Die Barbarei des europäischen Grenzregimes
Werden nach Dover die Verdrängungsmechanismen weiterhin funktionieren?
Es geschah in den frühen Morgenstunden des 19. Juni in Dover. Bei einer Routinekontrolle eines niederländischen Kühlwagens stößt ein britischer Grenzbeamter auf die leblosen Körper von 58 Menschen, die hinter einer Ladung Tomaten verborgen sind. Das erste, was er tut: Er holt Verstärkung. Die Polizei birgt die Leichen von 54 Männer und vier Frauen, holt zwei Überlebende heraus und verhaftet den Fahrer des Lastwagens.
Was folgt, hat mit Routine nichts mehr zu tun. Es geht weit darüberhinaus, was seit Monaten im britischen Fährhafen Dover der Alltag ist: Jagd auf illegale Einwanderer, die sich aufgrund der verschärften Kontrollen immer ausgefallenere und gefährlichere Verstecke suchen müssen. Denn: Je raffiniertere Methoden die Grenzer entwickeln, desto trickreicher müssen die Flüchtlinge eingeschmuggelt werden. Ein Wettlauf, bei dem es von Anfang an um Menschenleben geht, auch wenn die triumphierend präsentierten "Illegalen", die vor laufenden Kameras und im Beisein des Innenministers aus den Lastwagen gezogen werden, noch am Atmen sind.
Der grausame Leichenfund vom Montag ist die logische Konsequenz einer Politik, welche den Bürgern den Irrglauben einredet, es wäre möglich ein Land, und sei es eine Insel, gegen Einwanderung abzuschotten. Bestürzung und Empörung sind geheuchelt, solange keine Verantwortung übernommen wird und alles weiter geht wie bisher - am Ende sogar noch schärfere Gesetze, noch mehr internationale Zusammenarbeit, noch höhere Strafen zum Tragen kommen.
Es ist offensichtlich: Um das schreckliche Bild des Leichentransportes zu verarbeiten, mussten schnell Schuldige ausgemacht werden. Lange bevor überhaupt klar sein kann, wer die Opfer sind, wodurch und weshalb die Menschen umgekommen sind, was ihre Gründe für die illegale Einreise gewesen sein mögen, kurz: ohne jede Schamfrist, wie sie bei einem Unglück eines solchen Ausmaßes üblich sein sollte, geifern die Wachhunde der zwangs-halluzinierten "Festung Europa" los: Der britische Innenminister Straw bezichtigte die Schlepper und Fluchthelfer "keinerlei Rücksicht auf die Sicherheit" ihrer Passagiere zu nehmen. Die toten Flüchtlinge seien Opfer eines "zutiefst üblen Geschäftes" geworden und ihr Tod möge als "Warnung dienen für alle, die ihr Schicksal in die Hände von organisierten Menschenschmugglern legen".
Kann die abscheuliche Mentalität der tollwütigen Hardliner deutlicher werden, als in solchen Stellungnahmen? Was ist widerlicher, als wenn ausgerechnet die Verantwortlichen für das mörderische Grenzregime sich aufschwingen zu Hütern von Moral und Menschlichkeit? In vielen Punkten ähnelt das gegenwärtige Klima in Britannien der Stimmung Mitte der 90-er Jahre in Deutschland: Nach jahrelanger Hetze gegen sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" spielten sich die Politiker um den damaligen Innenminister Kanther zu Engeln auf, die von nun an einzig aus Sorge und Mitleid um das bedauerliche Schicksal der Flüchtlinge in den Händen skrupelloser Menschenhändler getrieben werden.
Was der Grenzbeamte am Montagmorgen sah, war ein Bild des Grauens. Ein Bild, das nicht zur Abschreckung taugen wird, wie es sich Straw erhofft: Menschen, die vor Hunger, Ausbeutung und politischer Verfolgung fliehen, dafür enorme Aufwendungen und Gefahren auf sich nehmen, dürften sich ihres Risikos sehr wohl bewußt sein und werden nicht ausgerechnet kurz vor Erreichen des Zieles aufgeben.
Es handelt sich vielmehr um ein Bild, das die in ihre Mildtätigkeit verliebte, europäische Öffentlichkeit abschreckt. Was in Dover entdeckt wurde, verkörpert nicht mehr und nicht weniger als den grausamen Alltag an den Außengrenzen der EU. Der Kanal von Otranto, die Meerenge von Gibraltar sind Massengräber, in denen die Leichen Tausender Menschen aufgebahrt sind. Sie kamen um, weil sie die Grenzsicherungsanlagen nicht überwinden konnten, weil sie in mickrigen Booten gefährliche Strömungen nicht meisterten, in Untiefen kenterten oder von Militärschiffen gerammt wurden.
Doch diese Realität muß außen vor bleiben. Zu offensichtlich wären sonst die Widersprüche und Heucheleien, die Barbarei des europäischen Grenzregimes. Während entrechtete, illegale Arbeitskräfte saisonal oder konjunkturbedingt durchaus wohlgelitten sind, müssen Tausende ihr Leben lassen. Es geht offenbar darum, den Preis der Grenzüberschreitung hoch zu halten, damit der Preis der migrierenden Arbeitskraft niedrig bleibt.
Wenn sich eine Flüchtlingstragödie aber einmal, wie jetzt in Dover geschehen, im Herzen Europas abspielt, müssen die gewöhnlichen Verdrängungsmechanismen versagen. Da hilft kein Zynismus und kein Schlingensief mehr. Der europäische Humanismus zeigt seine Fratze ganz von selbst. Und die ist zum Reinschlagen oder Davonlaufen.
Alles eben eine Frage des Zugangs oder der Perspektive. Am Strand von Tijuana, direkt am meterhohen, verrosteten Zaun der Grenze zwischen USA und Mexiko sind die Namen von fast fünfhundert Menschen angebracht. Sie alle verloren seit 1995 ihr Leben beim vergeblichen Versuch, die Grenze zu überschreiten. Doch die Todesliste ist nur von Mexiko aus zu sehen. Auf der US-amerikanischen Seite befindet sich ein Erholungspark.
Siehe auch: Die Globalisierung der Überwachung, ein Hintergrundartikel über das Schengen-Informations-System und weitere Formen der EU-Polizeikooperation, Datenbanken und technische Überwachungssysteme.