Deutschland, die verspätete Nation
Der deutsche Weg zur Informationsfreiheit
Die Bundesrepublik ist neben Luxemburg das einzige EU-Land, das sich von seinen Bürgern nicht in die Karten gucken lässt. Zählt man die neuen Mitgliedstaaten hinzu, gesellt sich noch Zypern in die erlaucht-verschwiegene Runde. Malta hat immerhin ein Einsichtsrecht für die Presse. Die drei Bewerberstaaten Bulgarien, Rumänien und Türkei haben sich allesamt mit Informationsfreiheitsgesetzen auf die Aufnahme in die Union vorbereitet. Wenn die Schweiz, Serbien und Montenegro bald ihre Gesetzesentwürfe verabschieden sollten, wären Deutschland, Luxemburg, Zypern, Malta, Mazedonien und Weißrussland die letzten Länder auf dem Kontinent (Mini-Staaten ausgenommen), die kein Recht auf Akteneinsicht gewähren - wobei die letzten beiden immerhin per Verfassung die Freiheit der Information garantieren. Für Deutschland gilt weiterhin die Devise: Meinungsfreiheit ohne Informationsfreiheit.
1999 war Claus Henning Schapper, der damalige Staatssekretär im Innenministerium, noch ganz zuversichtlich gewesen, ein Informationsfreiheitsgesetz (IFG) bis 2002 verabschieden zu können. Das weiß Monica Broschard zu berichten. Die Politologin hat ihre Magisterarbeit über "Deutschlands Weg zur Informationsfreiheit" (Universität Koblenz, 2003) geschrieben. Im Dezember 2000 legte das Innenministerium den anderen Ministerien einen Referentenentwurf vor. Noch während dieser ab Juni 2001 öffentlich zur Diskussion stand (Bundesinnenministerium will Diskussion über Informationsfreiheitsgesetz), trudelten Reaktionen und Änderungswünsche aus den anderen Ministerien ein.
Akteneinsicht schon - nur eben nicht bei uns!
Das Justizministerium (BMJ) habe bereits im Januar 2001 erklärt, dass gegen den vorgelegten Entwurf "grundsätzlich keine grundrechtlichen Bedenken zu erheben sind". Das Wirtschaftsministerium (BMWi), damals noch unter Werner Müller, wollte den gesamten Außenwirtschaftsverkehr ausgenommen wissen. So gibt es etwa die sogenannten "Frühwarnschreiben" des BMWi an die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft. Darin warnt der Staat die Rüstungsunternehmen, wenn "bestimmte Stellen" im Ausland sich Massenvernichtungswaffen beschaffen wollen. Diese Warnungen dürften nicht den "Stellen" in die Hand fallen, vor denen ja gewarnt werden solle. Ebenso dürften Daten des Bundeskartellamtes nicht öffentlich werden. Dieses würde zu einem Vertrauensverlust führen.
Außerdem sah das BMWi durch den drohenden "Popularanspruch auf Auskunft" einen zu hohen Verwaltungsaufwand auf sich zukommen und forderte daher, dass der Aufwand kostendeckend erstattet werden müsse. Dem konnte das Finanzministerium (BMF) nur zustimmen und forderte zusätzlich, von der Akteneinsicht ausgenommen zu werden, "wenn das Bekanntwerden der Information geeignet wäre, das fiskalische Handeln des Bundes zu beeinträchtigen".
Das Verteidigungsministerium (BMVg), damals noch unter Rudolf Scharping, wollte ohne Begründung komplett außen vor bleiben. Das würde heißen, dass auch nicht mehr benötigte oder archivierte Dokumente des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) Journalisten und Historikern vorenthalten blieben. Broschard weiß zu berichten, dass auch Frank-Walter Steinmeier, Chef des Bundeskanzleramtes und damit auch des Bundesnachrichtendienstes (BND), "kein Befürworter des Vorhabens" sei.
Jürgen Roth, Referent für Innen- und Rechtspolitik der Grünen-Fraktion, teilte der Politologin mit, das Umweltministerium (BMU) habe die Fraktion immer wieder dazu ermuntert, den eingeschlagenen Kurs auch gegen die ablehnenden Ministerien durchzuhalten. Das BMU sei eben mit Leuten besetzt, "die etwas aufgeschlossener sind und modernes Verwaltungshandeln stärker im Blick haben als diese alten Verwaltungsbürokratien, wo der Amtsschimmel morgens schon aus der Bürotür wiehert", sagte Roth. Dr. Alexander Dix, Beauftragter für Datenschutz und Akteneinsicht in Brandenburg, teilte Broschard hingegen mit, dass die Unterstützung durch Umweltschutz- bzw. Verbraucherschutzministerium auch nicht sehr intensiv gewesen sei.
Letztendlich sei ein noch so starkes Engagement der Grünen-Ministerien von Jürgen Trittin und später Renate Künast jedoch völlig irrelevant gewesen, folgert Broschard:
Ihnen stand mit BMWi, BMVg, BMF und Kanzleramt eine sehr gewichtige und mächtige Ablehnungsfront innerhalb der Regierung gegenüber. Die ablehnende Haltung dieser Gruppe bezog sich zwar nicht unbedingt auf ein IFG als solches, jedoch auf die Umsetzung einer - aus ihrer Sicht - zu weit reichenden Informationsfreiheit, d.h. einer Informationsfreiheit, die den jeweils eigenen Geschäftsbereich berührt hätte.
