Deutschland und die Zukunftstechnologien

Techno-Künstler Stelarc, der die Cyborgisierung des Menschen propagiert. Bild: Matias Garabedian/CC-BY-SA-2.0

Die Konvergenz von Mensch und Maschine wird zur zentralen Herausforderung für ein Land, das vom Export von Spitzentechnologie lebt - Ein Kommentar

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Beim jüngsten Festakt der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (Acatech) im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt am 12. Oktober hielt Bundespräsident Joachim Gauck eine begeisternde Rede, wie man sie selten besser von ihm gehört hat. Darin forderte er für Deutschland mehr Mut, sich mit den neuen Zukunftstechnologien am Schnittpunkt zwischen Mensch und Maschine auseinanderzusetzen. Er sprach aber auch die Ambivalenz der Verschmelzung von Körper und Technologie einschließlich der ethischen Fragen an, von denen die meisten ungelöst bleiben.

Zu Recht hat Deutschland in den vergangenen Jahren im Bereich der Mensch-Maschine-Konvergenz eine eher zurückhaltende Rolle gefahren. Das hat unter anderem mit der Lehre der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun, als auf deutschem Boden Technologie zu Machtzwecken und zur Züchtung eines "neuen Menschen" benutzt werden sollte. Es hat aber auch mit einer Wissenschaftskultur zu tun, die gründlicher abwägt und hinsichtlich Technikreflexion und Technikphilosophie eine andere Geschichte hat, die langsamer, weil tiefer vorgeht als die manch anderer Länder.

Das sind Gründe, warum man in Deutschland bislang nicht von Mensch-Maschine-Konvergenz, sondern von Mensch-Maschine-Interaktion sprach; und nicht wie im anglo-amerikanischen Bereich von "Verbesserung des menschlichen Körpers", sondern eher vage und neutral von "Selbstoptimierung". Man enthielt sich weitgehend des "Moonshot"-Ansatzes, der etwa in Kalifornien bei Google und anderen Weltmarktführern besagt, "große" Ziele wie massive Lebensverlängerung, Cyborgisierung des menschlichen Körpers und Verbindung zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz zu forcieren - von den verschiedenen Ebenen der US-Regierung als künftig potentiell zentraler Wirtschaftsfaktor aktiv gefördert und unterstützt.

Und man überließ anderen Ländern wie der Schweiz die Ausrichtung symbolischer Richtungsevents wie etwa der 1. Cyborg-Olympiade am 8. Oktober in der Swiss Arena in Kloten, wo es in sechs Wettkampf-Kategorien zwischen Cyborgs um die Zurschaustellung der neuen Möglichkeiten des "human enhancement" ging, also nicht mehr nur medizinischen "Heilens", sondern der "Verbesserung" des menschlichen Körpers durch seine Direktverbindung mit Technologie.

Ziel der ersten Cyborg-Olympiade war - gewollt oder ungewollt - vor allem auch der Beginn der pädagogischen Gewöhnung des breiteren Publikums an ein neues Imaginäres: an Bilder, in denen sich die Integration von Mensch und Maschine vollzieht. Die sechs Wettkämpfe in Kloten bestanden in einem virtuellen Rennen mittels Gedankensteuerung von Maschinen, im Fahrradrennen zwischen Querschnittgelähmten mittels elektrischer Muskelstimulation (FES), im Geschicklichkeitsparcours mit Armprothesen, im Hindernisparcours mit Beinprothesen, im Wettlauf mit robotischen Exoskeletten und im Parcours mit motorisierten Rollstühlen.

Intensivere Auseinandersetzung mit der kommenden Mensch-Maschine-Konvergenz ist erforderlich

Dass Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte und geistigen Tradition in den Weltbildern des Humanismus, des deutschen Idealismus und der zentraleuropäischen Ich-Philosophie, die die anglo-amerikanische Welt, geschweige denn die asiatische so nicht durchlaufen haben, mehr Fragen als andere zu dieser Entwicklung stellt und behutsamer vorgeht, um das Menschliche im Menschen nicht zu gefährden, ist klug. Auch wenn sich wie vom "Globalen Zukunftskongress 2045" im März 2013 in einem offenen Brief von Wirtschaftsführern, Wissenschaftlern namhafter Universitäten, Großinvestoren und Philanthropen an UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon gefordert, die Stimmen mehren, die einen radikaleren Technikansatz der Gesellschaft fordern, weil mit der Verschmelzung von Technik und Mensch die größten Chancen bestünden, die drängendsten Weltprobleme zu lösen, ist dies klug.

