Deutschland im Winter-Lockdown
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Pandemie-Politik, Freizeitgestaltung und Konsum. Eine Zwischenbilanz (Teil 1)
Mit der permanenten Bedrohung durch das Corona-Virus verfährt die Obrigkeit hierzulande, wie es sich für ein christlich-abendländisches Gemeinwesen gehört: Im Mittelpunkt ihrer Pandemiebekämpfung steht das Individuum und gibt dem Staat Anlass zu der Dreifachfrage, wo und wie es sich ansteckt – und wie sich genau das effektiv verhindern lässt.
Die sich daraus ergebende seuchenpolitische Losung – Kontaktverhinderung – wirft unmittelbar das Problem auf, wie sich unter dieser Bedingung die fortbestehenden unabweisbaren Notwendigkeiten einer funktionalen individuellen Lebensführung aufrechterhalten und sicherstellen lassen (Teile 1-3 dieser Serie) und wie sich die als alternativlos erachteten Restriktionen des bürgerlichen Lebens mit der Freiheitsgarantie der Verfassung vereinbaren lassen (Teil 4).
An beidem arbeitet sich die Politik im Lockdown unentwegt ab und produziert damit einige interessante Klarstellungen über den Charakter des Gemeinwesens.
Für die Politik steht nicht weniger an als die praktische Durchmusterung und stückweise Umorganisation mehr oder weniger aller Abteilungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses, damit sie unter Corona-Bedingungen irgendwie weiter funktionieren können; dieser mehrteilige Artikel (ungekürzt zuerst erschienen in der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt ) behandelt einige dieser Abteilungen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Welt der Freizeitgestaltung
Bereits im ersten Lockdown hat die epidemiologisch beratene Hoheit das bunte Treiben, das sich insgesamt als außerhäusliches Freizeitgeschehen zusammenfasst, mit seinen vielen unbeschwerten und engen menschlichen Kontakten als Ansteckungsgefahr ausgemacht. Private Zusammenkünfte wurden entsprechend reglementiert und diverse Arten von Veranstaltungen und Geselligkeiten im öffentlichen Raum – von der Oper bis zur Brettljause – abgesagt.
Aus hoheitlicher Sicht fallen diese Kontakte, im Unterschied zu manch anderen, in die Rubrik "nicht unbedingt notwendig", weil sie eben in der Sphäre der Freizeit stattfinden, in der die Bürger sich frei nach ihrem Gusto einteilen. Bei der bevorzugten Lahmlegung solcher Kontakte bleibt es dem Staat deshalb zunächst erspart, sich direkt mit dem großen Reich der Notwendigkeiten auseinandersetzen zu müssen, auf die er seine Bürger als Erwerbspersonen festlegt.
Indirekt muss er es allerdings schon. Denn beim zweiten Blick auf verzichtbare Kontakte im Freiraum der Individuen wird deutlich, dass sich um diese Freiheit herum eine ganze Welt von Notwendigkeiten des Gelderwerbs aufgebaut hat. Mit der Kontaktsperre wird nicht bloß das Freizeitvergnügen, sondern das umfängliche Geschäft damit lahmgelegt.
Das macht den Eingriff für den Staat zum Problem. Er ist konfrontiert mit der – sonst nie beachteten, längst gewohnten – Wahrheit der Freiheitssphäre der Individuen: Sie mag deren frei gesetzte Zwecke beinhalten, objektiv ist sie die Sphäre der Freizeitindustrie und damit ein Musterfall der Subsumtion der Menschen als Kunden unter Interesse und Notwendigkeiten des Geschäfts.
Die marktwirtschaftliche Bedeutung dieser Unterabteilung des nationalen Kapitalismus wird in den bilanzierten Umsatzeinbrüchen des Jahres 2020 greifbar, sodass ausgerechnet die Zwangspause des Kultur- und Freizeitbetriebs dessen wirklichen Stellenwert in Erinnerung bringt; selbiges gilt für die Millionen kleinbürgerlicher Existenzen vom Künstler bis zum Kellner, die davon abhängen, dass an der Kundschaft pausenlos Geld verdient wird.
Das ist jedenfalls die Problemlage, die der Staat ernst nimmt; ernst genug, um den von Verdienstausfall Betroffenen mit Geld auszuhelfen; was ihn sogleich daran erinnert, sich beim Lahmlegen auch in diesem Bereich zurückzuhalten.
Mit seinen Hilfen eröffnet der Staat prompt und wieder ganz systemgemäß eine heftige Konkurrenz der diversen Freizeitbranchen um Beachtung. In der Welt des Sports darf sich der Profifußball einer Vorzugsbehandlung erfreuen und wird von der verordneten Schließung weitgehend verschont.