Alles neu macht der 11. September
Zwei Tage nach den Terroranschlägen in den USA fand die vorerst letzte Sitzung zum IFG statt - das BMVg ließ sich bereits entschuldigen. Im federführenden Innenministerium tat sich bis Frühjahr 2002 nichts mehr. Otto Schily, der dem innenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion Dieter Wiefelspütz zufolge "nie ein glühender Verfechter" der Informationsfreiheit war, ließ sein Ministerium Sicherheitspakete schnüren. Ein weiterer Grund für Schily, das Projekt auf die lange Bank zu schieben, mag auch ein Brief gewesen sein, in dem der Wirtschaftsminister ihm noch einmal seine Bedenken schilderte. Broschard zitiert:
Im Lichte der jüngsten Ereignisse rege ich daher an zu prüfen, inwieweit die nach dem Gesetz vorgesehenen Informationsansprüche noch mit sicherheitspolitischen Zielsetzungen vereinbar sind, und das Informationsfreiheitsgesetz erst einmal zurückzustellen.
Brief von Wirtschaftsminister Müller an Innenminister Schily vom 8. Oktober 2001
Nach Meinung mehrerer von Broschards Informanten könne dieser Brief so verstanden werden, dass Wirtschaftsminister Müller die Anschläge vorschob, um ein unliebsames Vorhaben auszubremsen.
Jürgen Roth zufolge war auch die Bundestagsfraktion der Grünen "über Monate hinweg gebunden" und konnte keinen Druck auf das Innenministerium ausüben. Der überarbeitete Gesetzesentwurf trägt den vorgetragenen Bedenken Rechnung (Innenministerium schraubt an der Informationsfreiheit).
Bertelsmann-Stiftung plädiert für Informationsfreiheit
Die Autorin folgert, dass die Verwaltungstradition des Amtgeheimnisses ein "maßgebliches Hemmnis auf dem deutschen Weg" zur Informationsfreiheit ist. Genau diese würde ein IFG unter erheblichen "Reformdruck" stellen, kommt die Bertelsmann-Stiftung in ihrer kürzlich erschienenen Analyse zum Schluss. Die Pflicht zur Transparenz verlange geradezu, Akten elektronisch zu führen, Content-Management-Systeme anzuwenden und "proaktiv" zu publizieren. Langfristig könne es so nicht nur zu einem "Kulturwandel" in der Verwaltung, sondern auch zu Kosteneinsparungen kommen. Als Transparenz-Effekt rechnet beispielsweise Indien mit 1,7 Milliarden US-Dollar Einsparungen der öffentlichen Hand.
Das vorläufige Scheitern der Informationsfreiheit ist auch auf das Einknicken des Bundeskanzlers vor den Wirtschaftsverbänden zurückzuführen. Diese fürchten, zu viel Transparenz könne die deutsche Wirtschaft lähmen (Bananenrepublik Deutschland). Die Bertelsmann-Studie sieht jedoch auch Chancen für deutsche Unternehmen, etwa indem der Wettbewerb gestärkt wird, was bekanntlich das Geschäft belebt. Zudem ließe sich das Gesetz kommerziell nutzen: Informationen ließen sich kostengünstiger beschaffen und neue Geschäftsfelder sich erschließen. In den USA werden 80 Prozent der Anfragen von Wirtschaftsunternehmen gestellt.
Nicht zuletzt sei ein IFG die "wesentliche Voraussetzung effektiver Kontrolle von politischer und ökonomischer Macht". Dieses mache die Informationsfreiheit nicht nur für Journalisten, sondern auch für die Bürger wichtig. Eine Gesetzeseinführung dürfte somit ein Signal gegen "Politikverdrossenheit" - besser: Parteienverdrossenheit - sein und zur doch so herbeigesehnten Reintegration des Bürgers in die Politik führen.
Meinungsfreiheit ohne Informationsfreiheit
Die unmittelbare Zurechenbarkeit staatlichen Handels, seit der Aufklärung gefordert, aber nie ganz verwirklicht, wird Realität.
Analyse der Bertelsmann-Stiftung
Helmuth Plessner attestierte der deutschen Nation jedoch bereits 1935 eine "innere Verhältnislosigkeit zur Aufklärung" und nannte sie die "verspätete Nation". Für Dr. Joachim Fischer, Generalsekretär der Helmuth Plessner Gesellschaft, macht es durchaus Sinn, den heutigen Zustand der Bundesrepublik hinsichtlich der Informationsfreiheit mit Plessners Kategorie der "verspäteten Nation" zu kennzeichnen. Dieses meine nämlich immer, "dass im Vergleich mit den westlichen Nationalstaaten der frühen Neuzeit, in denen der Idee nach die bürgerliche Gesellschaft ihren Staat hervorbringt, in Deutschland der 'späte' Nationalstaat eher eine Gründung des Staates, weniger des Bürgertums ist."
Der Staat hat sich durch die Unterzeichnung des UN-Zivilpaktes an folgende Absicht gebunden:
Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugehen.
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Artikel 19 (2)
In seinem aktuellen Bericht über die Verwirklichung des Pakts berichtet das Bundeskabinett, die "Informationsfreiheit" sei durch Artikel 5 (1) des Grundgesetzes gewährleistet. Dieser Artikel gewährleistet neben der Presse- und Meinungsfreiheit jedoch nur das individuelle Recht, "sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten".
Walter Keim findet den Staatenbericht deswegen falsch. Der norwegische Hochschullehrer und IFG-Lobbyist - er selber bezeichnet sich als europäischen Bürger (Was kann der einzelne Bürger bewirken?) - bereitet einmal mehr eine Klage vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen vor.
Die "verspätete Nation" ist eine, in der die Gedanken zwar frei sind, nicht aber die Information. Worauf aber gründet eine Meinung, wenn nicht auf Informationen?