Auf der anderen Seite wird eine intensivere Auseinandersetzung, wie von Gauck am 12. Oktober gefordert, unvermeidlich, weil die Mensch-Maschine-Konvergenz in den kommenden Jahren in alle Bereiche eindringen wird. Bisherige Ethik ist auf die damit verbundenen neuen Fragen, vor allem aber auf das damit einhergehende neue Fragen-Niveau zur Zukunft von menschlichem Körper und menschlichem Selbstbild wenig vorbereitet. Daher ist in der Tat ein neuer Mut zu Auseinandersetzung und Experiment nötig, wie unter anderem bereits vom jüngsten Innovationsdialog der deutschen Bundesregierung zur "Mensch-Maschine-Interaktion" 2015-16 angedacht.

Manche glauben dabei allerdings vor allem in der populärwissenschaftlichen Diskussion, radikale Wissenschaft und Technik würden in den kommenden Jahren alle Probleme lösen. Doch wissenschaftsgestützte Technik wird das sicher nicht leisten können. Aber sie wird immer mehr zur wichtigsten verändernden Gesellschaftskraft. Damit löst sie nach und nach Politik und Wirtschaft als einflussreichste "klassische" Gestaltungstypologien ab.

Andere fürchten um die Zukunft des Menschen, vor allem auch des bisherigen Menschenbildes. Sie haben teilweise Recht. Zweifellos wird im anstehenden Entwicklungsprozess der Mensch von der Technik - und mit ihr - verändert werden. Denn die Technik beginnt heute - in diesem Umfang wohl erstmals in der Geschichte -, mit dem menschlichen Körper, in naher Zukunft vielleicht auch mit dem menschlichen Geist zu verschmelzen. Dazu kommt die bevorstehende Revolution der Künstlichen Intelligenz (AI): einer "Superintelligenz", die Mensch und Gesellschaft vor neue Herausforderungen stellt. All das zusammen ergibt das Zeitalter "radikaler" Technologie, oft auch "Transformationstechnologie" oder "disruptive Technologie" genannt.

Zusammengenommen bedeutet das, dass Technologie heute das Stadium der gesellschaftlichen Leitkraft erreicht. Diese Tendenz wird sich in den kommenden Jahren verstärken.

Was geschieht mit den Menschen, die aufgrund der Technik keine Arbeit mehr haben?

Die Frage, wie sich ein klassisches Unternehmen im Zug dieser technologischen Transformation verändern wird, ist ebenso umfangreich wie vielgestaltig. Viele bisher hauptsächlich von Menschen ausgeführte Tätigkeiten werden von Technologie, Automatisierung und ihrer Kombination mit künstlicher Intelligenz ersetzt werden. Das haben Industrieunternehmen wie VW oder Toyota bereits für die kommenden Jahre als aktives Ziel angekündigt. Intelligente maschinelle Produktion ist billiger als menschliche.

Unternehmen werden deshalb immer stärker technologisch an der Spitze stehen müssen, um Erfolg zu haben, gleich in welchem Bereich. Preis-Leistungs-Verhältnis, Lohnstückkosten und Effizienz werden hinter technologischer Innovation, Infrastruktur und Kommunikation zurücktreten. Was eher gleich bleiben wird, ist die Bedeutung der Führungsqualität, des "Könnens" und der Personalpolitik. Sie wird sogar noch zunehmen.

Doch was geschieht mit den Menschen, die dann keine Arbeit mehr haben? Die technologische Revolution stellt unsere Gemeinwesen vor grundlegend neue Herausforderungen. Darunter ist die Anforderung, den Sozial- und Wohlfahrtsstaat von Grund auf neu zu denken. Denn wenn Maschinen künftig die physische Produktion (das "manufacturing") erledigen, wer soll dann die Produkte kaufen, wenn die Menschen keine Arbeit und also kein Einkommen mehr haben? Das sind Fragen, die die kommenden Jahrzehnte prägen werden - und um die sich die gesamte Gesellschaft, nicht nur einzelne Parteien jetzt schon kümmern müssen, um die Entwicklung rechtzeitig zu antizipieren.

