Die Attentäter kennen unsere Psychologie

New Yorker Intellektuelle zur Katastrophe

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Das blanke Entsetzen spricht aus den Zeilen derjenigen New Yorker, die von Berufs wegen über die Stadt und ihre Menschen schreiben. Lang hatte es gedauert, bis sie endlich reagierten. In den ersten Tagen nach den Terroranschlägen herrschte im Blätterwald sogar das völlige Schweigen. Wer wissen wollte, was ein Paul Auster, ein E.L. Doctorow oder eine Susan Sontag zu sagen hatte, musste schon britische, deutsche und französische Publikationen lesen.

Einen der wenigen Versuche, die Terroranschläge und den anschwellenden Patriotismus öffentlich zu verarbeiten, wagte die preisgekrönte Journalistin Susan Stamberg im National Public Radio. Zwei Tage nach der Katastrophe versuchte sie, dem Meer an amerikanischen Flaggen Positives abzugewinnen. "In diesem Notfall", meinte sie, "sind eine gemeinsame Hymne und eine gemeinsame Flagge die Bindeglieder, die uns aus dem Chaos heraushelfen können" Denn alles stand still, "von den Hochzeiten und Geburtstagsfeiern über Theatervorstellungen bis hin zu ungültigen Fahrplänen und geplatzten Verabredungen". Und Stamberg fragte sich und ihre Zuhörer: "Wann darf unser Leben wieder normal sein ? Eins ist klar: Nach dieser Woche wird "normal" etwa ganz anderes bedeuten."

Wie "Normalität" aussehen könnte - zur Beantwortung dieser Frage sind die meisten Intellektuellen aus New York aber noch lange nicht in der Lage. Da ist nicht nur die Tatsache, dass fünf Fussminuten von der inzwischen in Betrieb genommenen Börse an der Wall Street entfernt immer noch Tausende von Leichen unter den Trümmern des World Trade Center verborgen sind. Da ist auch die Kriegsmaschine, deren Motoren längst warm laufen - auch an der Medienfront. "America at War" hiess es in den grossen Nachrichtensendern, und sogar die linksalternative Kulturzeitung Village Voice titelte einem rechten Boulevardblatt gleich "The Bastards" - mit einem grossen Ausrufezeichen. Medien, das ist zum Verständnis des Konzepts Öffentlichkeit wichtig, spielen in den USA eine ungleich grössere Bedeutung für die politische Kultur als in Europa, vor allem das Fernsehen.

Sechs Tage dauerte es, bis das Flaggschiff der New Yorker Kulturszene, die Wochenzeitung The New Yorker am Montag endlich mit Texten von Intellektuellen erschien, mit einer gänzlich schwarzen Titelseite, zum ersten Mal seit Pearl Harbour ohne die Karikaturen, für die das Blatt so berühmt ist. John Updike, der Weltbestsellerautor, war Zufallszeuge. Er sah die Türme des World Trade Center von einer Wohnung in Brooklyn aus einstürzen. Er sei am Fenster gestanden und habe zuerst geglaubt, einen Film zu sehen, schriebt Updike. Doch die Illusion dauerte nicht lange an, führt er aus, und fassungslos beobachtet er das Grauen. Der Krieg, den die Attentäter führen, versucht er zu erklären, steche durch "Abstraktionsvermögen" hervor; "eine Abstraktion, die ein friedliches Flugzeug voller Passagiere, Kinder eingeschlossen, in eine Rakete verwandelt, die der gesichtslose Feind verdient hat". Doch bei der banalen Feststellung, dass "uns" letztendlich nur die Beerdigung der Toten und das Weiterleben bleibe, bleibt Updike auch stehen.

Dummheit auf keinen Fall, Nachdenken sei gefordert, mahnt dagegen die prominenteste amerikanische Intellektuelle Susan Sontag in einem Kurzbeitrag. Als feiger Angriff auf Zivilisation, Freiheit, Menschheit oder freie Welt würden die Selbstmordattentate von Medien und Politikern bezeichnet, stellt sie fest, und hält dagegen:

"Nicht davon ist wahr. Wo bleibt das Eingeständnis, dass dieser Angriff der selbsternannten Supermacht galt, ein Angriff infolge amerikanischer Bündnisse und infolge amerikanischer Politik ? Politik in den USA, demokratische Politik, das Austragen von Meinungsverschiedenheiten, das Bemühen um Aufklärung - all dies ist zur Psychotherapie verkommen. Amerika ist stark, heisst es. Ja, wer würde das bezweifeln. Aber stark, das ist nicht alles, was Amerika sein sollte."

Was aber noch? Ausser ihrem Appell an Vernunft und Besonnenheit gibt Sontag keine Antwort. Von noch grösserer Hilflosigkeit geprägt sind die "New Yorker"-Texte anderer Autoren: Jonathan Franzen erzählt von apokalyptischen Träumen, Denis Johnson von Reisen in Katastrophengebiete, Roger Angell, Aharon Appelfeld und Rebecca Mead schwanken zwischen verletzt und nichtssagend.

Am Besten fasste wahrscheinlich der Fernseh- und Radioautor Alex Chadwick die Gemütslage der Nation zusammen, allerdings wieder im Radio. Die Attentäter kennen "unsere Psychologie", sagt er, "aber wir kennen ihre nicht". Amerika sei an seinem wundesten Punkt getroffen worden, meint Chadwick, und: "Ein Todesopfer kennen wir genau - es ist die Gewissheit vom sicheren Amerika. We were safe - now, we are vulnerable. Wir leben jetzt in einem anderen Land."

Zugute zu halten ist den schockierten Autoren freilich, dass sie zu einer absurden Situation zu Reflexionen ansetzen. Denn die Toten in Downtown Manhattan unter den Trümmern des zerstörten Wahrzeichens werden sich für immer ins kollektive Gedächtnis der Stadt eingraben. Es herrscht eine Atmosphäre wie in einer Zwischenzeit: noch weiß keiner, was die Attentate zu bedeuten haben, und was demnächst kommt, weiß auch niemand. Wenn nicht erneut der Terror, dann die neurotische Angst davor. Was ist das eigentlich für ein Pulverfass, auf dem wir sitzen?

Max Böhnel, New York