Deutschland in der Pandemie-Krise: Wie überwinden wir die geistigen Blockaden?

Seite 4: Kosten und Nebenwirkungen von Maßnahmen

Selbstverständlich müssen die Kosten und negativen Nebenwirkungen von Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie immer in eine vernünftige Abwägung einbezogen werden. Gerade hier zeigt sich immer wieder eine erschreckende Inkompetenz, und dies in ganz unterschiedlichen Spielarten.

Besonders offensichtlich ist der Fehler, ausreichende Gegenmaßnahmen ohne konstruktiven Gegenvorschlag als zu teuer und damit unzumutbar abzulehnen, obwohl die Folgen einer unzureichend eingedämmten Pandemie gesundheitlich wie wirtschaftlich verheerend wären.

Große unnötige Schäden entstehen aber auch durch die Unfähigkeit zu erkennen, dass die notwendige Eindämmung aus mehreren Gründen wesentlich schwieriger und kostenträchtiger wird, wenn man einen starken Anstieg der Infektionszahlen für einige Zeit hinnimmt.

Anstatt erst dann den R-Wert wieder auf deutlich unter 1 zu drücken, um die Infektionszahlen wieder zu senken, könnte man mit insgesamt weniger Aufwand und weitaus geringeren Schäden den R-Wert von Anfang an auf einen Wert etwas unterhalb von 1 stabilisieren. Wohlgemerkt sind z. B. die für ein ausreichendes R = 0,95 erforderlichen Maßnahmen kaum einschneidender als die für R = 1,05 oder 1,1.

Man beachte auch, dass der R-Wert ganz ohne Gegenmaßnahmen (die Basisreproduktionszahl R0) für die aktuell bedrohliche Virusvariante Delta weitaus höher wäre – vermutlich 6 oder noch mehr. (Für Omikron wissen wir es noch nicht.)

Es ist also richtiggehend dumm, eine tödliche und teure Pandemiewelle über uns ergehen zu lassen, anstatt sie von vornherein mit kaum einschneidenderen Maßnahmen weitestgehend zu unterdrücken. Aber man versteht offenbar nicht, dass relativ geringfügige Änderungen der Maßnahmen darüber entscheiden, ob eine massive Welle auftritt oder nicht, oder rafft sich trotzdem nicht zum Handeln auf.

Übrigens hätte die erfolgreiche Unterdrückung einer Infektionswelle zur Folge, dass die meisten Geimpften am Ende dem Virus gar nicht mehr ausgesetzt würden. Daraus würden manche dann gerne schließen, die Impfungen seien gar nicht nötig. Das ist aber nur unter der Annahme korrekt, dass man ein einzelnes Individuum in einer weitgehenden geimpften Gesellschaft betrachtet.

Einzelne Trittbrettfahrer kämen tatsächlich risikoarm durch, aber eben nicht eine Gesellschaft mit Millionen von Trittbrettfahrern. Ähnlich könnte man beim Klimaschutz denken, es genüge doch, wenn es alle Länder täten außer eben unserem, wo wir es leider unpraktisch finden, auf Billigflüge, SUVs und Raserei ohne Tempolimit zu verzichten. Das stimmt schon, außer dass man so niemals zur Problemlösung kommt.

Natürlich mag man sich im Einzelfall darüber streiten, welche Maßnahme genau wie effektiv und angemessen ist. Leider sind wir aber von einem optimalen Mix von Maßnahmen vor allem an einer Stelle weit entfernt: Gewisse Kreise ignorieren zeitweilig komplett alle Notwendigkeiten (etwa bei Fußballspielen oder Familienfeiern) oder lehnen sich gar öffentlich gegen Schutzmaßnahmen auf, wobei sie dicht gedrängt auf den Straßen stehen und jede Menge von Infektionen unnötig zulassen.

Unter solchen Umständen kann eine Infektionswelle nur durch zusätzliche einschneidende Maßnahmen an anderer Stelle wieder zum Abklingen gebracht werden. Oft regen sich dann ausgerechnet diese Kreise über die wirtschaftlichen Schäden auf, die sie zuallererst zu verantworten haben. Und wenn man diese ja nicht von der Hand zu weisende Verantwortung benennt, kracht es erneut.

Impfungen

Besonders konfliktreich ist derzeit der Streit um die Impfungen. Aus wissenschaftlicher Sicht kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass die Impfungen zwar nicht perfekt wirken, aber jedenfalls einen sehr großen Beitrag zur Problemlösung bringen. Wenn alle geimpft wären (mit Auffrischungen ca. alle sechs Monate), bei denen kein triftiger Grund dagegenspricht, könnte der R-Wert mit moderaten und kostengünstigen Zusatzmaßnahmen zuverlässig unter 1 gehalten werden.