Konkret heißt das: Wir müssen uns überlegen, wie wir die Profite, die die Maschinen erwirtschaften, so sozial umverteilen, dass die Gesellschaft stabil und berechenbar bleibt. Ideen dazu gibt es, etwa Gratis-Gesundheitsversorgung, Gratis-Bildung, ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das sind aber langfristige Ideen, die nicht abstrakt, sondern nur gekoppelt an die konkreten Fortschritte in der Entwicklung intelligenter maschineller Produktion beurteilt und Schritt für Schritt entschieden werden sollten, angepasst an das, was notwendig und sinnvoll ist. Ein bedingungsloses Grundeinkommen kann möglicherweise auch schädlich sein, wenn die Menschen zu früh damit konfrontiert sind oder ermutigt werden, mit dem Arbeiten aufzuhören.

Das Credo des neuen Technik-Zeitalters scheint zu lauten: Schneller, schöner, weiter, besser. Wie also muss sich ein Unternehmen künftig aufstellen, um damit Schritt zu halten? Unternehmen müssen im Vergleich zu bisher deutlich stärker auf Forschung und Innovation setzen. Zweitens wird Vernetzung, drittens systematisch organisiertes Lernen an Best-practice-Beispielen und viertens Internationalität und Meritokratie in der Mitarbeiterauswahl ausschlaggebend sein. Fünftens gilt es, die Kommunikation besser zu sichern, weil Informationsausspähung weiter zunimmt.

Körper-Technologie-Schnittstelle wird zum entscheidenden Scharnier der nächsten "industriellen Revolution"

Welche Branchen werden künftig die größten Erfolge erzielen? Vor allem zwei. Erstens all jene, die sich mit dem Schnittpunkt zwischen Technologie und menschlichem Körper im weitesten Sinn befassen. Zweitens alles, was mit der Beziehung Mensch-Mensch zu tun hat. Warum?

Der große Bereich: Schnittpunkt zwischen Technologie und menschlichem Körper fängt bei Videospielen mit Virtual Reality (VR) Hauben an, wo ich mit Gedanken Bewegungen steuern kann, geht über die Gedanken(fern)steuerung von Maschinen, darunter Rollstühlen oder Autos, bis hin zu drahtlosen Gehirn-Computer-Schnittstellen ("Brain-Computer Interfaces", BCIs) oder "Gehirn-Maschine-Schnittstellen ("Brain-Machine Interfaces", BMIs). Diese sollen es künftig ermöglichen, sich mit Gedanken im "Internet der Dinge" zu bewegen, komplexe Tätigkeiten unabhängig von der körperlichen Leistungsfähigkeit zu vollziehen, neue medizinische Durchbrüche zu erzielen und vielleicht sogar den menschlichen Körper älter, widerstandsfähiger und irgendwann sogar unsterblich zu machen.

Daran wird jedenfalls bereits mit Milliardeninvestitionen gearbeitet, und zwar nicht von irgendjemandem, sondern unter anderem von Google und anderen Weltkonzernen, die das ihre "Moonshot-Politik" nennen - ob illusionär oder mit Erfolg, werden die kommenden Jahre weisen. Medien wie Time oder jüngst auch Wired Deutschland nehmen an dieser Entwicklung unter reißerischen Titeln wie "Tod dem Tod" teil - und promoten damit den Trend "über den bisherigen Menschen hinaus". In diesem Zusammenhang wird die Körper-Technologie-Schnittstelle zum entscheidenden Scharnier der auf uns zukommenden nächsten "industriellen Revolution" ("civilizational leap"). Sie wird damit die bisher letzte große Zivilisationsrevolution ablösen: die Erfindung von Internet und Computer und deren Zusammenwirken seit den 1990er Jahren. Der nächste "Sprung" ist der in das Geschäft mit dem menschlichen Körper.

Und der zweite wichtige Zukunftsbereich? Alles, was mit der Beziehung Mensch-Mensch zu tun hat. Weil "intelligente" Maschinen immer mehr Tätigkeiten übernehmen, werden Menschen für Menschen da sein können, auch wenn sie das nicht unbedingt müssen. Zugleich wird wegen der Virtualisierung die menschliche Zeit in den kommenden Jahren jener eigentliche Luxus werden, der unbezahlbar wird. Umso mehr wird man darin investieren. In welchen Formen? Darüber müssen wir nachdenken.

