Die Blaupause des Detroit Techno
Derrick May, Innovator
Derrick May könnte der Protagonist einer dieser postmodernen Romane sein. Ein Autor, mehr oder weniger berühmt, der sich bedauerlicherweise in einer existentiellen Krise befindet. Die Welt wartet, aber irgendwie klappt es nicht mehr mit dem Schreiben. Derrick May hat kein Problem mit wuchernden Manuskripten, die nie veröffentlicht werden. Derrick May hat seit Jahren keine Platte mehr herausgebracht, was nicht nur für DJs und notorische Clubgänger bedauerlich ist: Seine Musik zählt zu den Blaupausen von Techno.
Anstatt also endlich neue Tracks zu basteln, um Clubmusik 1998 vor der Belanglosigkeit zu retten, hat May im Sommer eine Doppel-CD herausgegeben, die noch einmal die grossen Werke seines eigenen Labels, dem Hause Transmat, Revue passieren läßt. Das hat niemanden wirklich interessiert in einer Welt, die permanent von angeblich innovativen Neuerscheinungen überflutet wird. Auch wenn May die Kompilation unbescheiden und im Duktus traditioneller Techno-Rhetorik mit "Innovator" betitelt hat, was wohl kaum aufs Werk referiert, sondern eher den Genius des Produzenten. Hier könnte also die Geschichte schon wieder zu Ende sein, müsste man nicht neidlos anerkennen, daß der Mann auf eine gewisse Weise recht hat.
May ist die personifizierte Antithese des von jedem progressiv denkenden jungen Menschen seinerzeit begrüßten Diktums, daß Techno im Sinne einer radikalen Postmoderne endgültig mit dem Künstlersubjekt aufgeräumt hätte: Underground Resistance. Was auf der strukturellen Ebene von Produktion, Distribution und bezüglich der Idee von zwei Plattenspielern und einem Mischpult seine Richtigkeit hatte und hat, stellt sich im historischen Rückblick differenzierter dar. Die von May zusammengestellten Tracks waren zwar schon damals Clubhits, nur hat sich keiner auf dem Dancefloor wirklich dafür interessiert, von wem die wunderbaren Steicher auf "Strings of Life" gesampelt und zu einem Four-To-The-Floor-Beat neu arrangiert worden sind. Schließlich ging es um Entgrenzung und Ekstase und nicht um Personenkult.
Man feierte den Summer of Love 1988 oder die temporäre autonome Zone Berlin Mitte, in der die alte Staatsgewalt implodiert und das neue Kapital noch nicht angekommen war.
Gekauft haben sich die originalen 12-Inches, auf denen die Kompilation basiert, nur DJs und Hardcore Fans. Insofern ist "Innovator" eine DER Dokumentationen guter Club-Tracks, die auch außerhalb des Clubs funktionieren und vorführen, worum es in Techno mal gegangen ist. Pianosounds, Streicher und Synthies, die eine seltsame euphorisch-paranoide Stimmung verbreiten, liegen als Flächen über Rhythmustracks, in denen vor allem HiHat-Muster Komplexität generieren. Während die Melodien, Flächen und Klänge von europäischem Elektro-Pop inspiriert sind und vor einem gewissen Kitsch nicht zurückschrecken, wurde Mays Drumcomputer mit der Geschichte des Funk gefüttert. Wenn die Linernotes zur CD die Tracks von "Innovator" als "virtuellen Soundtrack für einen intergalaktischen Carneval" begreifen, hat das durchaus seine Berechtigung. May driftet nicht nur in Tracks wie "Salsa Life" in die polyrhythmischen Welten schwarzer Musikgeschichte ab.
Musik für alle, die im Haus sind.
Mit einem Begriff von Future Funk wird man nicht nur diesem Umstand gerecht, sondern auch der Tatsache, daß die erste Generation von Detroit Techno sich zwar einerseits immer ihrer afro-amerikanischen Geschichte bewußt gewesen ist, andererseits aber gezielt alle gültigen Grenzen und Zuschreibungen von Genres und Ethnizitäten, wie sie sich in 'schwarzen' und 'weissen' Entertainmentmärkten ausdrücken, überschritten hat. Gleiches gilt für die Grenzen zwischen hetero- und homosexuellen Subkulturen: Musik für alle, die im Haus sind.
Mays Technik, beim Zusammenbasteln seiner Tracks möglichst viel Noise mitzutransportieren, kann man im Sinne einer europäischen Medientheorie ohne weiteres als den Versuch interpretieren, das Rauschen der Apparate hörbar zu machen. Wenn man sich dann aber wieder Stücke wie "Strings of Life" anhört, kommt man nicht umhin, tatsächlich zu hören, wie Mays Finger auf den Knopf seines Samplers drückt, um die Streicher einzuspielen, die er vorher dem Detroiter Symphonie-Orchester geklaut hat. Insofern darf man May als Autor gerne in die Liste der "pioneering Black Artists" einreihen, die die Linernotes vorschlagen: Von James Baldwin über Jimi Hendrix zu Prince.
In den letzten Jahren ist May als das Urmodell des Superstar DJ vor allem an transkontinentalen Plattenspielern tätig gewesen. Im Gegensatz zu den Kollegen von Underground Resistance, die den DJ in der Struktur ihrer Tracks mitdenken, also für den Plattenspieler und das DJ-Set produzieren, in dessen Mix ihre Platten eingebaut werden sollen, hat May die eigentliche Methode des DJs zurück in seine Produktionen transportiert. Auf "To be or not to be" etwa werden alle Techniken angewandt, die May auch am DJ-Mischpult gerne benutzt. Höhen und Tiefen werden radikal rein und raus gedreht, was dazu führt, daß das Stück an manchen Stellen fast verschwindet, um dann mit übersteuerter Bassdrum umso vehementer wieder hervorzubrechen. Der Equalizer-Sound von Daft Punk, der dieses Vorgehen ja zum Kern des eigenen Tuns macht, wäre ohne Mays Vorarbeit kaum denkbar gewesen.
Selbstverständlich hört man den Tracks von "Innovator" an, daß sie nicht den Standards von 1998 entsprechen. Man mag es tragisch finden, daß der Future Sound of Detroit sich heute nach einer Zukunft anhört, die lange vorbei ist. Trotzdem hat May den Weg durch ein Wurmloch gefunden, in ein Paralleluniversum, das nicht mehr kollabieren wird. "Innovator" hält die Tür offen, auch für ein neues Werk des Meisters, das dann irgendwann einmal kommen mag.
Derrick May: Innovator (R&S/Rough Trade)