Das öffentliche Leben und die Wirtschaft kämen damit gut zurecht. Das Risiko von Nebenwirkungen der Impfungen liegt für den Einzelnen mit hoher Wahrscheinlichkeit weit unter dem, welches eine Pandemiewelle mit massenhaften Infektionen verursacht. Zwar sind im Prinzip schwere Langzeitwirkungen der Impfungen denkbar, aber auch sehr unwahrscheinlich.

Gleichzeitig gibt es für schwerwiegende Langzeitwirkungen der Infektionen bereits eine erhebliche Evidenz: Eine große Zahl von Menschen leidet seit Monaten unter Long Covid, und ob diese Erkrankungen entweder mit der Zeit doch von selbst abklingen oder durch neuartige Behandlungen (ohne Nebenwirkungen?) geheilt werden können, ist völlig ungewiss, außer für Anhänger der Alternativmedizin, die auch ohne jede Evidenz auf deren segensreiche Wirkungen vertrauen.

Übrigens beinhaltet auch die Intensivbehandlung bei schweren Infektionen notwendigerweise schwere Eingriffe, bei denen mit erheblichen Nebenwirkungen zu rechnen ist; dieses Risiko wird von vielen aber völlig ignoriert, obwohl es viel größer ist als das der Impfungen. Aus den genannten Gründen ist es in hohem Maße irrational, die Impfungen auf der Basis gefürchteter Nebenwirkungen abzulehnen – außer in außergewöhnlichen Fällen mit speziellen medizinischen Umständen.

Man bedenke auch, wie katastrophal unsere Lage ohne Impfungen wäre: Man müsste dann entweder mit viel einschneidenderen Maßnahmen den R-Wert trotzdem unter 1 halten oder aber voll von einer unkontrolliert sich entwickelnden Infektionswelle überrollen lassen, inklusive Zusammenbruch des Gesundheitssystems.

Die Impfgegner an Kants kategorischen Imperativ zu erinnern, treibt sie so in die Enge, dass sie gewöhnlich mit alternativen Fakten kontern. Viel anderes bleibt ihnen nicht, wenn ihre Position eben bedingungslos verteidigt werden muss, egal was Fakten und Logik sagen.

Die Sinnhaftigkeit einer Impfpflicht ergibt sich natürlich nicht einfach aus diesen Erkenntnissen. Neben praktischen Erwägungen wie der Verfügbarkeit von Impfstoffen sind hierfür auch weitere Aspekte eingehend zu prüfen, etwa betreffend denkbare andere (hinreichend wirksame?) Methoden sowie Abwägungen zwischen Freiheit und dem Schutz von Gesundheit und Leben (mit zu Ende zu denkenden Konsequenzen).

Ebenso können pragmatische Überlegungen über antizipierte Reaktionen eine Rolle spielen: Würde damit Vertrauen zerstört und eine Spaltung vertieft? Oder hat die Spaltung ganz andere Ursachen (etwa Desinformationskampagnen) und eine Impfpflicht womöglich sogar entspannende Wirkungen, etwa indem sie Impfungen ohne Gesichtsverlust erlaubt (d.h. ohne offizielle Aufgabe von verirrten Positionen)? Das sind gewiss schwierige Fragen.

Weltfremde Überlegungen

Manche Meinungen sind immerhin nicht absurd im Sinne von logisch unsinnig, aber doch weltfremd. Beispielsweise kann man nicht auf ein "natürliches" Abebben einer Infektionswelle hoffen, wenn dies zwangsläufig bedeuten würde, dass viele Millionen infiziert und unzählige Tausende getötet werden – und all dies so schnell, dass es zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems oder noch mehr führt.

Ebenso zum Scheitern verurteilt wäre eine Strategie, nur die besonders Gefährdeten zu schützen und die Infektionen im größeren Teil der Bevölkerung sich frei entwickeln zu lassen: Erstens, weil viele besonders Gefährdete gar nicht als solche identifiziert sind (also erst im Rahmen einer dramatisch verlaufenen Infektion als solche erkannt würden), und zweitens, weil es nicht ersichtlich ist, wie z.B. pflegebedürftige Alte im Falle ausufernder Infektionen beim Pflegepersonal geschützt werden könnten.

Dr. Rüdiger Paschotta ist Physiker, Unternehmer mit eigener Firma im Bereich der Photonik sowie Autor des frei zugänglichen RP-Energie-Lexikons.