Urteilskraft ist erforderlich

Über welche Fähigkeiten und Einstellungen müssen Führungskräfte verfügen, um unter solchen Zukunftsbedingungen die Herausforderungen im eigenen Unternehmen erfolgreich zu bewältigen? Nichts weiter als die bisherigen, klassischen Führungsqualitäten. Aber dazu auch noch dreierlei:

  1. Ein Bewusstsein von Technologie als immer umfassenderer Gesellschaftskraft und ihrer künftigen Beziehung zu Politik, Wirtschaft und Kultur, vielleicht möglicherweise sogar zu Religion;
  2. ein Bewusstsein der weltumspannenden technologischen Zivilisation in geopolitischer Blickrichtung, und
  3. ein im Vergleich zu heute stark gesteigertes Bewusstsein der globalen Entwicklungen.

Das wichtigste Merkmal von Führungskraft war immer, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Dazu braucht es Bauchgefühl, die Intuition, das "Allzu-Menschliche" zu durchschauen - jetzt und auf die Zukunft hin. Und nötig ist eben das Allerwichtigste, was uns zum Beispiel "Europas Philosoph" Immanuel Kant gelehrt hat: Urteilskraft.

Was ist Urteilskraft? Die Kombination von Erinnerungsvermögen, Vorwegnahmefähigkeit und Zuwendung - auch zu dem, was nicht gefällt, aber vor dem wir stehen. Urteilskraft ist vor allem eines: Alle drei Dimensionen zugleich. Im Zeitalter der Technologie meinen manche, eines oder mehrere dieser Elemente sei hinfällig. Da täuschen sie sich gewaltig.

Und der Ausblick? Verfügen Entscheider in Europa über die notwendigen Informationen, um aktiv Impulse für die technologische Transformation zu geben und die dafür notwendigen Veränderungsprozesse im Unternehmen erfolgreich zu steuern?

Selbstverständlich - nicht besser und nicht schlechter als alle anderen. Europa hat eine erstaunliche Dichte an genialen und arbeitsverliebten Menschen, die sich im Prinzip überall durchsetzen. Das zeigen die Statistiken, das zeigen die Fakten der Unternehmen, das zeigen die Europäer innerhalb und außerhalb Europas. Das einzige, was verbesserungswürdig ist, sind ein ausgeprägteres globales Bewusstsein und mehr öffentliche Diskussion, was die kommende technologische Zivilisation und ihre Vor- und Nachteile, Chancen und Gefahren betrifft. Wir sollten und wir müssen hier im deutschen Sprachbereich mehr Impulse als bisher setzen, weil wir in dieser Hinsicht klar hinter dem anglo-amerikanischen Bereich zurückliegen.

Fazit? In der Wirtschaft ist es angesichts hochintelligenter Maschinen und Computer noch nicht klar, wer künftig überhaupt noch gebraucht wird. Was wird die Rolle der Mitarbeiter in den kommenden Jahren sein? Sie werden immer wichtiger werden. Diejenigen, die noch mitarbeiten werden, werden besser qualifiziert sein, besser dialogfähig und vor allem international erfahrener sein. Die heutige junge Generation Europas ist genau auf diesem Weg, ob mit oder ohne öffentliche Förderung. Es hat selten eine solch offene, interessierte und fähige Generation gegeben wie die heutige.

Was werden wir tun, wenn Computer unsere Jobs übernehmen? Uns besser als bisher um uns selbst und um die Mitmenschen kümmern. Mehr Zeit für Bewusstseinsbildung haben, was wir wollen und wohin die Welt gehen soll.

Gleichheit in Bezug auf die technologische Revolution wird das große Thema der kommenden Jahrzehnte sein

Werden wir künftig noch stärkere gesellschaftliche Ungleichheiten erleben, da es stärkere Verdienstunterschiede geben wird? Das hängt, und hier liegt ein großes Paradox von dem, was vor sich geht, von der Politik ab. Die Politik wird entscheidend sein, um Gleichheit im Zugang (access) und in der Verwendungskenntnis (know-how) der neuen Technologien zu ermöglichen.