Damit die Symbiose aus lokalpatriotischer Kulturpflege und dem großen Geld, das in dieser Sphäre verdient wird, weitergehen kann, präsentieren sich die abgezockten Ligamanager und ihre Vereine für einen Moment als Erziehungsanstalt, die sich in der Übererfüllung der staatlichen Hygienemaßnahmen als moralisches Vorbild bewährt und sich so ihren Spielbetrieb redlich verdient.
Unter den fehlenden Stadionbesuchern leiden nicht nur die Kulisse und die Einnahmen aus dem Ticketverkauf: Negative Auswirkungen auf die Einschaltquoten – und damit auf die Umsätze, die vermittelt über die Werbeindustrie mit den Massen vor den Fernsehschirmen gemacht werden – werden ebenfalls befürchtet. Umso mehr vermissen die Vereine ihre treuen Fans. Außer Frage steht für den Staat außerdem die Notwendigkeit großer Geldzuwendungen an Großunternehmen von besonderer volkswirtschaftlicher und nationaler Bedeutung, etwa Lufthansa und TUI.
Mit dem Arbeitsplatzargument! bekennt die Politik sich offensiv zur existenziellen Abhängigkeit betroffener Arbeitnehmer vom Geschäftsgang; es schlägt alle idealistischen Plädoyers für ein ökologisches "Umdenken" aus Anlass der Krise. Die Ruinierung ganzer Länder infolge des Irrsinns ihrer totalen Funktionalisierung fürs Tourismusgeschäft kann leider nur folgenlos bedauert werden.
Langfristig Folgen in Kultur und Tourismus
Im Inland hingegen wird unentwegt, unter Zuhilfenahme aller möglichen Heucheleien, auch auf die Spätfolgen der Stilllegung des Freizeit- und Kulturbetriebs für den Standort aufmerksam gemacht, damit die Politik sie hoffentlich mit ihren flankierenden Finanzhilfen bedenkt: Spielstätten und Etablissements aller Art droht die Pleite; Touristenattraktionen gehen – für immer – kaputt, wenn sie eine Saison lang nicht besucht werden.
Innenstädte drohen noch weiter zu "veröden" und beschauliche Berghänge unbeschneit und unbefahren zu bleiben; zu den gekniffenen Weihnachtsmarktbudenbetreibern gesellen sich jammernde Hoteliers und Gastronomen, die nicht wissen, ob sie "jemals wieder aufmachen können", und von deren Geschäftsumsatz zudem noch viel mehr erwerbstätige Existenzen abhängen, woran sie bei der Gelegenheit gerne erinnern.
Daneben kämpfen die kulturell höherwertigen Abteilungen der Branche noch mit allerlei schöngeistigen Ideologien zum unentbehrlichen Gebrauchswert ihrer Ware um die geldwerte Anerkennung ihrer Bedeutung; ohne Rücksicht auf den Offenbarungseid über den wirklichen Stellenwert der von ihnen bemühten Ideale und Höchstwerte im System der Marktwirtschaft, den sie sich damit leisten: Ohne dass sie Geld damit verdienen können, ist auch ihre schöne Kunst buchstäblich nichts wert.
Ein Stück Wahrheit liegt allerdings doch in all den Beschwörungen der Unentbehrlichkeit der Gebrauchswerte und Dienstleistungen für Volk und Elite vom Oktoberfest bis zur Kunstausstellung und der Beschwörung entsprechender Sehnsüchte der ausgesperrten Kundschaft: Ohne die Fiktion eines frei gewählten Zwecks aller Mühen des dem Geldverdienen gewidmeten Alltags, die Kunst und Kneipen so gerne bedienen, ist dieser Alltag ganz schlecht auszuhalten.
Davon zeugt auch der Boom entsprechender Ersatzveranstaltungen in der Welt des Digitalen; ebenso wie die begleitenden Klagen der Kulturschaffenden, eine gestreamte Oper, eingespielt vor Pappkameraden statt echtem Publikum, sei dann doch nicht das wahrhaft Schöne. So enthält die berechnende Heuchelei der Freizeitmacher noch einen Offenbarungseid über die Systemrelevanz des Vergnügens.
Dem Staat ist das nicht fremd, sodass er viel Verständnis für die entsprechenden Lobby-Beschwerden demonstriert. An der schönen Idee, die sich in der Kunst austobt, es ginge letztlich doch um mehr als um das schnöde Geldverdienen, hält auch er selbst bei dessen praktischer Unterbindung unbeirrt fest.
Und er bekennt sich zur systemtragenden Rolle der kompensatorischen Leistungen des Freizeitgeschehens, indem er – besonders um die Weihnachtszeit – Fingerspitzengefühl beim Eingriff in die Freiheitssphäre demonstriert und viel Verständnis dafür aufbringt, dass seine Maßnahmen für die kultur- und reisewütige Menschheit eine ziemliche Zumutung sind. Umso mehr plädiert er mit seinem Bekenntnis dann selbst auf "Verständnis" seitens seiner Adressaten...
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