Deutsche Gründlichkeit: Die Impfkrise ist hausgemacht
Deutschlands Fehler in der Pandemiebekämpfung machen international Schlagzeilen
Vor knapp einem Jahr, zu Beginn der Pandemie, galt Deutschlands Umgang mit der Corona-Krise als vorbildlich. Kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit schien Bundeskanzlerin Angela Merkel als Krisenmanagerin zur Höchstform aufgelaufen zu sein.
Die "Oberwissenschaftlerin" Merkel habe Deutschland erfolgreich durch die Pandemie gesteuert, so die Zeitschrift The Atlantic voll Bewunderung. In der Krise, so mancher ausländische Beobachter, sei die Bundeskanzlerin zur Topform aufgelaufen. Selbst ihre Kritiker, so der Guardian, hätten "eine Politikerin zu schätzen gelernt, die die Bedeutung von Dezimalstellen besser erklären, als große Zukunftsvisionen entwerfen könne".
Ein Jahr und mehrere Infektionswellen später sieht die Sache ganz anders aus. Mittlerweile hat es sich international herumgesprochen, dass die deutsche "Impfkampagne" ein Reinfall ist. Wie CNN am Wochenende vorrechnete, liege die Zahl der in Deutschland verimpften Dosen pro 100 Einwohner bei einem Viertel des bereits in Großbritannien absolvierten Pensums.
Ein Teil des Problems bestehe darin, dass in Deutschland nur in designierten Impfzentren und nicht in Arztpraxen geimpft werde. In Großbritannien werde dagegen schon seit Monaten von niedergelassenen Ärzten geimpft. Deutschland habe nur etwa sechs Prozent der Bevölkerung geimpft, in Großbritannien seien es mehr als 30 Prozent.
"Es wäre schön, wenn ich wenigstens 10 Impfdosen in meinem Kühlschrank hätte", erklärt Dr. Sibylle Katzenstein, eine Berliner Ärztin, die CNN zitiert. Die Allgemeinärztin habe für viel Geld ihre Praxis ausgestattet, um Covid-19-Impfstoffe verabreichen zu können. Aber ihre Bitte schutzbedürftige Patienten impfen zu dürfen, sei wiederholt abgelehnt worden.
"EU-Kommission nicht rigoros genug, nicht schnell genug"
Doch die deutsche Bürokratie sei nur ein Grund für die schleppende Impforganisation. Als weiterer Grund für den zähen Impffortschritt wird die Entscheidung Merkels angeführt, die Impfstoff-Akquise über die EU zu organisieren. "Im Grunde", so SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach, "war die EU-Kommission nicht rigoros genug, nicht schnell genug und sie stellte nicht genügend Geld zur Verfügung, um mehr Impfungen in kürzerer Zeit zu ermöglichen."
Als schwerwiegender Fehler habe sich auch die Entscheidung erwiesen, den Impfstoff von AstraZeneca nicht für Menschen über 65 Jahren zuzulassen. Diese Entscheidung der Ständigen Impfkommission (STIKO), die erst Mitte letzter Woche revidiert wurde, habe zu einem ernsten Vertrauensschaden in der deutschen Öffentlichkeit geführt. Zuvor hatten sich die Ministerpräsidenten von Bayern und Baden-Württemberg für eine Freigabe des Impfstoffs für alle ausgesprochen.
Laut dem jüngsten Deutschlandtrend der ARD sind drei Viertel der Wahlberechtigten mit der Impfstoffbeschaffung und der Organisation der Corona-Impfungen unzufrieden. Wirtschaftsminister Altmaier und Gesundheitsminister Spahn sitzen in Umfragetiefs.
Medienberichten zufolge können sich Menschen im Alter von 56 bis 59 Jahren in Großbritannien bereits in der kommenden Woche für COVID-19-Impfungen anmelden. In Deutschland fahren, Monate nach Beginn der "Impfkampagne", derzeit noch Menschen mit weit über 80 Jahren zu weit entfernten Impfzentren, um ihren Impftermin wahrzunehmen.
Letztes Jahr als manche noch von den deutschen Erfolgen in der Pandemiebekämpfung sprachen, wurde auch ein anderer Faktor genannt, dessen Rolle womöglich nicht zu unterschätzen war: pures Glück. Deutschland habe rein zufällig einen Zeitvorteil gehabt.
In der Fehleranalyse, die auf das deutsche Impfdebakel folgen sollte, aber vielleicht nie folgen wird, sollte dem Faktor Zufall höchstens eine untergeordnete Rolle zugeordnet werden: Die deutsche Impfkrise bildet den Mangel an Weitblick der dafür zuständigen politischen Verantwortlichen ab.