Die ARD will wie die Süddeutsche zur "gelenkten Öffentlichkeit" übergehen
Den Medien werden Leserkommentare lästig, sie wollen aus Angst vor der Öffentlichkeit wieder zurück ins Vor-Internetzeitalter
Es ist sicher ein guter, zumindest ein symbolischer Zeitpunkt, wenn die ARD in der ausgerufenen Woche der Toleranz überlegt, wie sie mit Kommentaren auf der eigenen Website umgehen will. Wie Bettina Less vom NDR schreibt, überlegt man bei tagesschau.de Einschränkungen der Kommentarfunktion. Toleranz, so schon der erste Schritt der Argumentation, müsse auch mit Intoleranz umgehen. Allerdings ist mit dem Titel eigentlich eine "sachliche Diskussion", für die man doch so eintritt, bereits versperrt. Man setzt auf Krawall: " Aggressivität im Netz: Wenn der Leser zum Tier wird." Das muss offenbar sein, um Einschränkungen der Meinungsfreiheit legitimieren zu können.
Vorbild ist die Süddeutsche.de, die Kommentare zu Artikel prinzipiell nicht mehr zulässt, sondern in einem "moderierten" Forum den Lesern "drei besonders relevante Fragen des Tages" anbietet, über die sie diskutieren sollen oder dürfen (Leserkommentare abschalten?). Die Leser erfahren auch gleich einmal: "Wir wählen die besten Antworten aus." Die Relevanz der Themen legt die SZ ebenso aus wie die Güte der Kommentare. Abgeschlossen ist das Forum, wenn der SZ-Verantwortliche dies für richtig empfindet. Man könnte parallel zur gesteuerten Demokratie von einer gesteuerten Öffentlichkeit sprechen.
Hintergrund ist, dass vor allem über den Ukraine-Konflikt oft scharfe Kritik an der Berichterstattung geübt wurde. Bei der ARD hat diese auch der Programmbeirat geäußert, der bei der Ukraine-/Russland-Berichterstattung Einseitigkeit gerügt hat, die Leser auch bei Medien wie der Süddeutschen, dem Spiegel oder der Zeit monierten (Ukraine-Konflikt: ARD-Programmbeirat bestätigt Publikumskritik). Seitdem wurde nicht nur gerne heftig moderiert oder gelöscht, sondern auch die Kommentarfunktion bei bestimmten Themen ganz abgeklemmt.
Natürlich ist es ein Problem für alle Foren, dass sich manche Internetnutzer unter der Bedingung der Anonymität und verborgen unter einem Pseudonym schlecht benehmen und rüpelhafter sind, als sie dies gemeinhin in der realen Öffentlichkeit von Angesicht zu Angesicht wären. Allerdings kommt auch da durchaus Beleidigendes, Anstößiges, Aggressives auf, manchmal endet dies in Handgreiflichkeiten. Nur lässt sich das nicht so leicht präventiv abwürgen wie in den privaten Online-Räumen. Gerne wird ja immer wieder gesagt, dass das, was offline gilt, auch online gelten muss. Weil man aber online besser zensieren kann, nimmt diese Forderung eine andere Färbung an.
Aber sicher, es gibt Kommentare, die jeden Anstand und jeden Ansatz einer einigermaßen gesitteten Diskussion überschreiten und gelöscht werden müssen. Das überfordert die Redaktionen, die nun nicht mehr nur Content erzeugen müssen, sondern auch den von den Lesern erzeugten Content redigieren müssen. Die Medien, die auch gerne mal Krawalljournalismus betreiben, bespielen nicht nur die Stammtische und die Wohnzimmer, diese reichen nun auch in die Medienöffentlichkeit hinein. Man müsse "auch im Interesse der übrigen Leser ein bestimmtes Debattenniveau etablieren", schreibt Less. Wer kommentieren will, muss die Regeln beachten, die jedes Forum auf ähnliche Weise formuliert und die auch rechtliche Konsequenzen für den Schreiber und das Medium haben können. Ein Kommentar, der die Regeln krass verletzt, muss gelöscht werden, ein Forumsteilnehmer, der wiederholt aufgefallen ist, kann gesperrt werden. Aber die Frage bleibt stets, wo die Schere einsetzen soll, welche Schärfe man zulassen will, also auch wie viel "Straße" oder "Stammtisch" eingelassen wird. Keine einfache Entscheidung sicherlich, zumal nur ein Bruchteil der Rezipienten Kommentare schreiben und einige derjenigen, die ihre Meinung äußern, hyperaktiv zu sein scheinen, Gefallen am Rangeln haben und wenig tolerant oder bemüht um eine sachliche Diskussion sind.
