten der mutwilligen Hetze nicht mehr. Leider kennt das Internet kein Vergessen. Die Frage ist jetzt: wollen wir in einer makellosen und tadellosen Gesellschaft leben, in der niemand mehr einen Fehler macht?

Wohin würde das führen? Ich muss immer noch mit dem Kopf schütteln, wenn ich auf meinem Wikipedia-Eintrag lange Sätze über diesen einen Tweet lesen muss, in denen aufwendig versucht wird zu interpretieren, was ich damit gemeint haben könnte. Da wird jeder Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Kontextualisierung verletzt.

Dann wünsche ich mir, die gleichen Leute, die sich an diesem Tweet fast aufgeilen, würden ebenso aufwendig meine Bücher kommentieren. Ich bin übrigens der Überzeugung, dass es bald eine Gegenbewegung zu diesem akribischen Internet-Denunziantentum geben wird.

So?

Ulrike Guérot: Man kann das doch einfach nicht mehr ernst nehmen. Es wird sich hoffentlich bald herumsprechen, dass diejenigen, die da auf einmal in Selbstermächtigung ausschwärmen, um bei anderen genau dann Fehler zu suchen, wenn diese Personen in Ungnade fallen, meist keine hehren Motive haben, sondern die modernen Biedermeier und Brandstifter der Gesellschaft sind.

Wie hieß es noch bei Hoffmann von Fallersleben? Der größte Lump im Land ist und bleibt der Denunziant. Das gilt heute für Fakten-Checker ebenso wie für Plagiatsjäger, während für wirkliche Affären, wie etwa der jüngsten Graichen-Affäre im Wirtschaftsministerium, für eine "Fehlerkultur" plädiert wird.

Die Frage scheint eher zu sein, vor wessen Fehlern eine Gesellschaft die Augen verschließen will und wo nicht. Ich meine zum Beispiel Baerbocks Lebenslauf, Scholz’ Cum-Ex-Deals oder Scheuers Maut: Mit Fehlern an sich hat es ja anscheinend nichts zu tun.

Der Mitautor Ihres Europa-Manifests, Robert Menasse, hat dem ersten EU-Kommissionspräsidenten Walter Hallstein falsche Zitate in den Mund gelegt, wonach die Abschaffung des Nationalstaats die eigentliche europäische Idee ist.

Ulrike Guérot: Die wiederum waren für mich auch schlimm, das war ja auch mir gegenüber ein Vertrauensbruch. Auf der anderen Seite: Überprüfen Sie Dinge, in diesem Fall Texte, die Freunde Ihnen geben? Würde man das tun, gäbe es kein Vertrauensverhältnis mehr, sondern nur noch eine Gesellschaft des Misstrauens.

Aber nur in totalitären Systemen muss man eigentlich in allen Beziehungen misstrauisch sein und Verrat fürchten. Im Vergleich zu mir wurde Robert Menasse damals aber fast schon verschont. Der Buchpreis wurde ihm zum Beispiel nicht entzogen, während mir gekündigt wurde. Ich habe an einigen Stellen in Eile schlampig zitiert, okay.

Aber ich habe nicht vorsätzlich seitenlang plagiiert oder Zitate erfunden. Die Frage ist also die der Vergleichbarkeit, ein rechtsstaatliches Prinzip im Übrigen, also was wo wie geahndet wird und was nicht.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.