Gleichheit in Bezug auf die technologische Revolution wird das große Thema der kommenden Jahrzehnte sein, weil es alle Bereiche einschließen wird: vom Zugang zu medizinischen Leistungen über sogenannte "Körperverbesserung" ("human enhancement") bis hin zur Freizeitgestaltung und täglichen Lebensqualität. Das hat vor kurzem der wissenschaftliche Beirat des US-Präsidenten Barack Obama überzeugend festgestellt, das haben einige Pentagon White Papers herausgearbeitet.

Es stimmt also nicht, dass die Politik durch den Aufstieg der Technologie am Ende ist, wie manche vor allem in den USA behaupten. Das Gegenteil ist der Fall: Politik muss die technologische Revolution gestalten. Und die Wirtschaft ist ihr natürlicher Träger und ihre Grundlage, ihr Biotop, ob sie das nun will oder nicht. Beide werden also entscheidende Rollen mittels Dialog und Zusammenarbeit spielen.

Die Zukunft? Wir brauchen in den kommenden Jahren verstärkt Ethik und Urteilsvermögen, um die neuen Technologien einzuschätzen. Um zu entscheiden, welche wir wollen, und welche nicht, auch welche regional sinnvoll sind, welche nicht. Ich bleibe ein großer Freund der Geisteswissenschaften, auch wenn sie in ihrer heutigen Form nicht immer viel mit "Geist" zu tun haben, wie schon in den 1990er Jahren an meiner Alma mater, der Freien Universität Berlin, der große Berliner Professor Klaus Heinrichs darlegte.

Aber die Zukunft des "Tuns" liegt in den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern. Jedoch nicht in denen, wie wir sie heute haben: Sie müssen inter- und transdisziplinärer werden und Ethik und Urteilskraft der geistigen Traditionen in sich aufnehmen. In Zukunft werden sich praktisch alle Studien, wie wir sie heute kennen, verändern müssen. Wir müssen zurück zum interdisziplinären Gedanken der Humboldt-Universität. Das ist der einzige Weg, die Entwicklung gut zu steuern. Wir brauchen zuallererst allgemeingebildete Menschen, die die Dinge einschätzen können, und diese sollten zugleich etwas Konkretes, Wichtiges und Wesentliches können. Reine Fachausbildung oder reine Allgemeinbildung werden in Zukunft allein nicht entscheidend sein. Die Zukunft liegt gerade angesichts der Herausforderung der Technologie im "ganzen Menschen".

Kann man sagen, um Erfolg auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft zu haben, reicht es nicht mehr aus, sich nur auf eine Materie, das heißt auf einen Studiengang zu konzentrieren? Im Idealfall: Ja. Aber das heisst nicht, dass man nun ein Leben lang studieren sollte. Ich sehe den Ball da weniger bei denen, die nach Wissen und Können streben, als bei den Ausbildungsstätten, die wir uns schaffen. Die Unis und Fachhochschulen müssen sich weiterentwickeln und zeitgemässere Ausbildungen anbieten. Das wird heute international von vielen anerkannt, auch wenn die Diskussion offen ist, wie genau das wo und unter welchen Bedingungen - politisch, sozial, wirtschaftlich - geschehen soll und kann. Europa hat hier heute eine günstige Konstellation, und mein Wunsch ist wie der vieler Kollegen, dass man diese Chance nützt.

Wie gelingt es, Studenten in Spitzenberufen der Zukunft auszubilden? Erstens: Indem wir ihnen vor Ort Andockstellen, "hubs" internationaler Exzellenz bieten. Dazu gibt es ausgereifte Konzepte. Zweitens, indem wir ihnen die Zeit geben, internationale Erfahrung zu sammeln, ohne sie unnötig unter Druck zu setzen. Drittens, indem sie ihrer Heimat weiterhin verbunden bleiben und dann, wenn sie es selbst wollen, vielleicht zurückkommen, oder uns ihre neu gewonnene Erfahrung zurückschicken. Die Erfindungslust soll siegen. Wenn wir uns das nicht leisten können oder wollen, können wir mittel- bis langfristig auch nicht gewinnen.

Roland Benedikter, Dr. Dr. Dr., ist Forschungsprofessor für Multidisziplinäre Politikanalyse am Willy Brandt Zentrum der Universität Breslau und forscht als Research Affiliate auch an der Stanford Universität in Kalifornien. Er ist unter anderem Affiliate Scholar des Institute for Ethics and Emerging Technologies Hartford/USA und Trustee der Toynbee Prize Foundation Boston.