Aber müssen die Medien, die Foren betreiben, sich mit den Äußerungen der Forumsteilnehmer identifizieren? Sollten sie Angst haben, zumal wenn sie sich als Qualitätsmedien verstehen und sich ein selbst gesetztes "Debattenniveau" wünschen, über die Leserkommentare abqualifiziert zu werden - gemäß dem Motto, jedes Medium hat die Leser, die es verdient? Will man also jetzt nur noch die Leser, die es verdienen, Teil der Öffentlichkeit des Mediums zu werden? Unterscheidet man die guten und die schlechten Leser? Klemmt man die Leser lieber ab, um vermeintlich selbst besser dazustehen? Und beschneidet man damit nicht die Öffentlichkeit, die im Internet stattfindet, wo es aber keinen öffentlichen Raum wie offline gibt, auf dem auch die Freiheit der Meinungsäußerung gilt, egal wie qualitätsvoll sie vorgetragen wird, solange sie nicht rechtlich belangt werden kann? Und die Öffentlichkeit, die Meinungsbildung, die Diskurse, die Auseinandersetzungen und Kämpfe finden mehr und mehr online statt.
Herbeigezogen wird zur Unterfütterung der geplanten Beschneidung der Öffentlichkeit ein Psychologe, der erklärt, dass die Menschen halt konform handeln und nachmachen, was alle anderen auch machen (was offenbar bei Redakteuren - "Rudeljournalismus" - auch manchmal der Fall zu sein scheint: Ukraine wäre ein Beispiel, Wulff ein anderes). Und wenn dann harsche Kritik aufkommt oder gepöbelt wird, "mündet dann alles in einer Abwärtsspirale negativer Rückmeldungen". Verwiesen wird auf die Trolle, die nur provozieren wollen. In der Realität muss man aber auch sagen, dass meist wirklich Diskussionen stattfinden, dass in der Regel extreme Positionen ihren Widerpart finden, dass oft - man könnte fast von dialektisch sprechen - ein Gleichgewicht hergestellt wird, ohne dass sich die Redaktion oder der Forumsverantwortliche einmischen muss.
Redaktionsleiterin Christiane Krogmann wird zitiert: "Wir wollen die Kommentarfunktion natürlich nicht abschaffen. Aber auch wir denken über neue Konzepte nach, wollen etwas genauer schauen: Was sind für uns die Themen, die am Tag eine Diskussion wert sind? Und wir denken durchaus auch darüber nach, Themen einzuschränken." Die Oberhoheit soll also die Redaktion haben, die Leser sollen die Schäfchen sein, die nur zu Themen etwas sagen dürfen, die ihnen vorgesetzt werden. Und wenn es nicht gefällig ist, werden sie gleich mal zensiert. Da geht es in der gelenkten Demokratie Russlands noch liberaler zu, das Modell gleich eher Diktaturen wie der von Nordkorea.
Schön, dass die ARD da auch eine Kommunikationswissenschaftlerin, Wiebke Loosen vom Hans-Bredow-Institut, gefunden hat, die in der Regulierung der Debattenkultur einen Trend sieht: "Sowohl auf Publikumsseite als auch auf Journalistenseite sind wir gerade erst dabei, die Regeln, die dafür gelten sollten, auszuhandeln." Offenbar scheint man nicht gewillt zu sein, die Publikumsseite auch einzubeziehen. Bei der Süddeutschen muss das ja auch nicht sein. Es braucht sie niemand zu kaufen, wobei auch der, der sie finanziert, vielleicht einen gewissen Anspruch im Internetzeitalter erwerben will, sich äußern zu dürfen und nicht wie einst nur anonymer, passiver Empfänger der Botschaften von Massenmedien zu sein. Irren sich Medien wie Süddeutsche oder die ARD, wenn sie die "Publikumsseite" einschränken wollen, anstatt ein Medium als eine Öffentlichkeit zwischen Redaktion und Publikum zu sehen, die eine eigene, sicherlich neue Dynamik entwickelt?
Bei der ARD sollten die Verantwortlichen noch einmal in sich gehen, bevor sie das "Publikum" selbstherrlich weitgehend ausschließen. Das Publikum ist hier kein freiwilliges, sondern zwangsverpflichtet, die öffentlich-rechtlichen Medien zu finanzieren. Dafür könnten die Bürger nicht nur das Recht auf informationelle Grundversorgung durch Nachrichten, aber auch manchen teuren Unsinn erwerben, sondern auch den, ernst genommen zu werden und sich äußern zu dürfen - im Rahmen des Artikels 5 Grundgesetz, der nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch die Meinungsfreiheit garantiert. Eine Möglichkeit wäre neben der Beibehaltung der Foren und damit der nicht präventiv regulierten Meinungsfreiheit auch, den Programmbeirat zu stärken. Bislang werden "Vertreter gesellschaftlich relevanter Gruppen (z. B. Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Parteien, Frauen- oder Jugendverbände)" zu Mitgliedern. Man könnte sich auch eine demokratische Legitimierung durch eine Wahl vorstellen.