Die Anomalienjäger

Seite 3: "Ungereimtheiten" en masse - bloß keine Antworten

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Halten die Wahrheitsjäger dem skeptischen Blick stand?

Wenn der Zweifel sich durch das Akkumulat von "Ungereimtheiten" legitimiert, dann ist sein Mittel ihre Akkumulation. Die genannten Autoren Mathias Bröckers und Paul Schreyer sind in Deutschland diesbezüglich derzeit federführend. "Wir [Bröckers und sein Co-Autor Christian Walther] haben in 38 Kapiteln [des Buches "11.9. - Zehn Jahre danach"] die Zeugen benannt, die gehört werden müssten, und die Akten, die freigegeben werden sollten," so Bröckers im Interview mit der taz:

Jedes dieser Kapitel würde in einem normalen Gerichtsverfahren zur Wiederaufnahme reichen.

Eine stichprobenartige Überprüfung der 38 Kapitel durch einen von uns zeigt indes nicht nur den zweifelhaften Wert dieser Selbsteinschätzung, sondern auch einen zugrundeliegenden Methodenfehler: Die Autoren hierarchisieren ihre Quellen nur sporadisch nach dem Grad ihrer Verlässlichkeit.

So mutmaßen sie beispielsweise ein komplettes Kapitel auf Basis vager Zeugenaussagen und Grafiken über einen möglichen Flugzeugabschuss, anstatt die eindeutigen Radardaten zu konsultieren und ziehen auch in weiteren Beispielen weniger verlässliche Quellen verlässlicheren vor.

Dieser Fehler ist kein Zufall, sondern ergibt sich aus der auf Anomalien beschränkten Perspektive und dem Ziel, eine Neuuntersuchung von 9/11 anzuregen. Denn eine Quellhierarchie nützt lediglich dem, der Erkenntnis generieren und sichern möchte. Doch Bröckers und Walther - ebenso wie Vertreter des "9/11 Truth Movement" generell - agieren nicht als Historiker, sondern als Appellgeber. Sie erklären uns, was nicht passiert ist, ohne jedoch eine ernsthafte alternative Version der Ereignisse darzulegen. Ihrem Motto folgend stellen sie Fragen, ohne selbst Antworten zu liefern.

Damit machen sie es sich zu einfach. Denn alle Untersuchungen, vom Bericht der 9/11-Kommission bis zu den Analysen zum Einsturz der Gebäude am Ground Zero, müssen eben genau dies leisten - Antworten liefern. Auch die neuen digitalen Gatekeeper wie Wikipedia und Google haben letztlich diesen Anspruch. Es ist somit kaum verwunderlich und durchaus legitim, wenn die ewigen Zweifler ignoriert und exkludiert werden.

Sicherlich gehen Wikipedia und Co. dabei manchmal einen Schritt zu weit. Angesichts der von der Wahrheitsbewegung generierten grenzenlosen Informationsflut ist das aber durchaus verständlich. Möchte man diesem Partizipationsdilemma entgehen, hilft nur eine rigidere Arbeitsweise. Für die "Wahrheitsbewegung" würde dies bedeuten, einen Schritt weiter zu gehen als die bloße Anomalienjagd.

"Ungereimtheiten" versus gar nichts - Faktencheck 9/11

Der Journalist Paul Schreyer gibt vor, genau dies zu tun. Sein jüngstes Buch "Faktencheck 9/11" ist nach einem ebenfalls Anomalien-orientierten Vorgänger der Versuch, "eine vollständige und in sich schlüssige alternative Erklärung für die Anschläge vorzustellen" - so der Autor im Interview. Mit diesem Vorgehen bildet Schreyer eine seltene Ausnahme im Feld der Anomalienjäger. Doch wie überzeugend ist die von ihm entwickelte Alternativversion?

Schreyer zufolge sei 9/11 als traditionelle Flugzeugentführung von Al Qaida geplant gewesen, durch Fernsteuerung von einem US-Geheimdienst jedoch zum unfreiwilligen Selbstmordanschlag geworden. "Der Unterschied zum offiziellen Szenario der 9/11 Commission," so Schreyer, "besteht darin, dass alle bekannten Indizien sich widerspruchslos einfügen lassen."

Der Unterschied zum offiziellen Szenario der 9/11 Kommission besteht jedoch primär darin, dass Schreyer wenig aufbietet, was tatsächlich als Konkurrenzszenario zählen könnte, weil die konkurrierenden Erklärungen auf völlig unterschiedlichem Niveau angesiedelt sind.

Der Kommissionsreport mit 585 dicht beschriebenen Seiten Bericht zuzüglich tausenden zusätzlich veröffentlichten Seiten aus dem Untersuchungsprozess enthält bereits aus rein mathematischen Gründen deutlich mehr Details als die schmale etwa 30-seitige Skizze einer Alternativerklärung, die Schreyer in einigen Kapiteln seiner ohnehin bereits kurzen und kleinformatigen Broschüre anbietet. Entsprechend bietet der Report dem detailfixierten Blick eines Anomalienjägers schon rein quantitativ mehr Angriffsfläche.

Doch trotz - oder gerade wegen - seiner Detailarmut hält Schreyers Werk einem ernsthaft skeptischen Blick nicht Stand. Denn freilich ist auch seine schmale Skizze nicht frei von Widersprüchen und Ungereimtheiten: Weshalb etwa drehen traditionelle Flugzeugentführer "Märtyrer"-Videos, in denen Sie über das ihnen bevorstehende Paradies sprechen und eine "Nachricht in Blut" ankündigen? Wie passt die Verwendung ziviler Flugzeuge aus dem Alltagsbetrieb einer Airline mit der Fernsteuerung durch einen Geheimdienst zusammen? Weshalb wies niemand bei Al Qaida auf die Manipulation der eigenen Operation hin?

Die Liste ließe sich fortsetzen, es zeigt sich jedoch schon an dieser Stelle, dass Paul Schreyer - und damit steht er stellvertretend für die Wahrheitsbewegung insgesamt - keine schlüssige Alternativerklärung der Ereignisse bieten kann.

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